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7.
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“Fate can be a total bitch sometimes.”
Miami, 13.03.2017
Was für eine fürchterliche Nacht. Entweder lag es an der schlimmen Lektüre, die er seit Tagen studierte – und das auch noch ohne Erfolg – oder an Sateks Fluch. Es lag ganz sicher an Sateks Fluch, denn ohne den hätte Lucas gar nicht all die fetten Schinken nach Antworten durchforsten müssen. Es war wie die Suche nach der Nadel im Heuhaufen. Er wusste, dass die Suche nach Wundern immer so war. Wenn es leicht wäre, das Unmögliche zu schaffen, würde es ja jeder können. Dann wäre es nichts Besonderes mehr. Er wollte sich also gar nicht über die Suche und die damit verbundene Arbeit beschweren. Es waren seine Träume.
Normalerweise hätte er bestimmt nicht von ihr geträumt. Auf keinen Fall! Klar, sie hatte ganz gut ausgesehen. Aber es gab hübschere Frauen und vor allem hatten die meistens einen Frauennamen und hießen nicht Chris. Zudem träumte er nicht davon, eine Frau in seinem Bett zu haben, die ihn lieber ohrfeigte, als mit ihm auszugehen. Dass sein Traum trotzdem hoch erotisch und verdammt gut gewesen war, ließ er jetzt mal unbeachtet. Es war eine scheiß Nacht gewesen. Punkt. Und daran war allein Satek schuld.
Sateks Macht war groß. Leider nicht nur in Sachen Liebe. Er sorgte doch tatsächlich für so schlechtes Wetter, das sich Ms. Banks Ankunft immer weiter nach hinten verschob. Wer sonst sollte dafür verantwortlich sein?
„Setekh? Ich bitte dich Lucas. Er ist der Gott der Zerstörung und …“
„Des Chaos‘. Ich habe deinen Bericht verfolgt. Ich finde er stiftet sehr viel Chaos“, unterbrach Lucas Jeremy unhöflich.
Während Lucy seinen Ausspruch mit einem Lächeln quittierte, bewegten sich Jeremys Lippen kein bisschen. Dem war Lächeln noch fremder als Wescott. Allerdings war der Name tabu. Lucas arbeitete immerhin intensiv daran, dass der Obere nicht zum Gesprächsthema wurde. Dabei rechnete er jeden Moment damit, dass Jeremy das Schweigen brach. Er war seit der Sache mit Rhylee auffällig zahm gewesen und das passte nicht zu ihm.
Was heckst du wieder aus Jerry?
„Dennoch gehört die Beeinflussung des Wetters im Nirgendwo von Eurasien nicht zu seinen Fähigkeiten.“
„Das wissen wir nicht, Jeremy. Genauso wenig ist bewiesen, dass er ein Gott ist, dennoch redest du von ihm, wie von einem.“ Das konnte er jawohl nicht abstreiten?
„Ich finde seine Macht vergleichbar, oder hältst du ihn für …“
„Einen Dämonen. Irgendein Mensch, der mit der falschen Magie gespielt hat“, vervollständigte er Jeremys Satz. „Natürlich tue ich das. Vielleicht hat er ein Pakt mit diesem Setekh geschlossen und nimmt Rache, weil ihn die Welt immer ans Bein pisste, oder ihn nie für so toll hielt, wie er sich selbst.“
Wenn Jerry ihn schon so direkt danach fragte, hatte er eine ebenso direkte Antwort verdient.
„Bei dir sind alle Bösewichte irgendwelche Menschen, die eine schlimme Kindheit oder Jugend hatten und dann vom Weg abkommen.“
„Das ist ja auch meistens so“, kommentierte Lucy das Gespräch und gab ihm damit Recht. Lucas lächelte Jeremy an, der mit einem Kopfschütteln seine Unzufriedenheit ausdrückte. Also war er wenigstens noch der Alte und Annabelle hatte ihn nicht ganz verändert. Lucas gab ihr immer noch die Schuld für Jeremys zahmes Verhalten. Wenn nicht sie, wer dann? Er sollte sie lobend erwähnen, wenn sie den Fall abgeschlossen hatten. Sollte sich das dann noch lohnen. Ohne den Oberen waren die britischen Talamadre Geschichte. Ihm gingen bereits wieder Endzeitszenarien durch den Kopf und weil er die nicht gebrauchen konnte, schob er jeden Gedanken an die Zukunft beiseite. Die Gegenwart bot an diesem Morgen auch genug Probleme, um sich ohne Zukunftsängste so richtig austoben zu können. Der Kaffeebecher in seiner Hand war bereits zur Hälfte geleert und sie noch nicht mal bei dem eigentlichen Thema.
„Okay, dann. Lucy was ist der Stand der Dinge?“, fragte er die Psychologin, die im Augenblick für ihn arbeitete. Denn er war der Obere in Vertretung, obwohl es niemand außer ihm wissen durfte.
„Nach Scotts Auskunft geht es Rhylee schlecht. Das Koma in dem sie sich befindet scheint instabil zu sein. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, hält Scott das für kein gutes Zeichen. Aber sie lebt noch. Das ist das einzig Gute, dass ich dir sagen kann.“
Lucas nickte. Er war verzweifelt und nahm gerne jeden Grund zur Hoffnung. Auch den.
„Das ist doch mal ein Anfang. Weiter?“
„Er kann natürlich nicht sagen, wie viel Zeit ihr noch bleibt. Er glaubt aber, dass sie bis morgen durchhalten kann.“
„Gut, wir wollen das nicht auf die Stunde genau festhalten. Wenn sie so lange durchgehalten hat, dann wird sie durchhalten, bis Ms. Banks da ist.“
„Das ist doch lächerlich. Ihr Zustand ist so labil, dass die Wahrscheinlichkeit höher ist, dass wir sie jeden Moment verlieren. Wir sollten unsere Ressourcen auf Setekh konzentrieren, nicht in verlorene Dinge investieren.“ Jeremy war aufgebracht, weil er wie immer glaubte, im Recht zu sein. Es war an der Zeit, ihn in die Schranken zu weisen. Selbst wenn Lucas dafür mit hohem Einsatz pokern musste.
„Wir sollten endlich das Ritual durchführen, um ihre Erinnerungen …“
„Das sieht Wescott aber anders“, unterbrach Lucas Jeremy ruhig.
„Das bezweifle ich. Wo ist der Obere überhaupt? Ich werde mit ihm sprechen und dann werden wir sehen, was er wirklich dazu sagt.“
„Er hat Lucas alle Freiheiten zugesichert, Rhylee zu helfen. Das sagt doch alles Jeremy“, schaltete sich Lucy ein und Lucas hätte sie küssen können. Diesmal nicht nur der verführerischen Lippen wegen, sondern einfach, weil es gut tat zu sehen, wie sie hinter ihm stand. Selbst uneingeweiht, vertraute sie seinen Worten und spielte ihm hervorragend in die Karten. Normalerweise fiel es Jerry nämlich leichter ihr zu glauben, als ihm zu vertrauen.
„Das möchte ich mit eigenen Ohren hören. Seit wann redet der Obere überhaupt mit dir über solche wichtigen Dinge?“
Durchdringend lagen Jeremys Augen jetzt auf Lucas und ihm war klar: Wenn er den Stein, der mit rasanter Geschwindigkeit ins Rollen geraten war, nicht jetzt aufhielt, dann nahm er so viel Fahrt auf, dass er das kleine Talamadredörfchen, das da im Tal lag, platt rollte. Und dabei wackelte das sowieso schon auf den maroden Holzsäulen, auf denen es gebaut war. Nach allem was er wusste, konnte der Obere schon längst nicht mehr der Obere sein und sie führerlos.
Mal ehrlich? Da konnte Mr. Wescott ihn so oft zum Oberen ernennen, wie er wollte. Das glaubte ihm ja keiner. Außerdem wollte er es gar nicht sein. Er war der Teamleiter! Derjenige, der mit seinem Team die Welt rettete. Der Held eben. Nicht der langweilige Schreibtischhocker, der entschied, wer sterben und wer leben sollte. Oder wer Urlaub bekam und wer nicht. Wobei das nicht schlecht wäre. Vielleicht hatten die Mitarbeiter dann mal Gelegenheit Urlaub zu haben? Wescott gönnte das ja keinem von ihnen.
„Lucas?“
„Jeremy?“
Den Blick, den er erntete, der sagte mehr als tausend Worte es gekonnt hätten. Es wurde Zeit für Plan B. Dabei war Plan A noch nicht mal bereit für den Start gewesen. Na gut.
„Mr. Wescott ist mit Holly untergetaucht. Solange Satek Jagd auf uns macht und wir nicht wissen, wie wir ihn aufhalten können, ist es für sie hier zu gefährlich. Der Obere hielt es für das Beste, wenn niemand weiß, wo sie sich befinden.“
Jeremy glaubte ihm nicht. Das Stirnrunzeln verriet es deutlich.
„Das heißt keiner weiß, wo er sich befindet? Wieso hat er uns nicht informiert? Wie sollen wir ihn denn kontaktieren?“, fragte Lucy fassungslos.
„Er kontaktiert mich von Zeit zu Zeit und lässt sich informieren, wie weit wir sind“, beruhigte er sie, dabei sah er jedoch noch immer zu Jerry. Den galt es schließlich zu überzeugen und sich für die nächsten Tage vom Leib zu halten. So mit Jerry im Nacken konnte er nämlich weder denken, noch arbeiten.
„Solange wir nicht wissen, welche Kräfte Satek hat, was in seiner Macht steht, und was er womöglich aus unseren Gedanken erfahren kann, ist es das Sicherste, wenn die beiden nicht in seiner Nähe sind und wir nichts verraten können, das ihn zu ihnen führt.“
Die Logik dahinter war gar nicht so dumm. Nur er wusste wo die beiden wirklich waren, dass bedeutete, dass nur er aufpassen musste, das Satek nicht seine Gedanken las. Na gut, die waren so konfus und er dachte sowieso nur an Frauen und Sex, da fand er nie heraus, wo sie waren. Eine Sorge weniger.
„Alles klar soweit?“
„Warum hat er das dir und nicht uns allen gesagt?“ Jeremys Stimme war schneidend. Die Stimme des Verlierers, der sich die Niederlage nicht eingestehen konnte.
„Er wollte euch nicht in euren Recherchen stören. Nehme ich an. Du weißt doch selbst, dass der Obere sich nicht erklärt, oder glaubst du ich habe ihn gefragt, ob er sich vorher bei dir abgemeldet hat, Jerry?“
„Sehr witzig.“
„Wenn das dann alles wäre, könnten wir zurück zum eigentlichen Thema. Wie helfen wir Rhylee, gibt es noch was, das wir tun können?“
„Ich dachte das Thema ist, wie finden und vernichten wir Setekh?“
„Erstens: Hör auf ihn so zu nennen, Jerry. Wenn wir ihm hundert Namen geben, kann ich mir das bald nicht mehr merken. Da hätten wir auch dabei bleiben können, ihn das Böse zu nennen. Zweitens: Das ist der Grund, weswegen wir hier sind. Gerade sprechen wir darüber, wie wir verhindern können, dass eine von uns stirbt. Sag mir jetzt nicht, dass dir das egal ist?“
Jeremy sagte darauf gar nichts und Lucas nickte. Er war vielleicht bieder, besserwisserisch und penibel verbohrt, aber er war kein herzloser Klotz.
„Na schön, also was können wir machen?“, lenkte er versöhnlich ein. „Was ist mit Ms. Banks, wann wird sie kommen?“
„Dylan hält mich auf dem Laufenden. Normalerweise sollte sie morgen hier sein, aber so wie es aussieht, sind die Flüge aufgrund des Unwetters noch nicht freigegeben. Zum jetzigen Zeitpunkt geht sie davon aus, dass es auch übermorgen werden könnte.“
Von noch länger wollte er gar nicht erst anfangen, denn Lucys Blick reichte ihm auch so. Sie wirkte niedergeschlagen und er sah, dass sie die Tränen zurückzuhalten versuchte, die in ihren braunen Augen standen.
„Haben die Amerikaner noch andere Heiler vor Ort?“
„Wir haben bisher nur Kontakt zu denen hier an der Ostküste. Dylan sagt, sie haben noch einen anderen Heiler, der ist jedoch in einem Teamup irgendwo in Alaska unterwegs und kann da nicht weg.“
„Was ist mit den anderen Abteilungen?“ Jeremy blieb hartnäckig. Wenn er sich einmal mit der Sache beschäftigte, dann richtig. Wahrscheinlich hielt Wescott deswegen so viel von ihm. Eine nützliche Eigenschaft.
„Okay, das wäre ein Versuch. Lucy, du nimmst Kontakt zu den anderen Abteilungen und Organisationen auf, lass dir von Dylan helfen. Nimm alles, was du kriegen kannst. Jerry, du kümmerst dich weiter mit Annabelle um die Recherche bezüglich Satek. Ich brauche da unbedingt Ergebnisse.“
Die beiden nickten und ließen ihn allein. Das war doch schon mal was. Jetzt musste er mit Gerry reden. Der brauchte Aufmunterung und so wie Lucy ihm verraten hatte, verlangte er Antworten, die sie ihm nicht geben wollte, solange sie nicht wusste, was sie sagen sollte. Er hatte den Wink dahinter verstanden. Er war der Teamleiter, er machte das schon.
Auf dem Gang begegnete er Emily.
„Hey, Em. Wie lief es gestern? Habt ihr was entdeckt?“
„Nichts Auffälliges. Wir sind den Amis begegnet und mit ihnen gegangen. Gähnende Leere und von Satek sowieso keine Spur.“
Das beruhigte ihn. Auch wenn er nicht erwähnte, dass sie nicht nach ihm suchen sollte. Emily war niemand, die sich sagen ließ, dass sie nicht nach einem Bösewicht suchen sollte, der Schuld daran war, dass ihre Freundin im Sterben lag. Er ließ es auf sich beruhen und nahm dankbar an, das Satek nicht aufgetaucht war. Was immer das bedeutete, es war sicher nichts Gutes. Irgendwas heckte er aus. Irgendwas plante er. Lucas musste nur herausfinden was.
„Gut, wie läuft es mit dem Training?“, lenkte er Emily ab.
„Super. Elise, Will und Matty sind schon dabei. Ich stoße jetzt zu ihnen.“
„Macht nicht zu viel, fragt Jeremy und Annabelle, ob ihr ihnen helfen könnt.“
„Schreibtischarbeit?“
„Schreibtischarbeit ist, was wir im Moment brauchen.“
Sie rollte mit den Augen, nickte aber und Lucas ging weiter. Er nahm dabei 2 Treppenstufen auf einmal, grüßte Aldwyn, den er im Flur traf und öffnete dann die Tür zu Rhylees Zimmer.
Gerry sah sofort zu ihm. Sein Blick wirkte angespannt und Lucas beobachtete ihn dabei, wie er den Oberkörper aufrichtete. Als wappnete er sich für schlechte Nachrichten. Gerry war eben nicht dumm. Er wusste, dass Lucas derjenige war, der ihm die Wahrheit nicht vorenthalten würde und zudem nicht dazu neigte, die Dinge zu beschönigen. Dafür hatte er genug Optimismus, um selbst in der schwierigsten Lage noch ein Körnchen Hoffnung zu entdecken. Da war er auf Beschönigung nicht angewiesen.
Lucas zog sich den zweiten Stuhl ans Bett von Rhylee. Daniel war auch im Raum, Lucas erkannte wie er an der Wand gelehnt dastand. Er hatte ihn nicht sofort gesehen.
„Hi Gerry. Daniel“, grüßte er beide. „Scott sagt, Rhylee ist im Augenblick stabil.“
„Ja, er sagt auch, dass es ihr schlechter geht.“
„Trotzdem. Im Augenblick ist sie stabil und noch bei uns.“
„Wann kommt die Heilerin?“, fragte Daniel dazwischen.
Gleich zur Sache, wie er es von Daniel nicht anders erwartet hatte. So war er eben. Süßholzraspeln hatte Daniel Kent noch nie beeindruckt.
„Lucas?“ Gerry warf ihm einen fragenden Blick zu.
„Nicht heute.“
„Aber du hast gesagt, sie würde heute kommen.“ Gerrys Stimme bebte aufgebracht und Lucas erkannte, wie schwer es ihm fiel die Verzweiflung zurückzuhalten.
„Warum nicht?“ Daniels Zwischenfrage beruhigte Gerry, oder hielt ihn wenigstens davon ab, gleich weiter auf ihn einzureden.
„Das Unwetter, sie haben immer noch die Flüge gesperrt. Ms. Banks kommt nicht da weg.“
„Fuck.“
Daniel sprach ihm aus der Seele. Gerry dagegen schwieg und sein Blick ruhte abwesend auf Rhylee. Er wirkte ganz in seiner eigenen Welt. Lucas gab es nicht gerne zu, aber wie er so dasaß und ihre Hand hielt, gefiel ihm das nicht. Die Trauer des Moments legte sich auf sein Gemüt und Trauer entsprach so gar nicht dem, was er gern fühlte.
„Wir versuchen alles. Momentan kümmert sich Lucy um einen anderen Heiler, den wir kontaktieren können. Vielleicht bringt das was. Die Recherchen bezüglich Satek haben auch noch nicht gebracht, was wir uns erhofft haben. Momentan drehen wir uns in einem Kreis, aus dem wir noch ausbrechen müssen, um vorwärts zu kommen.“
„Was ist mit einem Ritual?“
Lucas sah zu Daniel. „Was für ein Ritual?“
Gerry war nun ebenfalls aufmerksam und sah zu seinem Partner.
„Eines mit dem wir das Glück etwas beeinflussen. Alles was dem im Moment im Wege steht, ist der Sturm.“
„Wir haben niemanden, der die Wetterelemente beeinflussen kann“, brachte Lucas an. Daniels Idee bot dennoch seinen Reiz. Er war aufgestanden und ging im Raum auf und ab. Wenn er jetzt Kaffee hätte, ging es sicher noch besser. „Was wir brauchen ist jemand …“
„Will.“
„Was?“ Lucas sah zu Gerry.
Daniel nickte zustimmend. „Will kann uns helfen.“
„Er kann Wind beeinflussen, aber nicht über die Entfernung“, wiegelte Lucas den Vorschlag ab.
„Nein, das nicht. Aber wenn wir ein Ritual machen, bei dem wir eine Entfernungsbrücke schaffen.“
„Nein!“ Er schüttelte den Kopf. Er war der Teamleiter und als solcher gehörte es dazu, dass er sich auch mal unbeliebt machte. So ‚charming’ wie er war, mochte man ihn so sehr, dass er das ab konnte.
„Nein?“ Gerry fragte ungläubig nach. „Es könnte die einzige Möglichkeit sein, Lucas. Bis die Heilerin hier ist, könnte …“
Obwohl er es nicht aussprach, wussten sie alle drei was er meinte. Lucas schüttelte dennoch den Kopf.
„Auf keinen Fall.“ Abwehrend hob er die Hände. „Will ist zu jung und zu unerfahren. Auf keinen Fall werden wir ein Ritual probieren, dessen Gelingen mehr an Wahnsinn als an Glück grenzt und dabei riskieren, das Will neben Rhylee Platz nehmen kann. Ganz ohne Sateks Einfluss.“
Die beiden Männer schwiegen und er erkannte in Gerrys Blick die Tiefe seiner Niedergeschlagenheit.
Lucas lächelte breit. „Aber ein Ritual werden wir trotzdem machen.“
„Spuck es aus, Austen und mach es nicht so spannend.“
„Genau, das ist unerträglich. Was hast du für eine Idee?“, wollte auch Gerry wissen, in dessen Augen langsam wieder Leben kam.
„Das ist keine Idee, Gerry, es ist ein Plan. Wir werden ein Portalzauber machen.“
„Portal was? Was soll uns das bringen?“
„Du willst Ms. Banks hierher teleportieren?“
Daniel verstand, worauf er abzielte und Lucas nickte mit einem breiten Grinsen im Gesicht. Ohne Daniels Erwähnung eines Rituals wäre er nie darauf gekommen, aber der Plan war genial.
„Ich war bereits zweimal bei so einem Zauber dabei, ich weiß wie es geht. Er ist zwar mächtig, aber weniger gefährlich und wir können alle mitmachen. Daniel, du lässt dir von Jeremy alle Informationen geben und spann die anderen mit ein. Heute Nachmittag werden wir das Ritual machen. Ich besorge die notwendigen Utensilien.“
„Und ich?“
Lucas sah zu Gerry.
„Du wirst auch mitmachen müssen. Wir können nicht auf dich verzichten, aber wir holen dich, wenn es soweit ist. Solange bleibst du bei Rhylee. Sag ihr, dass alles gut wird. Sie muss noch ein bisschen länger durchhalten, aber wir helfen ihr. Noch Fragen?“
„Woher weißt du, was wir brauchen?“
„Weiß ich nicht. Frag Jeremy und dann schreibst du mir eine SMS. Ich brauch ne halbe Stunde bis zu dem Laden, also beeil dich.“
Damit klopfte er Kent auf die Schulter, nickte Gerry noch mal zu und verließ das Krankenzimmer. Endlich gab es einen Weg, ein Ziel, etwas zu tun!
Warum war er auf die Idee nicht vorher gekommen? Und wieso hatte Ms. Brooks ihm das nicht vorgeschlagen? Sie hatte die nötigen Ressourcen und als Chef vermutlich auch genug Erfahrung. Das gab ihm zu Denken und er mochte die Gedanken diesbezüglich nicht. Was hatte Wescott mit ihr gemacht, dass sie von einer Zusammenarbeit so wenig hielt? Oder war sie wirklich nicht draufgekommen?
Dass beschäftigte seine Gehirnwindungen solange er um seinen Aston ging und einstieg. Diese für ihn untypischen Verschwörungstheorien zeigten ihm, dass auch er sich veränderte und das passte ihm nicht. Sateks Einfluss musste aufgehalten werden, schon seiner Datequote wegen. Nichts war bei der in Ordnung, wenn er in Miami war und alles was dabei herumkam, war Arbeit. Sah er mal von der Beförderung ab, die er nicht mal genießen konnte, weil er es keinem erzählen durfte.
Es entpuppte sich jedenfalls als Vorteil, dass er die Stadt erforscht hatte und dank seines Reiseführers dabei auch die Geheimtipps nicht ausgelassen hatte. So wusste er, wo er hinfuhr. Ob er da auch fand, was er suchte, war eine andere Frage. Aber daran würde Lucas‘ Plan nicht scheitern. Auf Daniel war Verlass und bereits nach zwanzig Minuten hatte Lucas die gewünschte SMS. Gerade als er den Wagen geparkt und ausgestiegen war. Das lief ja bestens. Jetzt musste sich dieser kleine Magic Shop nur noch als Schatz herausstellen, statt als Flop. Aber manchmal musste Mann einfach auf sein Glück vertrauen und Lucas war darin Meister. Also ging er entschlossen über die Straße und betrat den Magieladen, der ihn mit Glockenspiel und Weihrauchgeruch begrüßte.
Er warf einen Blick nach oben und erkannte ein indianisches Klingelspiel. Sehr nett. Sie hatten hier was übrig für Dekoration. Das verriet schon der erste Blick, denn überall entdeckte er Kleinigkeiten, die dem Spirituellen zugehörten und dem ganzen Vorraum das passende Flair verliehen. Die Bücher waren verkaufsfördernd in Szene gesetzt und verschiedene Gegenstände funkelten in angenehmem Licht, das durch die bemalten Fenster mystisch wirkte. Das ließ ihn hoffen. Gutgelaunt trat er weiter in den Raum. Aus dem angrenzenden Raum trat eine brünette Frau und es dauerte nur Sekunden, bis er seine Überraschung hinter einem breiten Grinsen verbergen konnte.
„Wenn das nicht Schwarzmäntelchen höchstpersönlich ist“, begrüßte er sie.
„Was suchst du denn hier?“
Er gab es nicht gerne zu. Nicht mal vor sich selbst. Aber allein der genervte Unterton in ihrer dunklen Stimme brachte die Bilder seines hocherotischen Traums zurück. Er hatte nie behauptet, mit ihm stimmte was nicht. Sicher stimmte was nicht mit ihm. Er war ein Talamadre! Sie alle hatten einen liebenswerten Schaden. Seiner war besonders liebenswert.
Es war jedenfalls nicht schlimm, dass ihn der genervte Ton in der Stimme einer halbwegs gutaussehenden dafür unerträglichen Frau anmachte. Es war bloß verwirrend, denn es passierte ihm zum ersten Mal. Zum Glück ließ er sich von so was nicht den Wind aus den Segeln nehmen.
„Hat es dir die Sprache verschlagen, oder wie?“, fragte Chris ihn.
„Dein Anblick und die sonnige Begrüßung sind eben umwerfend“, konterte er mit einem ausgeprägten Lächeln auf den Lippen.
Sie seufzte. Immer noch genervt. Aber er sah trotzdem, dass ihre Mundwinkel ein Lächeln unterdrückten. Sie stand eben auf seinen Humor. Er hatte es von Anfang an gewusst.
„Sag mal verfolgst du mich, oder weshalb bist du hier?“
Dem folgte das Verschränken der Arme ganz obligatorisch. So konnte sie sich vor seinem Charme nicht schützen. Verschränkte Arme hatten ihn noch nie aufgehalten. Das sollte ihr mal jemand flüstern.
„Du kommst mir zuvor. Genau das wollte ich dich gerade fragen. Hast du mich vermisst?“
„Wohl kaum.“
Sie meinte das so. Er sah es in ihren Augen.
„Ich weiß, mein Abgang war nicht sehr galant. Aber ich musste weg.“
„Aha. Was auch immer. Du schuldest mir keine Erklärung. Also, was machst du hier?“
„Bist du allen Ernstes sauer auf mich?“, fragte er verblüfft nach.
„Nein, aber wenn du noch mal versuchst mich anzubaggern, dann glaub mir, dass du es bereuen wirst.“
Das meinte sie ganz sicher noch ernster als ihre Worte davor. Sie war sauer auf ihn. Ohne Frage. Lucas war sich nur nicht sicher, ob sie sauer war, weil sie nicht auf seine Anmache eingegangen war oder weil er danach verschwunden war und es nicht noch mal probiert hatte.
„Gegenfrage, Chris. Was tust du hier? Arbeitest du nicht in einer drittklassigen Bar ganz unter deiner Würde und bedienst nette Männer mit Alkohol und Erdnüssen, die du selber magst, aber nicht wirklich isst?“
„Witzig.“ Ihre Stimme strafte ihrer abwehrende Haltung Lüge. Er hörte ihr an, wie sie nachgab. Es gab ja auch keinen wirklichen Grund, so sauer zu sein. Stand ihr auch nicht gut. Dagegen war es ein Verbrechen, noch von Zufall zu sprechen, sie just nach diesem ausgesprochen einprägsamen Traum wiederzutreffen. Noch dazu so unerwartet. Das ließ sich nicht mit Zufall erklären. Das war mehr. Lucas lang genug in der Materie, um an so was wie Schicksal und Bestimmung zu glauben. Chris Harold in einem Magieladen. Was wollte das Schicksal ihm damit sagen?
„Ich arbeite erst seit ein paar Tagen hier. Der Laden gehört einer Freundin. Sie zahlt besser, der Job hat vernünftige Arbeitszeiten und ich …“
„Ja?“, fragte er neugierig. Jetzt kam doch der spannende Teil.
„Nichts. Ist auch nicht wichtig. Was willst du in diesem Laden?“
„Ich brauche einen fachmännischen Rat. Von dir schätze ich, wenn du hier arbeitest. Du bist quasi meine Rettung in der Not und damit gebe ich dir die Gelegenheit, dich zu revanchieren.“
„Für was?“
„Dafür, dass mein Glas Wasser dir im Hinterhof deiner alten Arbeitsstätte das Leben gerettet hat?“
Daran musste er sie doch nicht wirklich erinnern? Sie wirkte ein bisschen fassungslos.
„Weil ich dich nicht überfahren habe, als du einfach über die Straße gelaufen bist?“, bot er die nächste Möglichkeit an.
Jetzt lachte sie und es war nicht mal gehässig. Es war ein direktes Lachen, begleitet von einem Kopfschütteln und Lucas spürte, wie ihn das keineswegs kalt ließ. Schicksal war eine verfluchte Schlange. Man durfte ihr nicht trauen, vor allem nicht, wenn sie einem den süßesten Apfel versprach. Sonst flog er noch aus dem Paradies. Aus dem Single- Paradies mit all den Freiheiten, die die Ungebundenheit mit sich brachte.
„Weil du deinen Humor vergessen hattest und ich damit diesem Lachen von dir beraubt wurde? Außerdem hast du behauptet, ich besäße keinem Charme, dabei stimmt das nicht und das weißt du genau.“ Er konnte trotzdem nicht widerstehen. Er hatte nicht viele Schwächen. Schicksalsherausforderungen und hübsche Frauen standen weit oben auf der Liste. Gerade traf beides zusammen. Verständlich, dass er der Versuchung nur allzu gerne nachgab.
„Okay, okay. Ich denke, ich hab‘s begriffen. Womit kann ich dir helfen? Und nichts mehr von Rettung in der Not bitte. Ich hasse es, wenn du übertreibst.“
Wie unrecht sie doch hatte. Sie unterschätze ihn, wenn sie glaubte, er meinte es nicht ernst. Dennoch konnte er es ihr nicht erklären. Seltsamerweise war sie die erste Frau, bei der er überhaupt daran dachte, ihr was zu erklären, was geheim war und nicht ausgeplaudert werden durfte. Sie machte ihm Angst. Vor allem wenn sie so lächelte. Das war nämlich süß und es nicht seine Art, so über Frauen zu denken. Nicht wenn er im selben Moment daran dachte, was für ein Gefühl es wohl wäre, sie auszuziehen.
„Natürlich. Eine Sekunde“, riss er sich zusammen und vertrieb sämtliche unprofessionellen Gedanke. Er war immerhin so was wie der Obere.
Er reichte Chris sein Handy und bat sie, die SMS zu lesen.
„Die Dinge, die dort stehen, brauche ich. Alle und zwar sofort.“
„Das sind die Zutaten für einen Teleportationszauber, Lucas. Was willst du damit?“
Er wusste in dem Moment nicht, wer von ihnen beiden schockierter aussah. Sie, weil er sich damit beschäftigte, oder er weil …
„Woher kennst du den Zauber?“
„Was soll das heißen, woher ich den kenne?“ Sie lachte und er fand, dass es unecht klang. Sie war nicht glücklich, ihm verraten zu haben, dass sie wusste, wovon sie sprach. „Ich arbeite in einem Magieladen. Hast du wirklich angenommen, dass ich das tue, ohne Ahnung davon zu haben? Oder hältst du den Laden bloß für einen großen Schwindel?“
„Nein, aber es hätte möglich sein können. Verkauf von Räucherstäbchen, ein paar Duftkerzen, Badeöle, getrocknete Kräuter und Teenies, die sich einbilden mit einem Kugelschreiber ihres Auserwählten, sein Herz für sich zu gewinnen. So was in der Art. Abgesehen davon musst du keine Ahnung von Ritualen und Zaubern haben, wenn du ein paar Wunder und Bücher verkaufst.“ Er musterte sie aufmerksam. „Aber du kennst dich damit aus, oder?“
Sie wich seinem Blick aus und reichte ihm stattdessen sein Handy.
„Chris?“ Er bohrte nach. Ihn interessierte das. Portalzauber waren keine Magie für Anfänger, wenn sie sich damit auskannte, dann hatte sie mehr mit Magie zu tun, als er geglaubt hatte. Vielleicht besaß sie sogar selber Fähigkeiten.
„Karten auf den Tisch, was ist das hier für eine Nummer mit dem Laden? Und wieso kennt sich die ehemalige Angestellte einer Bar in Liberty City mit Magie für Fortgeschrittene aus? Erzähl mir nicht, dass hast du in der Schule gelernt?“
„Hör auf mich auszufragen, okay? Ich wüsste sowieso nicht, was dich das angeht und außerdem war ich diejenige, die wissen wollte, warum du diese Zutaten brauchst. Was hast du mit Magie zu schaffen? Ich denke du bist …“
Sie brach den Satz ab und er hob fragend die Augenbrauen. Für was hielt Chris Harold ihn?
„Investment-Manager? Oder was weiß ich.“
Offensichtlich nicht für einen Feuermagier, Teamleiter der Talamadre und Helden, der die Welt rettete. Gut, augenblicklich ging es darum, Rhylee zu retten. Er verlor kostbare Zeit.
„Es spielt keine Rolle, was ich bin. Wer ich bin, ist viel interessanter. Gerade nämlich ein Kunde, der in deinem Laden diese Sachen kaufen will. Hast du sie da und kannst mir helfen oder nicht?“
„Schon gut. Komm mit.“
Sie deutete zu einer Tür, die hinter dem Verkaufstresen lag. Er wartete bis sie aufgeschlossen hatte, dann folgte er ihr. Er konnte nicht viel erkennen, das Licht im Raum war gedämpft. Chris durchquerte ihn und öffnete die Dachluke. Eine Leiter führte hinauf.
„Müssen wir da hoch?“
Sie nickte und ging vor, er folgte ihr. Der Dachboden war ausgebaut und Lucas hatte keine Mühe aufrecht zu stehen. Regale bis unter das Dach standen an jeder Wand, darunter sammelte sich eine Vielzahl von Truhen und anderen abenteuerlichen Behältern.
Er sah zu Chris, die suchend von einer Stelle zur nächsten ging und dabei verschiedene Tütchen in ihren Händen sammelte.
„Ich habe alles da“, verkündete sie, als sie wieder zu ihm kam. Dafür hatte sie ihn hergeschickt?
„Toll, gehen wir wieder runter?“
Sie schüttelte den Kopf und er runzelte die Stirn.
„Gehen wir nicht?“
„Nein.“ Sie legte die Dinge zur Seite auf eine der nicht ausgepackten Kisten und stellte sich zwischen sie und ihn. Ihr Blick war weiterhin ernst und er ahnte schon, worum es ihr ging.
„Das sind die Zutaten für einen mächtigen Zauber, Lucas. Ich kann dir das nicht verkaufen, ohne dass du mir sagst, was du damit vorhast.“
„Wonach sieht es aus? Du hast schon richtig festgestellt, wofür man die Sachen braucht. Was sollte ich damit anderes anfangen wollen?“
„Wieso machst du so einen Portalzauber? Ich verstehe nicht, was du damit bezwecken willst.“
„Du meinst, du kannst dir nicht vorstellen, dass ich etwas mit Magie zu tun habe, richtig?“
Sie lächelte ertappt und ihm fiel auf, dass ihre grünen Augen im fahlen Licht des Sonnenscheins, der durch die Giebelfenster fiel, warm funkelten.
„Geheimnis gegen Geheimnis“, schlug er vor.
„Ich habe keine …“
„Feuermagie.“
„Was?“
„Meine Gabe. Feuermagie.“ Er grinste.
„Du machst dich über mich lustig.“
„Glaubst du nun an Magie oder nicht?“
„Was hat das damit zu tun. Es geht hier nicht um mich. Es geht um dich und darum …“
„Glaubst du daran?“, unterbrach er sie.
Sie verschränkte abwehrend die Arme. „Jeder Mensch hat etwas verdient, dass ihm Hoffnung gibt. Etwas woran er glauben kann.“
Er wertete das mal als ja.
„Das stimmt“, gab er ehrlich zu und lächelte sie an. Dann drehte er sich um und griff nach einem Stück Pappe. Davon gab es genug und sobald auch sie das Ziel seiner Suche im Blick hatte, ließ er es schön gleichmäßig in Flammen aufgehen. Bald schon war das Interesse an der Pappe nebensächlich, stattdessen sah Chris mit großen Augen zu ihm.
„Hast du das gemacht?“
„Siehst du hier noch jemanden, der dazu in der Lage wäre?“
Er löschte das Feuer, indem er es verglimmen ließ. Er wollte nicht, dass hier was außer Kontrolle geriet. „Jetzt bist du dran. Welche Magie besitzt Chris Harold?“
Er hörte wie unten im Laden eine Stimme laut wurde. Irgendwer rief irgendwas. Das wer konnte er nicht sehen, das was nicht hören, aber sie waren nicht länger allein.
„Ich muss zurück in den Laden.“
Sie nutze den Moment, ihm auszuweichen und nahm die Sachen, die sie weggelegt hatte, wieder in die Hände.
„Chris, wir hatten eine Abmachung. Welche Gabe?“
„Sagen wir, ich kenne mich ein bisschen aus. Gut genug um in so einem Laden ein bisschen von der Wahrheit und ein bisschen von dem zu erzählen, was die Kunden hören wollen, in Ordnung?“
„Nein. Ich meine, dass ist toll. Aber ich wollte was anderes wissen. Sag mir nicht, sie besteht im Gedanken lesen?“
Sie schmunzelte nun und schubste ihn in Richtung Dachluke. Er gab sich zwar nicht geschlagen, doch er kletterte die Holzleiter hinunter, dabei fluchte er, als er an einem Nagel hängen blieb.
„Alles okay?“
„Es ist nichts. Hast du ein Taschentuch?“
Die kleine Schramme blutete, als habe jemand versucht ihm den Finger abzutrennen. Toll, da jagte er den gefährlichsten Bösewicht der Talamadregeschichte, war Oberer einer Geheimorganisation, besaß übernatürliche, spektakuläre Fähigkeiten und was kam dabei raus? Er verblutete in der Gegenwart seiner Traumfrau, weil er sich an einem rostigen Nagel geschnitten hatte.
- Traumfrau - ???
Das musste er schnell aus seinen Gedanken streichen.
„Lass mich das ansehen.“
„Es ist nichts weiter. Ich brauche nur was zum Verbinden.“
Er wollte bereits in den Laden gehen, denn jetzt ordnete er die Stimme einem Teenie zu, der verunsichert ein zweites Mal ‚Hallo?’ rief.
„Ich sagte, lass mich das ansehen. Mein Gott, hör auf so stur zu sein, Lucas.“
Er sah zu ihr und lächelte. Wenn sie fluchte, war sie verdammt hübsch.
„Zeig mir den Finger.“
Bei der Aufforderung konnte er nicht nein sagen.
„Sieht schlimmer aus, als es ist“, meinte er und verfluchte, dass das Blut seinen Anzug ruinierte. „Hast du nun was zum Verbinden? Ein Pflaster? Ich muss nämlich wirklich los und wenn wir hier noch lange so dastehen, verblute …“
Er brach den angefangenen Satz ab, denn seine Gedanken gingen gerade andere Wege. „Hast du das gemacht?“
Er starrte auf seinen Finger, der aussah wie sein Finger. Sein Finger, ohne die hässliche Begegnung mit einem rostigen Nagel. Da war kein Blut, keine Schramme, gar nichts mehr.
„Siehst du noch jemanden, der das gemacht haben könnte?“
Sie lächelte und er hätte das gerne kommentiert, dass sie ihn zitierte, aber im Augenblick verschlug es ihm die Sprache. Das passierte ihm normalerweise nicht. Er war Lucas Austen, er hatte immer was zu sagen!
„Heilerin.“
Heilerin … na klar. Warum bin ich da nicht gleich draufgekommen?!
Das war doch schon immer eindeutig gewesen. Nicht wirklich.
„Heilerin?“
„Krieg keinen Anfall. Ich kann nur ein paar Schrammen heilen und ich benutze die Fähigkeit normalerweise nicht, okay. Es ist nichts Besonderes. Können wir jetzt gehen. Ich hab richtige Kundschaft.“
Was sollte das heißen? Nichts Besonderes?
„Richtige Kundschaft? Hey, was denkst du, was ich bin?“
„Ein Arsch. Feuerarsch, vielleicht.“ Sie schmunzelte in seine Richtung, dann deutete sie mit einer Geste in den Laden. „Komm jetzt.“
Er tat ihr den Gefallen und während Chris die Tür hinten sich zuschloss und kurz mit einem Mädchen, Lucas schätze sie auf 15, sprach, überlegte er, was er tun sollte. Jetzt hätte er für Kaffee getötet. Aber er war einer von den Guten.
Chris – Schwarzmäntelchen – Harold war eine Heilerin! Das war Schicksal. Ein ganz beschissenes Schicksal, wenn er bedachte, das Heiler ihre Gabe nicht an sich selbst anwenden durften. Eine Schande, wenn er an die Prellungen und dunklen Schatten in ihrem Gesicht dachte. Auch heute hatte er was davon entdeckt. Es war ihm aufgefallen, aber er sah weg. Vielleicht hätte er mal früher hingucken sollen. Seine Traumfrau eine Heilerin. Das war ja verrückt.
Vor allem das mit der Traumfrau.
„Ich habe dann alles für dich zusammengestellt.“
Er riss sich von seinen absurden Gedanken los und sah zu Chris. Sie stand da hinter der Theke und wartete an der Kasse auf ihn. Wie sie so dastand, fand er, sie gehörte da hin. Eher hier hin, als in die drittklassige Bar. Die Frage war nur, ob sie im Moment woanders hingehören konnte.
Es war riskant. Sie war womöglich wirklich ungeübt. Es konnte sie überfordern. Er konnte ihr vor allem nichts erzählen. Er war ja nur Oberer in Vertretung, so eine Entscheidung sollte er nicht über Wescotts Kopf hinwegtreffen. Nicht mal, wenn der nie wiederkäme.
Er ging zu ihr herüber und während er zahlte, beugte er sich unauffällig zu ihr.
„Wirklich nur Schrammen, sagst du?“
„Wirklich. Ich sagte doch, ich nutze sie nicht. Manchmal wache ich auf und denke, ich bilde mir das alles nur ein. Aber dann hätten wir beide eben die gleiche Halluzination haben müssen, nicht wahr?“
Er glaubte ihr. Ihre Augen logen nicht. Und er konnte es auch nicht. Weder sie belügen, noch sie der Gefahr aussetzen, die der Versuch Rhylee zu heilen, mit sich brachte. Das war weit mehr als eine Schramme. Womöglich schaffte sie es sowieso nicht. Schicksal hin oder her. Er wusste, wann es besser war, das Schicksal nicht herauszufordern. Immer dann, wenn man nicht bereit dafür war den Preis zu bezahlen. Denn eines lernte ein Talamadre sehr schnell: Magie hatte immer ihren Preis.
„Brauchst du sonst noch was?“
„Nein danke.“ Er nahm die Tüte, die sie ihm hinhielt und lächelte sie an. Wieder ganz der Alte. Daher meinte er seine Worte auch so, wie er sie sagte. „Wir sehen uns.“
Er verließ den Magic Shop nicht so beschwingt, wie er ihn betreten hatte. Die Nachdenklichkeit musste er dringend mit Kaffee herunterspülen. Er wählte im Überqueren der Straße eine Nummer.
„Kent? Ich hab die Sachen. Sag Aldwyn, er soll Kaffee kochen, ich bin in einer halben Stunde da. Meeting im Konferenzraum, ich will alle dabei haben.“
Er stieg in den Wagen, startete den Motor und ließ den Laden, Chris Harold und jeden Gedanken daran, ob er sich richtig entschieden hatte, hinter sich. Für Lucas gab es nur den Weg nach vorne. Es galt ein Leben zu retten.