Читать книгу Talamadre - Mila Brenner - Страница 8

6.

Оглавление

Holly

You have no idea how much I missed you.”

Leyburn, 12.03.2017

Mrs. Millham hatte nicht übertrieben, als sie Holly am Telefon versichert hatte, dass sie ausgezeichnete Scones servierte und es für sie beide daher keinen Grund gäbe, zum Tee in ein Café zu gehen. Die Clotted Cream war so vertraut und köstlich, dass Holly noch einen zweiten Scone dick mit Clotted Cream bestrichen aß, obwohl sie längst satt war. Mit einem Lächeln stellte sie nebenbei fest, dass auch James Mrs. Millhams Backkünsten nichts entgegenzusetzen hatte. Er aß nämlich schon den dritten Scone und trank gerade die zweite Tasse Tee. Was vielleicht auch daran lag, das Mrs. Millham, die sich zu ihnen gesetzt hatte, James‘ Tasse und seinen Teller jedes Mal füllte, sobald er fertig war.

Als sie erneut zu den Scones auf der Etagere griff, erkannte Holly so etwas wie den Anflug von Panik in seinen Augen. Sie grinste ihn unverblümt an.

„Danke, Mrs. Millham, aber ich muss wirklich protestieren.“

„Ach ja?“

„Ja. Obgleich ich schon lange nicht mehr so vorzügliche gegessen habe, bin ich so satt, dass ich beim besten Willen nichts mehr essen kann.“

Sie lachte kokett. „Sie sollten abwarten, bis Sie mein Abendessen gekostet haben, Mr. Wescott. Ich bin eine ebenso gute Köchin wie Bäckerin.“

„Wenn das so ist, muss ich aufpassen, dass ich nach meinem Aufenthalt noch in meine Hosen passe.“

Sie schnalzte mit der Zunge. „Sie sind eh viel zu dünn. Die amerikanische Küche ist eben nicht gut. Das habe ich meiner Tochter auch immer gesagt.“ Sie schüttelte den Kopf. „Aber sie ist trotzdem mit einem Amerikaner durchgebrannt. Lebt nun in New York und ich sehe meine Enkelkinder bloß zu den Feiertagen.“

Sie sah traurig aus und Holly griff spontan zu der Hand der älteren Dame, die sie auf Mitte sechzig schätzte. „Das tut mir leid. Sie müssen sie sehr vermissen.“

„Das ist wahr. Maggie sagt, es gäbe Skyp oder Skype oder so etwas. Da könnte ich die Kinder über den Computer sehen. Mit einer Computerkamera.“

Holly lächelte. „Ja, das habe ich mit meinem Bruder auch so gemacht.“

Sie sah den fragenden Blick und erkannte sofort, was die ältere Frau wissen wollte.

„Meine Familie lebt in Scarborough. Ich sehe sie mehr als einmal im Jahr, aber dennoch nicht oft genug.“

„Wenn sie mich fragen, sollten sie in Miami ihre Sachen packen und zurück nach Hause kommen. Da drüben gibt es nichts, was sie hier bei uns nicht auch finden. Und der Tee ist um einiges besser.“

James lachte bei Mrs. Millhams Worten und es überraschte Holly nicht, wie losgelöst es klang. Seitdem er ihr die Wahrheit über das gesagt hatte, was ihm passiert war, wirkte er in ihrer Gegenwart ungezwungener. Ab und an geschah es noch, dass er sich hinter seine gewohnte Mauer zurückzog und Holly spürte, wie schwer es ihm fiel, den Schutz der jahrelangen Sicherheit zu verlassen. Aber er tat es. Das war es, was zählte.

„Na ja.“ Mrs. Millham stand auf. „Wenn sie fertig sind, räume ich ab und kümmere mich in der Küche um den Abwasch. Essen sie zu Abend hier?“

Fragend sah Holly zu James.

„Danke, Mrs. Millham. Wir können Ihre Kochkünste kaum ungetestet lassen.“

Sie lächelte erfreut und ließ sie beide allein. Holly wartete, bis die ältere Dame auch wirklich außer Hörweite war, bevor sie sich wieder an James wandte.

„Was machen wir jetzt?“, fragte sie geradeaus. Mit ihm hatte es wenig Sinn um den heißen Brei herumzureden. Nicht, wenn sie eine klare Antwort, statt einer Ausrede wollte.

„Als erstes solltest du deine Familie anrufen.“

„Bist du sicher?“ Holly knetete nervös die Finger. James hatte sie schon gestern gefragt, ob sie ihnen nicht Bescheid sagen wollte. Aber da hatte sie behauptet, so viel anderes zu tun zu haben, was im Augenblick wichtiger war. Mit dem Buchen der Pension, dem Packen und dem Verarbeiten dessen, was James ihr offenbart hatte, war es keine Ausrede gewesen. Selbst James hatte das eingesehen und nachgegeben. Gerade fiel Holly jedoch kein Grund ein, der gegen einen Anruf sprach. Außer ihre eigenen Angst.

„Holly.“ James lächelte sanft. „Du solltest das wirklich nicht länger hinauszögern. Es ist an der Zeit. Gib ihnen die Chance, dich in Sicherheit zu wissen. Zu hören, dass es dir gut geht. Wir können immer noch bei ihnen vorbeifahren und sie ein bis zwei Tage besuchen, wenn du das möchtest.“

„Ich weiß nicht.“ Sie seufzte. „Mit Satek und allem halte ich das für keine gute Idee. Ich möchte sie nicht in Gefahr bringen.“

„Mit mir in deiner Nähe bist du nicht in Gefahr und das gilt auch für deine Familie.“

Gestern hatte sie noch das Zögern in seiner Stimme gehört. Er hatte sogar selbst davon gesprochen, dass er sich nicht sicher war, ob es klug war, sie mitzunehmen. Immerhin durften sie nicht vergessen, dass Satek ihnen eine Falle gestellt haben könnte.

„Ich weiß, was du denkst.“

„Sieht man mir meine Gedanken so deutlich an?“

„Hätte er uns etwas tun wollen und dieser Hinweis mit Leyburn wäre eine Falle gewesen, wären wir längst tot.“

Sie wartete ab, aber er sprach nicht weiter. „Du wirkst trotzdem nicht entspannt.“

„Es könnte nach wie vor eine Falle sein. Sei es, weil ich das, was wir finden, nicht finden will und Satek sich davon Vorteile erhofft, oder sei es, weil er glaubt, an die anderen Talamadre besser heranzukommen, wenn ich nicht in Miami bin. So oder so wird es sich zeigen. Aber ich bin überzeugt, dass deiner Familie keine Gefahr droht.“

Als er ihren Blick suchte, schlich sich ein Lächeln auf die schmalen Lippen. „Schon gar nicht von einem Anruf.“

Sie schüttelte geschlagen den Kopf. „Du verstehst dich blendend darauf, die Leute um dich herum genau dahin zu bekommen, wo du sie haben willst. Ich wüsste nicht, wie ich jetzt noch nein sagen könnte.“

„Das liegt an meinen Argumenten. Du weißt, dass ich recht habe.“ Er hielt ihren Blick und es war Holly, die schließlich den Kopf wegdrehte.

„Ruf jetzt gleich an. Du kannst mein Handy nehmen. Es ist oben in meiner Jackentasche.“

„Und was ist mit dir?“

„Ich sehe mich hier ein wenig um und komme später aufs Zimmer.“

„Wollen wir heute nicht mehr gemeinsam in den Ort?“

„Nein, heute nicht mehr. Es waren zwei sehr lange Tage mit wenig Schlaf. Lass uns ein wenig ankommen, nachher zu Abend essen und früh schlafen gehen.“ Jetzt wich er ihrem Blick aus. „Das wird ...“ Er brach den Satz ab und Holly brauchte ein paar Sekunden, bis ihr klar wurde, warum.

Sie errötete. „Stört dich das mit dem Bett wirklich nicht?“

„Nun, ich würde es vorziehen auf dem Sofa zu schlafen, gäbe es das. Aber ich schätze die Alternative bleibt mir diesmal nicht.“

„Es tut mir leid, James.“

„Nicht doch.“ Er schüttelte den Kopf. „Mach dir bitte keine Gedanken. Geh nach oben, ruf deine Familie an und ich komme nach.“

Sie verstand langsam. Er wollte ein paar Minuten für sich sein. Die Eindrücke verarbeiten, vielleicht planen, wie sie weiter vorgehen sollten. Es waren seine Erinnerungen, die sie hier zu finden hofften und nicht ihre. Nur er allein konnte daher sagen, was sie als Nächstes tun mussten.

„Na schön.“ Sie stand auf. „Dann gehe ich jetzt und rufe meine Familie an.“

Sie wünschte, sie hätte die Sicherheit tatsächlich empfunden, die sie vorgab. Als sie auf ihrem Zimmer war und die Tür fest hinter sich geschlossen hatte, fühlte sie nichts mehr davon. Die Nervosität wuchs dagegen, als sie in James' Jacke nach dem Handy griff und auf die Tasten starrte.

Holly erinnerte sich daran, wie sie sich selbst geschworen hatte, nicht mehr wegzurennen und tippte schließlich doch noch entschlossen die Nummer ihres Bruders ein. Mit klopfendem Herzen lauschte sie dem Freizeichen.

Als Michael abnahm, zitterte ihre Stimme. „Michael? Ich bin es, Holly.“

Am anderen Ende der Leitung herrschte Schweigen. Sie hörte ihren Bruder einatmen. Langsam und tief.

„Es tut mir leid. So schrecklich Leid. Ich weiß, du bist wütend und enttäuscht aber bitte leg nicht auf.“ Sie holte Luft. Ihre Stimme hatte sich überschlagen, als ihr die Worte einfach so herausgerutscht waren. Sie purzelten wie Steine von ihrem Herzen. Es war am Ende doch viel einfacher, den ersten Schritt zu machen, als sie geglaubt hatte.

„Michael?“, fragte sie nach, als sie immer noch keine Reaktion hörte. Leiser. Die Unsicherheit griff wieder nach ihrem Herzen. Und die Angst. Was, wenn er ihr nicht vergeben wollte? Was, wenn James sich geirrt hatte und ihre Familie sich nicht freute, von ihr zu hören? Sie hätte es verdient gehabt, nachdem wie sie sie von sich gestoßen hatte.

„Gott sei Dank.“

„Was?“

„Ich bin so froh, dass du anrufst.“ Sie hörte ihn lachen und bei dem vertrauten Klang spürte Holly, wie sich der Knoten in ihrer Brust auflöste und Freude wie Gold durch ihren Körper floss. Leuchtend, rein und warm.

„Du freust dich?“

„Natürlich. Du ahnst nicht, welche Sorgen wir uns gemacht haben. Ich meine, ich wusste ja, dass du deine Ruhe wolltest und wir alle kennen deine Starrköpfigkeit. Die hast du von Ma. Dennoch.“ Michael schwieg jetzt wieder und atmete durch. „Es tut so gut, deine Stimme zu hören.“

Ihr entkam ein Seufzer. Tränen rannen über ihre Wangen, aber sie wischte sie nicht fort. Sie taten gut. Eine Welle der Erleichterung trug sie und gab ihr das Gefühl zu schweben.

„Also verzeihst du mir?“

„Was?“ Michael klang überrascht. Jedenfalls soweit sie das seiner Stimme entnehmen konnte. Aber anderseits war ihr Bruder immer schon offen mit seinen Gefühlen gewesen. Und er war nicht nachtragend. Trotzdem fühlte sich die Möglichkeit, dass er ihr vergeben hatte, zu verlockend an, als das Holly sie einfach so hinnehmen konnte.

„Mein unmögliches, biestiges Verhalten, als du mich besucht hast, natürlich. Ich war furchtbar und es tut mir so schrecklich leid. Auch das ich solange gebraucht habe, um es dir zu sagen. Ich hätte es viel früher tun sollen. Aber …“

„Aber?“, fragte er nach und die Zärtlichkeit in seiner Stimme ließ sie leise schluchzen. Sie schluckte das Geräusch, um Michael keinen Anlass zu geben, sich zu sorgen. Wenn sie ihren Bruder richtig einschätzte, setzte er sich sonst ins nächste Auto und kam sie holen. Wenn er das nicht sowieso tun würde. Sie war für ihn plötzlich erreichbar nah und sie konnte sich denken, dass er diese unerwartete Möglichkeit nicht einfach so vorbeiziehen lassen würde.

„Aber ich habe so lang gebraucht, bis ich zur Vernunft gekommen bin.“

„Hm“, erwiderte er, ohne das Holly seine Reaktion deuten konnte. War er enttäuscht von ihrer Antwort?

Sie wäre es gewesen. Also riss sie sich zusammen und einigte sich spontan darauf, ihm die halbe Wahrheit zu sagen. So viel wie sie eben konnte.

„Es ist schwer zu erklären, Michael. Ich bin mir nicht sicher, ob es nicht noch viel schwieriger ist, das zu verstehen, was in den letzten Wochen mit mir los war. Irgendwie war ich in einer Welt gefangen, die nichts mit der Realität zu tun hatte. Manchmal durchlebe ich einfach immer wieder das, was in Ägypten passiert ist. Dann wieder gab es Tage, da habe ich dagesessen und an gar nichts gedacht. Bloß vor mich hingestarrt. Es war ein Existieren in einer Blase. Die Realität drang gar nicht zu mir durch und ich würde gerne behaupten, es sei anders gewesen, aber an euch habe ich in dieser Zeit überhaupt nicht gedacht. Es war als hätte es euch nicht gegeben. Als sei ich ganz allein. Da und doch auch weit weg. So weit weg.“

Diese Notlüge kam ihr stolpernd über die Lippen. Sie konnte Michael nicht den wahren Grund nennen, weswegen sie unendlich oft an ihre Familie gedacht, sich aber nie getraut hatte, sie anzurufen. Besser also, er glaubte ihr, dass sie zu sehr mit sich selbst beschäftigt gewesen war. So weit weg von der Wahrheit war das auch wieder nicht.

„Das hört sich furchtbar an, Holly.“ Aufrichtige Sorge klang in seiner Stimme. „Du klingst, als ginge es dir besser. Geht es dir besser?“

Sie lächelte. Die Tränen waren getrocknet und die Haut im Gesicht spannte. Sie rieb sich mit der freien Hand über die Wangen. „Ja. Es geht mir besser, Michael. Wirklich“, setzte sie hinterher und weil es stimmte, hörte sie sich auch überzeugt an.

„Ich bin froh. Sehr froh, Schwesterherz. Du glaubst nicht wie viele Sorgen ich mir gemacht habe. Carol natürlich auch.“

„Und Ma und Dad?“, fragte sie vorsichtig. Sie fürchtete sich vor der Antwort. Wie Michael richtig angemerkt hatte, konnte ihre Mutter unglaublich stur sein. Wenn sie beschlossen hatte, wütend auf sie zu sein, würde Holly ihre Meinung nur schwer ändern können. Aber wahrscheinlich hätte sie es auch nicht verdient, dass ihre Familie es ihr all zu leicht machte.

„Du kennst die beiden doch. Was glaubst du, wie sie reagiert haben, nachdem ich vor Weihnachten allein zurückkam? Ohne dich und früher als versprochen.“

„Sie müssen sehr wütend gewesen sein, oder?“, versuchte sie es zögernd. Allzu genau wollte sie es sich eigentlich gar nicht vorstellen.

„Natürlich waren sie das. Nur nicht auf dich, sondern auf mich.“

„Oh“, kommentierte sie kleinlaut, was sie hätte wissen müssen.

„Ich erinnere mich, dass Ma behauptet hat, ich hätte zu leicht aufgegeben. Sie wäre nicht ohne dich zurückgekommen. Selbst wenn sie dich an den Haaren hätte herbeiziehen müssen.“

Der Humor in seiner Stimme konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass Michael immer noch verletzt davon war, was seine Eltern ihm alles an den Kopf geworfen haben mussten. Wegen ihr.

„Michael“, sie seufzte. „Es tut mir leid. Ma konnte nicht wissen, wie schlecht es mir wirklich ging.“

„Das Gegenteil war der Fall. Sie wusste es ganz genau und deswegen war sie auch so wütend. Wenn es ihr besser gegangen wäre, wäre sie vermutlich wirklich bei dir aufgekreuzt und hätte dich hergebracht.“

Ihre Mutter war eine gut aussehende, zierliche und elegante Frau. Die Geburt ihrer beiden Kinder war spurlos an ihr vorbeigegangen und wenn die Sprache darauf kam, gab Danielle vor, es läge an ihren französischen Wurzeln. Was immer es war, ihre Mutter sah mit mitte fünfzig noch immer zehn Jahre jünger aus. Holly erinnerte sich daran, das ihr Vater gerne darüber scherzte, was für ein glücklicher Zufall es sei, dass seine Frau auf langweilige Historiker und intelligente Brillen stände. Andernfalls hätte ein unscheinbarer Mann wie er nie eine Chance bei ihr gehabt. Dabei untertrieb er. Ihr Vater war eine eindrucksvolle Gestalt. Nicht unbedingt, weil er gut aussah, wobei er Danielles Meinung nach gut genug aussah. Es war sein Charisma und die Art, wie ihr Vater redete, die andere in dem Bann schlug. Seine ruhige, melodiöse Stimme. Der Witz in den Augen, der ihm einen ganz eigenen Charme verlieh. Außerdem behauptete ihre Mutter immer, niemand könne so perfekt englischen Tee kochen, wie er. Lady Grey war die große Schwäche ihrer Mutter. Lady Grey und süße Nascherei. Ihre Mutter liebte das Backen und Holly konnte sich an keinen einzigen Tag erinnern, an dem sie nicht irgendeine Köstlichkeit hervorgezaubert hatte. Dabei probierte sie sämtliche Rezepte der englischen Traditionsküche aus, sowie moderne Rezepte, eigene Kreationen und natürlich war auch die Heimatküche Frankreichs nicht vor ihr sicher. Als Holly noch zur Schule gegangen war, hatte das unglaublich zu ihrer Beliebtheit beigetragen. Hollys Freundinnen rissen sich darum, mit zu ihr nach Hause zu dürfen. Dort gab es immer etwas zu naschen und ihre Mutter hatte nie damit gegeizt. Wichtig war ihr, dass ausreichend Sport betrieben wurde. Lange Spaziergänge und nicht zu vergessen die Ertüchtigung im Garten. Denn Danielles Rosen waren mindestens so berühmt wie ihre Backfähigkeiten. Als man Anfang letzten Jahres Diabetes bei Danielle diagnostiziert hatte, hatte sie sich geweigert ihren Genuss aufzugeben. Trotz ihrer Spritzen und strengen Kontrollen, war ihr Zuckerwert oft zu hoch und sie wurde schon mehr als einmal wegen Brechreiz und Ohnmachtsanfällen, ins Krankenhaus eingeliefert. Überhaupt hatten die Ärzte die Krankheit nur erkannt, weil sie aufgrund der Überzuckerung Herzrasen hatte und Hollys Vater damals befürchtet hatte, sie hätte einen Herzinfarkt. Doch egal wie sehr alle auf sie einredeten und sie ermahnten, die Anweisungen der Ärzte zu befolgen, ihre Mutter hielt sich an ihre eigenen Regeln und ließ sich von niemanden reinreden.

„Wie geht es ihr denn?“, fragte Holly vorsichtig, als Michael nicht von sich aus weiter auf die Gesundheit ihrer Mutter einging.

„Um Weihnachten herum war es ziemlich schlimm. Sie hat Plätzchen gebacken, als wollte sie eine ganze Konditorei beliefern. Und wohl auch viel zu viele davon selbst gegessen. Sie haben sie zwei Wochen im Krankenhaus behalten. Im Januar war sie dann vorbildlich brav, was wohl auch daran lag, das Dad sich freigenommen hat und sie wie ein Jagdhund in der Küche verfolgte. Aber vor zwei Wochen hatte sie wieder einen Rückfall. Sie haben sie dieses Mal schon nach einer Woche entlassen, aber wenn sie so weitermacht, riskiert sie noch ihre Gesundheit.“

Was Michael nicht aussprach, aber meinte, war, dass ihre Mutter mit ihrem Leben spielte. Holly wusste, dass das Unsinn war und doch konnte sie das Schuldgefühl nicht verhindern, das in ihr aufstieg. Sie hatte bestimmt nicht dazu beigetragen, es ihrer Ma einfacher zu machen. Bei den Sorgen, die sie Hollys wegen gehabt hatte, war es nur natürlich, dass sie sich ins Backen und ins anschließende Essen geflüchtet hatte.

„Mach dir keine Gedanken.“ Michael hatte erraten, was ihr durch den Kopf ging.

„Das lässt sich so einfach sagen. Natürlich mache ich mir Gedanken. Und um ehrlich zu sein, bin ich überrascht, dass du mir keine Vorwürfe machst. Ich könnte es verstehen.“

„Ma ist alt genug und wie gesagt sturer als jeder andere Mensch, den ich kenne.“

„Sturer als die alte Ms. Cavanagh?“ Sie war eine alleinlebende Künstlerin, die in ihrem kleinen Cottage am Stadtrand von Scarborough lebte und als Holly ein junges Mädchen gewesen war, galt es als beliebte Mutprobe der armen, verrückten Ms. Cavanagh ein paar Blume aus der hübschen Wildnis von Garten zu klauen. Seit Jahren hatte der Pfarrer der Gemeinde versucht sie dazu zu bewegen, sich mehr einzugliedern, sich ab und an helfen zu lassen und in die Kirche zu kommen. Aber Ms. Cavanagh wollte davon nichts wissen.

„Ma ist sturer als zwei von ihrer Sorte, glaub mir, Holly. Ich will nicht behaupten, dass es die Dinge vereinfacht hätte, wenn du Weihnachten mit mir gekommen wärst. Aber sie glauben, es geht dir gut. Ich habe ihnen erzählt, dass du deine Erlebnisse wie eine echte Reiterin trägst. Da sagt man doch, wenn man vom Pferd fällt, sei es wichtig, schnell wieder zurück in den Sattel zu steigen.“

„Hast du das von Carol?“ Hollys Schwägerin war jahrelang Springreiterin gewesen, mittlerweile ritt sie nur noch aus Spaß und Freude und hatte die Wettkämpfe gegen ihre neue Rolle als Hausfrau und Mutter eingetauscht. Parallel machte sie einen Reitlehrerschein. Sie träumte von einem eigenen kleinen Stall, aber dagegen hatte Michael sich bisher erfolgreich gewehrt. Wer wusste, was in einem oder zwei Jahren sein würde. Holly kannte Carol als eine Frau, der es nur all zu leicht fiel, ihren Mann herumzubekommen. Allerdings auf eine liebenswerte Art.

„Carol sagt das ständig. Vor allem, wenn sie versucht mich zum Reiten zu überreden.“

„Aber den Gefallen hast du ihr bisher nicht getan, oder?“

„Nein. Aber ich vermute diesen Sommer wird sie es so lang versuchen, bis ich doch nach nachgebe.“ Er lachte und sie wartete ein paar Sekunden; genoss das Lachen, was sie wie eine warme Decke einhüllte und ein Schauer schöner Erinnerungen flutete sie.

Nachdem die Steine von ihrer Brust gepurzelt waren, fiel es ihr leichter mit Michael zu reden. Es war so vertraut und er war so gut darin, sie alles andere vergessen zu lassen. Er hatte ihr vergeben und das rührte und wärmte sie so sehr, dass Holly sogar für den Moment vergaß, warum sie wirklich hier war und was für Probleme sie noch immer verfolgten. Von denen sie ihm auf keinen Fall erzählen durfte und was für Geheimnisse und Lügen somit schon wieder zwischen ihnen stehen würden, sobald das Thema sich heiklem Terrain näherte.

„Es tut so gut mit dir zu reden. Ich bereue es, das nicht viel eher getan zu haben, Michael.“

„Hauptsache ist doch, dass du es jetzt getan hast. Und das es dir besser geht.“

„Also, was hast du ihnen erzählt?“, lenkte Holly ab, damit das Gespräch nicht allzu schnell wieder auf das Thema kam, was sie so lang wie möglich vermeiden wollte.

„Das du dich zurück in die Arbeit gestürzt hast. Das du wieder auf Ausgrabungen bist und dich meldest, sobald du Zeit hast. Sie wüssten doch wie du seiest und das Wichtigste sei, dass du okay bist.“

„Das hast du ihnen gesagt?“

„Ja“, er seufzte. „Ich habe mich wirklich mies gefühlt, weil ich genau wusste, dass du alles andere als okay warst, als ich zurückflog.“

„Warum hast du es dann trotzdem getan?“

„Weil ich dich kenne und weil ich dir vertraue. Ich wusste, du würdest dich da rausziehen und dann von selbst zu uns kommen. Wenn du bereit dazu bist. Zugegeben, die letzte Zeit habe ich mich oft gefragt, ob es richtig so war, aber jetzt zeigt sich, dass ich mich nicht getäuscht habe. Du warst immer schon stärker, als du aussiehst.“

„Ich habe mich ja auch als einziges Mädchen aus der Nachbarschaft getraut, Wildblumen bei Ms. Cavanagh zu klauen.“

„Du warst ja so mutig“, scherzte Michael und brachte sie zum Lachen. „Und eine kleine Diebin. Unglaublich wie verdorben du bereits mit neun warst.“

„Zehn“, korrigierte Holly.

„Noch schlimmer“, konterte Michael und eine Weile setzten sie dieses Spiel fort. Dann wurde Holly bewusst, dass sie ihn die ganze Zeit von James Handy aus anrief. Ein schlechtes Gewissen brachte sie dazu, das Gespräch abzubrechen. Michael spürte es sofort.

„Wirst du dich bei Ma und Dad melden?“

„Eventuell komme ich die Tage zu Besuch“, wich sie aus.

„Wirklich?“ Michael klang so begeistert, dass sie es bereute, das so voreilig und ohne nachzudenken, von sich gegeben zu haben.

„Ich versuche es“, versprach sie schließlich. Sie hatten es verdient und wenn Holly ehrlich war, wünschte sie sich nichts sehnlicher, als sie in die Arme nehmen zu können. Solange James ihr versprach, dass es sicher war, würde sie ihm glauben.

„Ich rufe dich noch mal an, aber jetzt muss ich erst mal Schluss machen.“

„Okay, gut. Pass auf dich auf, Schwesterchen und ändere deine Meinung nicht wieder. Andrew möchte seine Tante gern kennenlernen.“

„Und ich ihn“, erwiderte sie ehrlich. Sie hatte schon so viel verpasst.

„Okay. Dann bis bald.“

„Ja, bis bald.“

Holly legte auf und hoffte von Herzen, dass sie ihr Versprechen würde halten können.

Talamadre

Подняться наверх