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2.
ОглавлениеJames
“To put someone else before your own desires, wishes and fears; to be selfless; is easier said than done.”
Miami, 11.03.2017
Während der Fahrt zum Flughafen schwiegen sie beide. Ob Holly ebenso in Gedanken vertieft war, wie er selbst, oder sie ihm bloß den Freiraum gab, nachzudenken, konnte er nicht mit Sicherheit sagen. Er hätte mit Leichtigkeit eine Vermutung aufstellen können. Er glaubte, sie ganz gut einschätzen zu können. Eines seiner Talente. Menschen richtig einzuschätzen, ihre Gefühle, ihre Gedanken und Beweggründe zu erkennen. Er verstand sich darauf zu wissen, warum jemand etwas tat und vorauszusehen, was er als Nächstes sagte, noch während der Gesprächspartner über seine Worte nachdachte. James Wescott hatte nicht viele Talente. Er war kein Kämpfer, wie so viele seiner aktiven Mitglieder. Er war kein akribisch begnadeter Forscher, kein Sprachgenie, und er besaß auch keinen weitreichenden Einfluss in der Wirtschaftswelt oder herausragende Informatikkenntnisse. Er verfügte über keine magische Begabung, obwohl er nicht ganz unwissend war und den einen oder anderen Trick beherrschte. Das brachte seine Erfahrung mit sich. Allerdings kannte James niemanden, der ihm das Wasser reichen konnte, wenn es um das Analysieren von Menschen ging. Um das Führen, Anleiten und strategische Planen. Es gab niemanden, der so gut darin war, Menschen rhetorisch so zu manipulieren, dass er sie dort hatte, wo er sie haben wollte. Dabei vermittelte er ihnen stets das Gefühl, sie seien selbst dorthin gekommen.
James war keinesfalls vertrauenswürdig. Nicht sympathisch, nicht offen oder bekannt dafür unterhaltsame Gesellschaft zu sein. Er glaubte nicht, dass seine Mitarbeiter ihn besonders gut leiden konnten. Aber er war sich bewusst, dass sie ihm vertrauten, obwohl allen klar war, dass sie ihn nicht kannten. Letzten Endes arbeiteten sie für ihn, weil sie wussten, dass er für diesen Orden - für die Sache, für die die Talamadre standen - lebte. Dass es ihm wichtig war, die Welt zu einem sicheren Ort zu machen. Zu sehen, was anderen verborgen blieb. Zu erforschen, wovon wenige zu träumen wagten und Menschen zu helfen, die viel mehr waren, als normal. Die mehr sein konnten, aber eine Hand benötigten, die sie auf den richtigen Weg führte und ihnen half, diesen nicht wieder zu verlieren.
Das war seine Rolle. Das war, wer er sein wollte. Doch der Zweifel in ihm war nie ganz verstummt. Die Stimme, die ihm einen eisigen Schauer den Rücken hinunterjagte, wann immer sie ihm ins Ohr flüsterte, dass es nur das war, was er glaubte zu sein. Wofür er glaubte, dass der Orden stand. Was, wenn James sich irrte? Was, wenn seine Überzeugungen auf einer Lüge begründet waren?
„Hey, bist du okay?“
Er wandte den Blick vom Fenster zu Holly. Sie hatte nach seiner Hand gegriffen und er war so tief in Gedanken versunken gewesen, dass er es nicht bemerkt hatte. Jetzt entzog er ihr seine Hand und sah wieder auf den Autositz vor sich.
„Das Verkehrsaufkommen ist nicht hoch. Wir sollten gleich da sein.“
„James.“ Holly hatte etwas Bittendes in der Stimme, aber er rührte sich nicht und wagte noch viel weniger, sie anzusehen. In ihrer Gegenwart war es schwerer, die Zweifel in Schach zu halten. In ihre Augen zu sehen, weckte so viel Angst in ihm, dass er am liebsten weggelaufen wäre. Sie brachte zwar das Beste in ihm zum Vorschein, aber sie riss auch Mauern ein und war ihm ein Licht in der Dunkelheit, in der er sich bisher sehr wohl gefühlt hatte. Denn es war ihm leichter gefallen, seine Sorgen dort zu verstecken, wo niemand sie sehen konnte. Nicht mal er selbst.
Wenn er Holly ansah, gab es keinen Schatten, um seine Ängste zu verstecken. Stattdessen befürchtete er, nicht der Mann sein zu können, den sie in ihm sehen wollte. Holly glaubte, es waren edle und gute Motive, die ihn nach Leyburn führten. Doch das stimmte so nicht. Ganz so einfach war es nicht. Er war nur gut darin, sie das glauben zu lassen. Es war so leicht, ihre Erwartungen zu erfüllen.
Sein zweites Talent, indem ihm niemand etwas vormachte. Andere zu täuschen.
Er war so gut darin, dass er mit der Zeit gelernt hatte, sogar sich selbst zu täuschen. Ohne Holly wäre es ihm vermutlich noch für Jahre gelungen, den Zweifel zu ersticken und zu vergessen, dass es ihn je gegeben hatte. James Wescott wäre ihm genug gewesen. Das Leben, das er führte. Der Orden, seine Aufgaben, sein Ehrgeiz. Er war glücklich oder das, was er dafür hielt. Aber Holly hatte alles durcheinandergebracht. Es war unmöglich sie zu mögen, tiefe Gefühle für sie zu haben, ohne ehrlich mit ihr zu sein. Und das bedeutete, ehrlich zu sich selbst zu sein. Der innere Kampf den er seit ihrer Begegnung mit sich ausgefochten hatte, hatte ihn viel Kraft gekostet. Sich ihr anzuvertrauen und mit ihr nun die Flughafenhalle zu betreten, um die Suche nach Antworten zu beginnen, kostete ihn viel Mut. Mehr als er sich hätte vorstellen können.
Und vermutlich besaß es zu seiner eigenen Schande nicht viel davon. Denn er blieb vor dem Rollband stehen. Die Frau, die ihn bat seinen Koffer aufzugeben, sah ihn fragend an.
Wollte er das wirklich tun? Wollte er die Antworten finden? Was, wenn sie ihm nicht gefielen? Es gab keinen Weg zurück. Das wusste er ganz genau. Sobald er die Wahrheit kannte, würde es selbst ihm nicht mehr länger gelingen, wegzusehen.
„James?“ Holly war vorgegangen und wartete bereits hinter der Sicherheitsabsperrung. Ihr warmes Lächeln gab ihm schließlich den entscheidenden Ruck. Ein Lächeln huschte auch über sein Gesicht. Es fühlte sich fremd an und vermutlich war es niemandem aufgefallen, so flüchtig war es gewesen. Aber Holly hatte diesen Effekt auf ihn. Er kannte sie nicht sehr lange, doch sie ihn besser als alle anderen Menschen um ihn herum. Sie faszinierte ihn, er bewunderte sie und er liebte sie. Sofern er dazu in der Lage war, etwas anderes zu lieben, als seine Arbeit oder sich selbst.
Wo immer die Wahrheit lag und welche Rolle er dabei spielte, er war von seiner Warnung immer noch vollends überzeugt. Sie sollte jemanden wie ihn nicht mögen. Deswegen versuchte er alle Gefühle zu ignorieren. Aber ihr gelang es immer wieder, auch diese Mauern zu überwinden. Manchmal staunte er darüber, wie leicht ihr das fiel. Ob er es ihr unterbewusst einfach machte, weil ein Teil von ihm gefunden werden wollte? Ein Teil, der mit jeder Stunde in ihrer Nähe immer lauter wurde?
Er riss sich zusammen, schüttelte die Gedanken mit einer Kopfbewegung ab, erlangte Kontrolle und setzte eine unnahbare Miene auf. Überlegen reichte er der Angestellten seinen Koffer, bat vorsichtig damit zu sein und ließ sich anschließend vom Sicherheitsbeamten durch die Metalldetektoren führen.
„Wir haben noch eine Dreiviertelstunde, bevor wir an Board können. Willst du derweil einen Tee trinken und etwas frühstücken?“
„Ja, gerne. Ich bin zwar so aufgeregt, dass ich nicht weiß, ob ich einen Bissen hinunterbekomme, aber auf der anderen Seite ist der Flug lang und ich mag das Essen in Flugzeugen nicht besonders.“
„Du bist schon erster Klasse geflogen?“
Holly schüttelte den Kopf und er schmunzelte.
„Dann warte das Essen ab. Du wirst überrascht sein.“
„Ich glaube dir kein Wort. Du bist doch jemand, der einen Flug nutzt, um zu arbeiten. Du hast mit Sicherheit noch nie auf einem Flug etwas gegessen, oder?“ Mit einem Lächeln setzte sie sich an einen freien Tisch in einem kleinen Café, in dem es nach frischen Brötchen, Rührei, Speck und Käsegebäck roch.
„Ab und an.“ Er sah sie ehrlich an bei seiner Antwort. „Selten zugegeben, aber oft genug, um dir versichern zu können, dass das Essen in der ersten Klasse gutem Standard entspricht.“
„Ich bin beruhigt.“
Er hörte das Lachen in ihrer Stimme und wurde bei dem Versuch, ihrem Flirtversuch zu entkommen, von der Kellnerin gerettet. Obwohl er es nicht wollte, fiel ihm auf, dass Holly ihn anlächelte, als er ebenfalls ein britisches Frühstück orderte.
„Seit wann frühstückst du?“
„Ich habe gerade Zeit.“
„Hast du Hunger? Oder bist du höflich?“
„Höflich. Aber das liegt daran, dass ich es nicht gewohnt bin zu frühstücken. Deswegen verspüre ich keinen Hunger. Vielleicht kommt er beim Essen.“
Sie sah ihn ernst an. „Worüber machst du dir mehr Sorgen, über das was wir dort suchen, oder über das, was du hier zurücklässt?“
„Ich glaube, das ist unser Tee.“ Er irrte sich nicht, und nachdem die Kellnerin ihnen den Tee brachte, nahm er gleich einen Schluck. Der herbe Geschmack des Schwarztees beruhigte seine aufgewühlten Nerven. Dabei war der Tee nicht mal besonders gut. Aber besser als das Frühstück, was ihnen Minuten später serviert wurde. Es war eine kleine Portion und vermutlich viel zu teuer für den geringen Aufwand. Das Ei war lasch, der Speck zu salzig und das Brötchen mittlerweile kalt. Nicht, was er gewohnt war. Aber er tat so, als sei er plötzlich hungrig geworden, denn er versuchte einem Gespräch auszuweichen, ohne noch unhöflicher zu werden. Er hatte nun schon zwei Mal Hollys Frage ignoriert. Wenn er sie richtig einschätzte, ließ sie es kein drittes Mal zu, also hoffte er darauf, dass sie einfach nicht erneut fragte.
Aber es war ein Fehler, Holly Martin zu unterschätzen.
„Wie oft soll ich dich noch fragen, bevor du mir eine Antwort gibst, James? Du weißt, dass ich keine Ruhe geben werde.“
Er schmunzelte. Obwohl er keineswegs erfreut war, dass sie ihm keinen Ausweg anbot, verspürte er das unerwartete Gefühl von Freude. Vielleicht war es auch Glück, das er empfand, wenn ihm bewusst wurde, wie sehr sie sich um ihn bemühte.
„Du weißt, dass ich das nicht verdient habe, nicht wahr?“
„Was? Mein ungnädiges Verhör? Die aufdringliche Art, meine Nase in Dinge zu stecken, die mich nichts angehen?“ Sie seufzte. Aber ihre Stimme verriet ihm, dass sie immer noch scherzte und sie seine Frage nicht falsch verstanden hatte.
„Ich bin eben unmöglich.“
Er spürte ein Lachen in seiner Kehle kratzen. Es war ein unbekanntes und gleichzeitig unangenehmes Gefühl. Er schluckte es herunter und kam doch nicht umhin, Holly ein warmes Lächeln zu schenken. Es war nicht möglich sie anzusehen, und das Leuchten in ihren Augen zu enttäuschen.
„Es ist alles“, gab er zu und erkannte an ihrer Reaktion, dass sie ihn sofort verstand. Das war ebenfalls etwas an ihr, das ihn von Anfang an fasziniert hatte. Sie verstand sich wie kein anderer darauf, seinen komplizierten Gedankengängen zu folgen. Es war nicht leicht, sie zu manipulieren, es war noch schwerer sie auszutricksen und beinah unmöglich etwas vor ihr zu verbergen, wenn man sich nicht dazu entschied, die Flucht anzutreten. Und er hatte ihr versprochen, nicht länger wegzurennen.
Gestern Abend, nachdem er ihr die Wahrheit über seine Vergangenheit erzählt und seine schrecklichen Vermutungen mit ihr geteilt hatte, hatte er zugelassen, dass sie ein Teil seiner Geschichte wurde. Sie war jetzt nicht bloß irgendeine Frau, um deren Sicherheit er sich kümmerte. Das war lange vorbei. Ihm kam es so vor als kümmerte sich Holly um ihn, statt das er derjenige war, der ihr half.
„Alles zu viel?“, knüpfte sie an seine Worte an. Er hatte nicht weitergeredet und Holly nahm es zum Anlass, seine Gedanken auszusprechen.
„Es sollte nicht zu viel sein. Doch das ist es. Ich muss ständig darüber nachdenken.“
„Worüber?“
„Über das, was wir hier tun. Werde ich etwas herausfinden? Gibt es überhaupt mehr zu finden oder verläuft sich der Ansatz einer Spur im grünen Gras, noch bevor daraus mehr als nur ein Ansatz werden konnte.“ Er sah Holly in die Augen. „Sind wir ehrlich. Wir vertrauen auf die unvollständigen und wirren Träume eines Mannes, dessen Erinnerungen einem Nudelsieb gleichen. Das ist alles andere als vertrauenserweckend.“ Er hatte Lust, diesen Frust nicht nur mit schwarzem Tee herunter zu spülen.
„Wirklich?“
James nickte bekräftigend.
„Und was ist, falls wir etwas finden? Was, wenn du die Wahrheit herausfindest? Hast du dir überlegt, was dann werden soll? Es besteht die Möglichkeit, dass man dich belogen und bewusst getäuscht hat.“
„Es sollte mir egal sein. Das ist das Schlimmste an der Situation. Die Menschen, die das getan haben, leben nicht mehr, Holly. Daher sollte für mich keine Rolle spielen, was damals passiert ist, oder warum. Ich rede mir ein, dass es mit Satek zusammenhängt.“
„Aber das tut es doch“, unterbrach sie ihn. Ihre Stimme klang energisch und er mochte, wie ihre braunen Augen Goldblitze sprühten.
„Es könnte sich genauso gut herausstellen, dass Satek mich manipuliert.“ Er sah auf seinen leeren Teller. „Es ist eine Möglichkeit und das wissen wir beide.“ Als er wieder aufsah, trafen sich ihre Augen.
„Es ist sogar logischer. Denn mir fällt kein Grund ein, der rechtfertigt, dass der Orden so einen Aufwand betrieb, nur um mich zu täuschen. Das ist einfach ineffizient.“
„Ineffizient?“, Holly gluckste. „Das kannst auch nur du sagen. Die schlimmsten Verschwörungen finden immer da statt, wo man sie nicht erwartet und sie ergeben nie Sinn für die Menschen, für die Verrat dieser Art nicht in Frage kommt.“
„Du willst sagen, ich sollte nicht davon ausgehen, dass die Männer damals die gleichen Prinzipien hatten wie ich?“
Sie nickte und er dachte darüber nach.
„Mit einem hast du Recht. Die, die am stärksten versuchen, das Richtige zu machen, tun oft genau das Gegenteil und stellen sich als die Grausamsten heraus.“
„Was soll das wieder heißen?“, fragte sie verwirrt.
„Wenn ich so ein guter, ehrlicher Mann wäre, wie du behauptest, hätte ich weder mich, noch dich oder meine Leute über all die Jahre belogen.“
„Du hast erst vor kurzem überhaupt in Erwägung gezogen, dass etwas nicht stimmt. Wie kannst du von Lügen reden, wenn du die Wahrheit nicht kennst?“
„Ich habe dir nicht meine wahren Gründe genannt, weshalb ich dich gesucht habe. Zu behaupten, er könnte keine Verbindung zu dir haben, war ebenfalls eine Lüge. Und als ich Rhylee Buchanan das Ritual durchführen ließ, ging es mir um selbstsüchtige Motive und nicht so sehr um den Mörder von Steven Craine.“
Er schüttelte den Kopf über sich selbst und sah Holly danach direkt in die Augen. „Egal, was du sagst und wie du das drehst. Du kannst nicht schönen, was ich getan habe und ändern, wer ich bin.“
„Klingt wie Selbstmitleid.“
„Wirklich?“ Er runzelte die Stirn. Während er seinen Tee trank, ließ er ihrer Feststellung genügend Raum. Nur um auf den Punkt zu kommen. „Ich hasse Selbstmitleid.“
„Konnte ich mir schon denken.“
„Also Schluss damit.“
„Schluss“, bekräftigte sie. „Die Vergangenheit zu ändern, liegt nicht in unseren Händen, hat mir mal jemand gesagt und ich finde, er hatte recht damit.“
Er sah ihr in die Augen und erwiderte ihr Lächeln, obwohl er sich anstrengen musste. Nicht, weil er es erzwingen musste. Es war ungewohnt und seine Muskeln eingerostet. Es fühlte sich seltsam an. Aber er erkannte in ihrem Blick, dass er sich nicht so blöd anstellte, wie er befürchtete.
„Deswegen sind wir schließlich hier.“ Holly deutete auf den Flughafen. „Um die Wahrheit herauszufinden. Dir zurückzuholen, was dir zusteht und dabei wenn möglich noch einen Weg zu finden, wie wir Satek stoppen. Du bist hier, um dich und mich und womöglich die Welt zu retten. Für mich klingt das ehrenhaft genug. Da ist Selbstmitleid wirklich nicht gefragt.“
„So zusammengefasst stimme ich dir zu.“
„Gut.“ Sie klang zufrieden.
Er behielt seine Sorgen für sich. Dass sie auf der Suche nach der Wahrheit, Dinge fanden, die ihm seine Erinnerung zurückbrachten, aber dabei nichts fanden, was ihnen half, Satek zu besiegen. Das war schließlich die eigentliche Mission. Er durfte das nicht aus den Augen verlieren. Die Frage, wer er in Wirklichkeit war; warum man ihm das genommen hatte, war ein persönliches Motiv, das hinter der eigentlichen Mission zurückstecken musste. Doch das tat es nicht. Er fühlte sie nur zu deutlich. Seine Schwäche, nicht an andere zu denken, sondern zu allererst an sich selbst.