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4.
ОглавлениеChris
“There is nothing decent about you.”
Miami, 11.03.2017
Es war kurz nach 10 und Chris hatte keine Lust wieder in die Wohnung zurückzugehen. Für einen weiteren Augenblick wollte sie die Zuflucht genießen, die dieser Treppenabsatz ihr bot. Er war ihr Kap der Guten Hoffnung. Umso ärgerlicher war es, dass die Straßenlaterne seit gestern Abend kaputt war. Irgendein Volltrottel hatte seine Wut ausgerechnet an der Lampe auslassen müssen. Die Scherben der Glasverkleidung lagen noch immer auf dem Boden, weil niemand sich für den Dreck der anderen verantwortlich fühlte. Chris hätte es ja getan, aber sie war noch müde von der Nacht, die hinter ihr lag.
Freitags wurde es regelmäßig spät. Da sie es nicht eilig hatte, nach Hause zu kommen, fand sie es nicht schlimm lange zu arbeiten. Heute war sie erst um 6 erschöpft ins Bett gefallen und jetzt vier Stunden später schon wieder aufgestanden. Es gab einfach zu viel zu tun.
Anstatt sich sofort der Unordnung in Küche und Wohnzimmer anzunehmen, oder sich um die Wäsche zu kümmern, saß sie jetzt seit Minuten auf dem Treppenabsatz vor dem heruntergekommenen Wohnblock und rauchte. Sie genoss diese friedliche Stimmung am Vormittag, wenn alle in ihren Häusern blieben, die Kids noch nicht von der Schule zurück waren, jedenfalls nicht die, die in die Schule gingen. Die anderen schliefen bis zum Nachmittag, weil sie jede Nacht zum Tag machten. Sobald mal ein Streit an ihr Ohr drang, krawallartig Türen geschlagen wurden, oder Rappmusik ertönte, blendete sie es einfach aus. Oh ja darin war sie gut. Wie sonst hätte sie diese lästige Frage von Mr. Austen wegschieben können? Die danach, warum sie das mit sich machen ließ. Quasi dieses Leben lebte. Nicht, das es ihm zustand sich aufgrund von Vermutungen, ein Urteil zu bilden. Was wusste er schon von ihr? Dass er dennoch Recht hatte, das ignorierte sie seit der Begegnung mal mehr, aber leider auch mal weniger gut. Allein dafür, dass er sie durcheinanderbrachte und sie Zweifel dieser Art nicht gebrauchen konnte, hasste sie ihn. Die Erinnerung an ihn vertrieb ihre gute Laune und es gelang Chris nicht mehr das auszublenden, was dem hier den Glanz von Hoffnung nahm.
Krawall, Streitgeschrei und andere lautstarke Grässlichkeiten passten nicht zum Kap der Guten Hoffnung.
Der Moment war vorbei und Chris seufzte, bevor sie sich aufrappelte, die Hände an der abgetragenen Jeanshose abstrich und sie anschließenden aneinander rieb. Es war frisch und sie trug keine Jacke über dem schwarzen Wollpullover mit hohem Kragen. Die war ja kaputt und Chris zog sie nur noch abends an, wenn sie zur Arbeit ging, weil es in der Nacht zu kalt war, um ohne Jacke herumzulaufen. Sie hatte momentan nicht das Geld, um sich eine Neue zu kaufen. So betrachtet war es wirklich bescheuert gewesen, sein Geld nicht angenommen zu haben.
Den neuen Mantel hätte ich nie tragen können, ohne mich schlecht zu fühlen, dachte sie grimmig. Obwohl das nicht der Grund für ihr nein gewesen war, sondern ihr verdammter Stolz, hielt sie sich an dieser Lüge fest.
„Chris?“
Sie war gerade im Begriff die Tür ihrer Wohnung aufzuschließen, als sie ihren Namen hörte.
„Bist das wirklich du?“
Sie drehte sich herum und sah die Frau am Fuß der Treppe an. Sie wusste nicht, mit wem sie es zu tun hatte, obwohl sie etwas Vertrautes an sich hatte. Es lag bestimmt an der Sonnenbrille, dass sie sie nicht gleich erkannte.
„Der Teufel brät sich ein Schwein, du bist es, Chris Harold!“ Die Frau schob die Brille auf die Stirn und in ihr blondes Haar, das sie offen und in einer modischen Frisur trug, fiel ihr elegant über die Schulter. „Sag mir nicht, du erkennst mich nicht wieder?“
„Doch Jo. Es ist schwer, dich zu vergessen. Die Brille hat mich irritiert“, erwiderte Chris perplex. „Was machst du hier? Solltest du nicht irgendwo in New York sein und …“
Okay sie versuchte sich daran zu erinnern, was die Frau in ihrem High Society Leben als ihren Alltag betrachtete. Der teure Mantel, die Marken Lederstiefel, die Sonnenbrille und nicht zuletzt der Schmuck, den sie trug, bewiesen, dass sich an Jos Lebensstil wohl kaum etwas geändert hatte. Irgendwas musste Liberty City an sich haben, dass sich zurzeit alle Snobs hierher verirrten.
„Ich komme aus New York, das stimmt. Aber ich habe mein Auge zurzeit auf Miami gerichtet. Ich habe Großes vor.“
Chris verschränkte bei Jos Worten die Arme. Großen Ideen gegenüber sollte man immer skeptisch sein, vor allem, wenn sie von Jocelyn Goodkind kamen. Als die Geschäftsfrau vor 2 Jahren aus Chris’ Leben verschwunden war, hatte sie nicht angenommen, sie wieder zusehen. So richtig bereut hatte sie die Aussicht nicht, obwohl sie Jo auf ihre Weise gemocht hatte.
„Bittest du mich zum Erklären nicht wenigstens hinein? Es ist nicht so, dass du dich schämen bräuchtest. Ich kenne dich schließlich schon lang genug.“
Chris verdrehte die Augen. Sie hasste es, wenn Jo diese bestimmte Art an den Tag legte, die ihr ständig das Gefühl gab, ein bemitleidenswertes Geschöpf zu sein, dem zu helfen sie sich herabließ.
„Ich schäme mich nicht. Weder vor dir, noch sonst wem. Das weißt du doch.“ Ihre Erwiderung wirkte kindisch. Ihr kam in den Sinn, das Mr. Austen das so gesehen hätte. Den Gedanken an ihn verdrängt, nickte sie in Jos Richtung und forderte sie auf, ihr in die Wohnung zu folgen.
In der Küche stand der Abwasch herum und es brannte Chris unter den Fingernägeln, ihn zu beseitigen. Da sie sich die Blöße aber nicht vor Jo geben wollte, wartete sie darauf, dass diese endlich redete. Umso schneller ging sie auch wieder. Chris war sich nicht sicher, inwiefern ihr Auftauchen ein gutes Omen war. Sie hatte so ihre Erfahrungen mit Jo gemacht.
„Also, was willst du hier? Du kannst mir kaum weiß machen, dass du zufällig vor meiner Tür gelandet bist, weil dein Chauffeur die Orientierung verloren hat“, fragte sie, als sie die Stille nicht mehr ertrug.
Jocelyns Lachen war heiter. Es klang wie immer aufgeweckt und erinnerte Chris in seiner Klarheit an Glockengeläut, auch wenn das ein positives Bild war. An Jo war äußerlich alles liebenswert. Es war ihre Rücksichtslosigkeit und ihre Einstellung, die Chris oftmals nicht teilte. Sie machten es schwer, Jo zu mögen, obwohl sie gewinnend war. Sie war ein Rätsel, und wenn Chris sie genau betrachtete, hatte sie sich kein bisschen verändert. Daher war sie auf der Hut, bevor sie in etwas reingeriet, aus dem sie nicht mehr herauskam und in das sie nicht geraten wollte.
„Natürlich nicht. Ich komme, weil ich mit dir reden will. Das Glück ist auf meiner Seite.“
„Was?“
„Na du lebst zum Glück immer noch hier.“
„Glück? Das meinst du doch nicht ernst? Du willst mir nicht erzählen, dass du angenommen hast, ich hätte es aus diesem Loch heraus geschafft? Warst du nicht diejenige, die mir prophezeit hat, dass ich das ohne deine Hilfe nie schaffen werde?“
„Ich gebe zu, das habe ich gesagt. Aber um ehrlich mit dir zu sein, Chris, obwohl ich mich für den wichtigsten Menschen der Welt halte, habe ich meine Zweifel in Bezug auf dich gehabt. Du bist nicht nur zäh, du bist auch genauso stur. Wenn du dir was in den Kopf setzt, ziehst du das durch. Ich wollte es nicht zugeben, doch unter uns gesagt, war ich mir wirklich nicht sicher, ob ich dich noch hier finde.“
Dass sie damit nicht meinte, dass sie befürchtete Chris in der Gosse oder auf dem Friedhof wiederzufinden, schob sie mit einem lässigen Lächeln hinterher. Jos Humor war gewöhnungsbedürftiger, als der von anderen Leuten, denen sie unterstellt hatte, ihren Charme verloren zu haben. Charme besaß Jo, dem konnte sich Chris nicht entziehen. Mit dem Humor sah es dagegen finster aus.
„Das beantwortet meine Frage nicht. Warum bist du wirklich hier, Jo? Was willst du von mir?“
„Genauso starrsinnig wie früher, was? Immer musst du alles sofort und gleich wissen. Warum können wir nicht erst wie zwei Freundinnen reden? Wir haben uns zwei Jahre nicht gesehen, Chris.“
„Weil wir keine Freundinnen sind?“, fragte Chris ironisch zurück.
„Findest du nicht, das ist etwas hart ausgedrückt? Ich weiß du konntest mich nie besonders gut leiden.“
„Das ist nicht wahr. Ich traue dir nicht, das trifft es besser“, unterbrach sie Jo.
„Okay, du traust mir nicht. Nachdem wie wir auseinandergegangen sind, ist das auch sicher nachvollziehbar. Trotzdem kannst du nicht abstreiten, dass ich dir so nah bin, wie du überhaupt nur jemanden an dich heranlässt. Das bedeutet, dass ich deine Freundin bin, richtig?“
Chris seufzte. Es brachte nichts, mit Jocelyn über das Thema Freundschaft zu reden. Sie beide hatten völlig unterschiedliche Ansichten davon, was das bedeutete. Vielleicht hatte Jo recht damit, dass sie niemanden an sich heranließ, aber das bedeutete nicht, dass Jo gute Absichten hatte. Mit der blonden Geschäftsfrau zu diskutieren, war jedoch ein zum Scheitern verurteiltes Unterfangen. Wenn sie sich was in den Kopf gesetzt hatte, ließ sie davon nicht ab. Jo war bei weitem starrsinniger als Chris es je sein würde.
„Okay gut. Über was sollten wir deiner Meinung nach als so treue und enge Freundinnen sprechen?“
„Das macht so doch keinen Spaß, Chrissy Schatz.“
„Oh mein Gott, da sind wir wieder. Nenn mich nicht so. Du weißt, ich hasse es, wenn du von meiner Möchtegern- besten- Freundin zu meiner nicht vorhandenen Schwester mutierst.“
„Gibt es etwas, was Chris Harold nicht hasst?“
„Wenn man mich in Ruhe lässt und nicht versucht, mir auf die Nerven zu gehen.“
Sie sah, wie Jo das Gesicht zu einem Lächeln verzog. Sie verstand, dass Chris sich über sie lustig machte. Dabei tat sie das nicht absichtlich. Sie gab sich nur nicht besonders viel Mühe, freundlich zu sein.
„Ich mag, wie ehrlich du bist.“
„Etwas mit dem du immer Probleme hattest, Jo. Wenn ich es mir genau überlege, war das eins der größten Hindernisse, sich mit dir zu befreunden.“
„Du hast Recht. Ich gebe ja zu, ich habe ein kleines Problem mit Ehrlichkeit. Aber das liegt nicht nur an mir. Die Welt …“
„Ist nicht bereit dafür. Für deine Wahrheit. Das kenne ich alles, Jo. Du bist also immer noch mit ihm zusammen?“
Chris würde seinen Namen nicht in den Mund nehmen. Sie war nicht abergläubisch, doch bei Vincent Velasquez machte sie eine Ausnahme. Er war in vielerlei Hinsicht unheimlich und sie hielt ihn für das Böse, das Gestalt angenommen hatte.
Dass Jocelyn auf ihre Frage nickte, überraschte Chris nicht. Jocelyn hatte Geld geerbt, als ihre reiche Großmutter, die sie aufgezogen hatte, gestorben war. Aber ihr Interesse an Geld, an Geschäften und an den anderen Dingen, hatte erst vor drei Jahren angefangen, als sie Vincent Velasquez kennengelernt hatte und mit ihm zusammengekommen war.
„Schmeißt du mich raus, wenn ich dir sage, dass ich mit ihm verlobt bin?“
„Ich würde es gerne, falls du es genau wissen möchtest. Sag mir einfach, was du von mir willst, Jo, damit ich mir den Rauswurf sparen und ich dich höflich bitten kann, zu gehen.“
„In Ordnung. Lassen wir den Smalltalk unter alten Freunden. Ich bin in Miami, um meine Geschäftskette zu erweitern.“
„Und warum kommst du deswegen zu mir?“ Es wäre falsch anzunehmen, sie kam nur, um ihr das zu erzählen, weil man das unter Freunden so machte. Jo war keine Frau, die etwas einfach nur so machte. Einfach nur so, gab es bei ihr nicht. Sie verfolgte immer Absichten.
„Ich habe einen Laden in der Innenstadt übernommen. Es fehlt noch der letzte Schliff, der dem ganzen Charme verleiht. Aber du schaffst das schon.“
„Wieso soll ich irgendwas schaffen? Was habe ich mit diesem Laden zu tun?“
„Ich wollte dich bitten, mir auszuhelfen. Ich hatte noch keine Gelegenheit gutes Personal zu finden. Der Job wäre was für dich. Du hattest schon immer diesen Bücherfimmel.“
„Ich habe keinen Bücherfimmel.“
„Egal. Spielt das eine Rolle? Sag mir nicht dein Job in dieser Bar befriedigt dich mehr?“
Jo hatte es geschafft. Mal wieder. Chris spürte, wie sie sprachlos war und ihr nichts einfiel, das sie dazu sagen konnte.
„Bereust du immer noch, dass ich zu dir gekommen bin?“
„Hängt da dieser Kerl mit drin? Du weißt, dass ich nichts mit ihm zu tun haben will.“
„Es ist sein Geld, was ich ausgebe. Aber der Laden gehört mir.“
Ob sie das jetzt beruhigte, konnte Chris im Moment nicht sagen. Die Aussicht auf einen besser bezahlten Job zu regelmäßigen Arbeitszeiten besaß dagegen sehr wohl einen Reiz. Jo wusste das natürlich. Deswegen war sie sich ihrer Sache so verdammt sicher.
„Komm schon Chris, sag mir, dass du mein Angebot annimmst. Du wirst mir dankbar dafür sein, ja gesagt zu haben. Ich verspreche es.“
„Auf deine Versprechen ist kein Verlass, Jo.“
Auch wenn sie das so meinte, wie sie es sagte, klangen ihre Worte wie eine halbherzige Rechtfertigung. Sie konnte einfach nicht leugnen, dass die Vorstellung in ihrem Kopf bereits Gestalt annahm.
„Du liebst diesen Kram. Und du kannst das wesentlich besser verkaufen als ich.“
Das war ihr Stichwort. Sie hatte es von Anfang an geahnt. Jetzt kam der Haken. Skeptisch zog Chris eine Augenbraue hoch und musterte die Frau ihr gegenüber misstrauisch.
„Worum geht es bei dieser Geschäftsidee überhaupt, Jo?“