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5.
ОглавлениеJames
“I was never good with projects.”
Leyburn, 12.03.2017
Er brachte es kaum über sich, sie zu wecken. Sie schlief so friedlich neben ihm, mit dem Kopf an seine Schulter gelehnt. Aber sie waren am Ziel.
Das hoffte er jedenfalls. Ein für ihn ungewohntes Gefühl, ganz und gar auf seine Intuition zu hören, sich auf die Hoffnung zu verlassen. Die logisch fundierte Grundlage, die seiner Handlung fehlte, verunsicherte ihn mehr, als er sich selbst eingestehen wollte. Aber er musste richtig liegen. Die Umstände der letzten zwei Tage durfte er Holly keineswegs umsonst zugemutet haben.
Allein der Flug von Miami, mit einem Zwischenstopp in New York, hatte 15 Stunden gedauert. Sie hatten zusammen an Board zu Abend gegessen und Holly hatte ihm Recht gegeben. Das Essen war besser, als sie erwartet hatte. Die meiste Zeit hatten sie geschwiegen, was James viel Zeit zum Analysieren, Konstruieren und Nachdenken gegeben hatte. Wenn sie doch miteinander redeten, dann weil Holly das Gespräch mit ihm suchte und die Stille nicht mehr aushielt. Dabei hatte sie es ihm einfach gemacht und nicht über den Grund dieses übereilten Aufbruchs gesprochen. Holly erzählte ihm stattdessen von ihrer Kindheit. Von allem, was sie mit ihrer Heimat verband. Er hatte ihr zugesagt, dass sie ihre Eltern besuchten, wenn sie schon einmal in Nordengland waren. Allerdings erst, nachdem er ihr mehrmals versichert hatte, dass er sicher war, dass Satek ihnen nicht hierher folgte. Warum? Er spürte die Anwesenheit des Wesens nicht mehr, seit er Miami verlassen hatte. Selbst wenn Satek ihm also eine Falle gestellt hatte, ging es nicht darum, ihn und Holly von den anderen Talamadre zu trennen. Möglicherweise war das Gegenteil der Fall. Er nahm an, Satek wollte sie beide aus der Gleichung entfernt wissen. Aber diese Bedenken und was das für seine Mitarbeiter bedeutete, die sich in Miami aufhielten, behielt James für sich. Er wollte Holly nicht noch mehr Angst machen. Sie gab sich tapfer und ließ sich nichts anmerken, dennoch sah er ihre Sorgen. Die Blicke über die Schulter, die Scheu allein zu sein, ohne das er sich in ihrer unmittelbaren Nähe befand. Ihr Mut, ihn trotz all ihrer Angst zu begleiten, beeindruckte ihn und gab ihm Kraft weiterzumachen. Selbst dann, wenn er keine Ahnung hatte, ob er hier das richtige tat. Ob er ihr Vertrauen wert war. Sie glaubte, er konnte sie beschützen, weil er ihr das versprochen hatte. James wünschte sich, mehr als alles andere, dass er dieses Versprechen halten konnte. Er hatte es gegeben, weil er wollte, dass es wahr war. Nicht weil er wusste, dass es stimmte. Ein Unterschied, der sie das Leben kosten könnte, aber soweit wollte er nicht denken. Denn eines war klar, wenn Satek versuchen sollte, Holly etwas anzutun, würde ihm das nur gelingen, wenn er vorher ihn besiegte. Bei allem, was James sich für die nächsten Tage vorgenommen hatte, stand sterben nicht auf seinem Plan.
Nachdem sie heute Morgen im Flugzeug gefrühstückt hatten, waren sie endlich um 10 aus der Flughalle in London getreten. Die bekannte Silhouette der Stadt, die vertraute Sprache der Menschen, die sich um ihn herum unterhielten, vermittelten ihm sofort das Gefühl, wieder da zu sein, wo er hingehörte. Hier in London verschmolz er in der Menge, statt wie in Miami aus ihr heraus zu stechen. Er ließ Holly ein paar Minuten, um sich umzusehen. Sie war lange nicht mehr hier gewesen. Doch dann zog er sie mit sich zum Heathrow Express, mit dem sie 16 Minuten später Paddington erreichten. Von da waren es noch mal 13 Minuten bis Kings Cross, wo sie mit der Virgin East Coast in Richtung Aberdeen fuhren. Während dieser 2,5 stündigen Fahrt schwiegen sie einvernehmlich. Holly sah die meiste Zeit aus dem Fenster und er beobachtete sie gerne dabei. Ihre Augen leuchteten und er brauchte nicht fragen, wie sehr sie ihre Heimat vermisst hatte. Vielleicht konnte sie eine Weile in England bleiben, bei ihrer Familie, wenn das alles hinter ihr lag und er sie von Sateks Bedrohung befreit hatte. Ihm wurde klar, dass es ihm so lieber war, als sie zurück in Miami zu wissen, während er in London lebte. Er wollte nicht darüber spekulieren, ob sie sich nach dem Abschluss des Falls weiterhin sehen würden. Das hätte bedeutet darüber nachzudenken, was da zwischen ihnen war und ob es mehr war. Mehr als James je gefühlt hatte.
Er erinnerte sich an sein Geständnis ihr gegenüber. Er hatte sich in sie verliebt. Unfreiwillig, aber das spielte keine Rolle. Er hatte es ihr gesagt und damit war das Gefühl wirklich geworden. Er konnte nicht länger so tun, als wüsste er nicht, was Holly in ihm auslöste. Gefühle, derer er sich nicht für fähig gehalten hatte.
Vor einer Dreiviertelstunde war Holly eingeschlafen. Er hatte es daran gemerkt, das ihr Kopf gegen seine Schulter gesackt war. Nach einem kurzen Zögern hatte er sich schließlich so gesetzt, dass sie sich besser an ihn lehnen konnte. Anstatt weiter über die nächsten Schritte nachzudenken, ertappte James sich dabei, dass er sie einfach nur ansah. Ihr Gesicht wirkte vollkommen friedlich. Ihre Lippen waren im Schlaf zu einem Lächeln geschwungen und die Sonne, die zwischen grauen Wolken ab und an hervorlugte, ließ die braunen Locken glänzen. Holly war für ihn die schönste Frau, die er je gesehen hatte, obwohl das nur wenig mit ihrem Äußeren zu tun hatte. Es war ihr Herz, das ihn faszinierte und das für ihn so verdammt schwer zu ignorieren gewesen war. Dabei hätte er sich von ihr fernhalten müssen. Er hatte sie nicht noch weiter in die Sache hineinziehen wollen und jetzt hatte er genau das doch getan. Er musste darauf bauen, dass sich das nicht als Fehler für sie herausstellte, und dass ihr Vertrauen in ihn berechtigt war.
Der Schaffner verkündete endlich durch die Sprechanlage den nächsten Halt. Es war soweit.
„Holly?“
Sie schlug sofort die Augen auf und sah ihn verwirrt an.
„James. Oh Gott.“ Ihr Lächeln war umwerfend und er bemerkte, wie er es erwiderte, ohne das er darüber nachdenken musste.
„Bin ich etwa eingeschlafen?“
„Du hast den Schlaf gebraucht, Holly. Im Flugzeug hast du kaum ein Auge zu bekommen und die Nacht davor war schließlich auch alles andere als ruhig.“
„Hast du denn auch geschlafen?“
Er lächelte als Antwort und sie schüttelte den Kopf. Aber sie sagte nichts und er war ihr dankbar. Er spürte die Müdigkeit in jedem Muskel, aber er war zu angespannt, um schlafen zu können.
„Sind wir denn da?“
„Ja, der nächste Halt ist Darlington. Da müssen wir raus.“
Er stand auf, reichte ihr seine Hand, damit sie einen sicheren Halt fand. Danach half er ihr in den Mantel. Sie trugen beide Schal und eine Mütze. Beides hatten sie noch in der Flughafenhalle in Heathrow gekauft. Anfang März erwarteten sie in Leyburn im Durschnitt 5 bis 8 Grad und natürlich viel Wind und Regen. Nichts für das Miami sie ausgerüstet hätte und James bestand auf diese Ausrüstung. Eine Erkältung konnten sie sich nicht leisten. Er hatte nicht vor, sich vom Wetter aufhalten zu lassen.
Als sie aus dem Zug stiegen, stellte er das Gepäck ab und wartete, bis die Mitreisenden sich entfernt hatten. Er und Holly standen allein auf dem kleinen Bahnsteig und er schloss die Augen. Ein paar Sekunden lang genoss er den feinen Sprühregen auf seinen Wangen und den Wind, der an seinem Schal zerrte. So musste sich das Wetter anfühlen. Die Luft war, trotz ihrer Kälte, erfrischend klar. Als er die Augen wieder öffnete, sah er Holly lächeln. Sie betrachtete ihn so, dass er nicht nachfragte, was sie dachte. Es erschien ihm sicherer.
„Was jetzt?“, nahm sie es ihm ab, die Stille zu überbrücken.
„Jetzt gehen wir da vorne hin.“ Er deutete aus dem Bahnhofshaus über die Straße. „Von da fährt der Bus in Richtung Colburn ab.“
„Erinnerst du dich daran?“, wollte Holly wissen, während sie ihm hinaus folgte. Die Straße war menschenleer.
Er blieb stehen. „Nein, ich habe es im Internet recherchiert und einen Reisenden im Zug gefragt.“ Er drehte sich zu Holly um. „Willst du erst etwas essen, bevor wir weiterfahren?“
„Wie weit ist es denn noch?“
„Etwa eine halbe Stunde, dann steigen wir noch mal in einen Bus Richtung Ripon. Ich schätze, wir werden gegen halb drei in Leyburn sein.“
„Dann lass uns gleich weiter fahren. So kommen wir pünktlich zum Tee.“
Holly hatte ihnen noch in Miami ein Zimmer in einer Pension in Leyburn gebucht. Laut ihrer Auskunft lag die Pension zentral und Mrs. Millham hatte einen freundlichen Eindruck am Telefon gemacht. James war es egal, wo sie unterkamen. Er hoffte nur, dass sich der Aufwand lohnte und er fand, was er suchte.
Sie hatten Glück. Sie brauchten nur fünf Minuten warten, bevor der Bus kam und sie waren bis auf eine Familie und zwei ältere Ehepaare die einzigen Mitreisenden. Die halbe Stunde verging im Flug und schließlich stiegen sie in den letzten Bus für heute, der sie bis nach Leyburn brachte. Exakt um 14:15 stiegen sie als Einzige aus und James sah sich abwartend auf dem Marktplatz um. Er hatte nicht erwartet, sofort etwas zu erkennen, aber er war dennoch enttäuscht, dass das vertraute Gefühl ausblieb, welches er in London verspürt hatte.
„Erwarte nicht zu viel von dir. Gib dem Projekt etwas Zeit.“
„Dem Projekt?“
„Ich dachte, das klingt weniger gefährlich.“ Holly lächelte unsicher.
„In Ordnung“, beruhigte er sie. „Warum nicht. Ich schätze, es gibt Schlimmeres, als dein Projekt zu sein.“
„Mein Projekt? Ich meinte, deine Erinnerungen zu suchen, das ist dein Projekt.“
Jetzt lächelte er sie an. „Ich weiß, was du meintest, Holly.“ Er schwieg und sah sie an, bis sie leicht errötete.
„Und ich schätze, ich weiß, was du meinst.“
Zufrieden nahm er die Koffer. „Wohin müssen wir? Ich hoffe, du hast dir Mrs. Millhams Wegbeschreibung gemerkt. Es sieht nämlich nicht so aus, als könnten wir hier jemanden fragen.“
Aber das war nicht nötig. Holly hatte eine gute Wahl getroffen. Die Pension lag nahe dem Marktplatz und sie hatten sie nach nur fünf Minuten erreicht. Er folgte Holly in den Flur des Hauses. An dessen Ende stand eine Art Tresen, der nicht besetzt war. Holly klingelte mit einem altmodischen Glöckchen und ein paar Augenblicke später kam eine ältere Dame aus einem angrenzenden Zimmer heraus. Sie sah aus, als sei sie aus einem altenglischen Film entsprungen. Sie hätte hervorragend zu Aldwyn gepasst und somit war ihm die Überraschung über Mrs. Millhams weiße Haube und die gestärkte Schürze in gleicher Farbe weit weniger anzusehen, als Holly.
„Oh wie nett. Sie müssen Mr. und Mrs. Wescott sein, ja?“
Das allerdings traf ihn völlig unerwartet. Bevor er die Dame korrigieren konnte, sprang Holly ein.
„Ja, genau.“ Sie reichte Mrs. Millham die Hand, die diese erfreut schüttelte.
„Willkommen in Leyburn. Sind sie zum ersten Mal hier?“
„Ja.“ Holly erklärte, dass sie in Miami lebten, aber James Familie in Nordengland hatte. „Er hat immer so von der schönen Landschaft geschwärmt, dass ich mich nun selbst überzeugen muss.“
Mrs. Millham lächelte stolz. „Sie werden keinen schöneren Flecken Erde finden, Mrs. Wescott.“
James zuckte unwillkürlich zusammen. Der Klang von Hollys Namen mit diesem Nachnamen war so völlig falsch, dass es ihm in den Ohren wehtat.
„Kommen sie. Ich zeige ihnen erstmal ihr Zimmer. Dann bereite ich den Tee für sie zu. Kommen sie einfach herunter, wenn sie fertig sind. Das Esszimmer liegt links vom Flur.“
Mrs. Millham führte sie eine Treppe hinauf und bis zum Ende des Flurs. „Die erste Tür ist bloß eine Abstellkammer, da vorne liegt das Schlafzimmer. Das Bad ist innenliegend und ich selbst schlafe unten. Sie sind also völlig ungestört hier oben.“ Sie zwinkerte und James folgte Holly in das Zimmer. Es war klein, aber typisch englisch. Das Bett machte einen weichen Eindruck und war mit einer Tagesdecke in Rosenmuster geschmückt. Weiße Kissen mit Spitze standen frisch aufgeschlagen am Kopfende, während am Fußende ein Set weißer und hellblauer Handtücher lag, sowie ein Stück Seife. Auf der Kommode standen ein Wasserkocher, zwei Tassen und eine Schale mit Teebeuteln. Der Duft des Earl Greys war unverkennbar und verströmte seinen Bergamotte Duft im ganzen Zimmer.
Sobald Mrs. Millham sie allein gelassen hatte, sah er Holly abwartend an.
„Sie hat nur dieses Doppelzimmer“, erklärte sie. „Und Mrs. Millham wollte ihr Zimmer bloß an ein Ehepaar vermieten. Ich dachte, es sei dir egal.“
„Mit dir in einem Bett zu schlafen?“ Er brachte diese Frage viel selbstsicherer hervor, als er sich fühlte.
Seine Direktheit brachte Holly in Verlegenheit und seine Worte taten ihm augenblicklich leid. „Es ist schon in Ordnung“, gab er zu.
„Wirklich?“
„Sehen wir es als Meilenstein des Projekts.“
Holly sah ihn an und dann fing sie an zu lachen. Erst leise und dann immer lauter und schließlich konnte er sich dem nicht entziehen. Er lachte nicht, aber das Lächeln auf seinem Gesicht war so ausgeprägt, dass er es selbst deutlich spürte.
Sie packten nicht aus, das konnte warten. Stattdessen ging Holly auf die Toilette, er hing seinen Mantel ordentlich auf, und als Holly wieder zurück war, gingen sie gemeinsam hinunter, um Mrs. Millhams Einladung zum Tee zu folgen.