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3.

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Gerry

Hope is a fragile little thing. But if it is the only thing you have left it grows into something strong and big.”

Miami, 11.03.2017

Es lag eine unangenehme Ruhe im Raum. Als wäre etwas Schlimmes passiert. Rhylee sah aus, als schliefe sie. Sie hatte keinerlei sichtbare Wunden oder Verbände. Außer dem Sauerstoffschlauch, der von ihrer Nase wegführte, hatte Scott ihr eine Infusion gelegt. Einige tragbare, medizinische Geräte standen auf dem Nachttisch und kontrollierten die Sauerstoffzufuhr, den Herzschlag und den Puls.

Gerry fühlte sich so deplatziert, dass es ihn erschlug. Es war immer wieder so, als sähe er sie zum ersten Mal in dem viel zu großen Bett liegen. Der Gedanke, wie verloren sie wirkte, wie zerbrechlich, löste einen solch tiefen Schmerz in ihm aus, dass er sich unbewusst über die Brust fuhr. Schließlich riss ein holpriger Alarm ihn aus der Starre und nach Sekunden setzte das rhythmische Piepsen wieder ein, das zu einer Melodie geworden war, an der sein Leben hing. Solange ihr Herz schlug, gab es Hoffnung. Das versuchte er sich zu sagen und es war das einzige, was ihn vom Aufgeben abhielt.

Er verbrachte jede Minute an Rhylees Bett. Nur, wenn der Doc ihre Gehirnfunktion überprüfte und ein paar seiner regelmäßigen Tests durchführte, verließ Gerry das Zimmer. Meistens stand einer seiner Freunde vor der Tür und nahm ihn mit. Sie überredeten ihn zu essen. Sie überredeten ihn zu schlafen. Er tat manchmal, was sie wollten, weil er zu erschöpft war, um mit ihnen zu diskutieren. Aber länger als zwei Stunden hielt keiner ihn von Rhylee fern. Sollte er hungrig sein, merkte er es nicht, und wenn er schlafen musste, nickte er eben auf dem Stuhl ein. Das störte ihn nicht. Für solche Bedürfnisse war kein Platz. Alles wurde von der nagenden Angst verdrängt, sie zu verlieren. Sie durfte ihn nicht verlassen! Nicht so. Da war noch so viel, was er ihr sagen wollte.

Es klopfte an der Tür, aber Gerry reagierte nicht darauf. Ein paar Sekunden später kam Emily herein. Sie trug zwei Becher in den Händen, von denen sie ihm einen reichte. Er versuchte dankbar zu nicken, doch ein Lächeln brachte er nicht zustande.

„Daniel meinte, ich sollte dir einen Tee bringen.“ Sie sah ihn an. „Ich dachte mir, dir wäre ein schwarzer Kaffee lieber.“ Sie lächelte leicht, ohne dass es ihn überzeugte. Ihre Augen waren ein Echo seiner eigenen Gefühle.

Er musste sich abwenden. „Kaffee ist schon okay“, brummte er und schlürfte an dem Becher. Es war so, als reagiere sein Körper im Autopilot-Modus. Er dachte gar nicht über das nach, was er tat. Für einen Augenblick schmeckte Gerry die bittere Note des schwarzen Kaffees, dann war auch das Gefühl in der Leere verschwunden, die ihn erfüllte. Alles löste sich in der tiefen Schwärze in seinem Inneren in Nichts auf.

Rhylees beste Freundin blieb und setzte sich auf das Fenstersims. „Hat Scott gesagt, wie es ihr geht?“

Er schüttelte den Kopf. Trotzdem er mit keinem reden wollte, kam ihm die Möglichkeit mit Emily zu sprechen im Augenblick wie ein Anker vor. Jede Stunde, die verging, ohne dass es Rhylee besser ging, verlor er sich mehr in Hoffnungslosigkeit.

„Nichts Genaues.“ Er verschränkte die Arme vor dem Oberkörper. „Scott meint, wir müssen abwarten, dass sie aufwacht. Er tut, was er kann, um sie dabei zu unterstützen.“

„Aha.“ Emily seufzte. „Ich dachte immer, ich sei ein sehr geduldiger Mensch, aber ich befürchte Weihnachtsgeschenke auszupacken und das hier ist nicht das gleiche.“

Er lachte gezwungen über ihren Vergleich. Ihre Stimme klang als plaudere sie mit ihm an einem sonnigen Nachmittag auf dem Balkon, während sie darauf wartete das Rhylee fertig wurde, damit sie beide zu einer Shoppingtour durch London aufbrechen konnten. Leider war es nicht so und das Bild entsprang bloß seiner Erinnerung.

„Es ist so lächerlich. Das letzte Mal, als Rhylee und ich privat miteinander gesprochen haben, den Streit den wir hatten“, sie brach ab und seufzte wieder. „Ich weiß nicht mal mehr was ich alles gesagt habe, außer dass sie verkorkst sei.“

Er sah sie ungläubig an und erkannte, den Anflug eines Lächelns in Emilys Augen.

„Das scheint mit einmal so bedeutungslos. Damals dachte ich, es sei wichtig, ihr das zu sagen, damit sie aufhört, sich das anzutun. Dieses Versteckspiel und Weglaufen vor dem Leben. Jetzt kann ich nur daran denken, was ich ihr nicht gesagt habe, weil ich annahm, es sei offensichtlich.“

Als sie danach schwieg, fühlte Gerry sich gezwungen, nachzufragen. Er hatte längst erkannt, dass Emily nicht seinetwegen hier war, sondern weil sie jemanden zum Reden brauchte.

„Was hast du ihr nicht gesagt, was du hättest sagen sollen?“

Sie sah ihm in die Augen. „Na das gleiche, was du hättest sagen sollen.“ Ihr Blick war ernst. „Wenn es denn wahr ist.“

Gerry wusste, was sie meinte. Natürlich wusste er es. Er entschied sich dennoch dafür, es zu überhören. Es änderte jetzt nichts mehr. Also zuckte er mit den Achseln.

„Versuch nicht, mich für blöd zu verkaufen, Gerry. Du weißt genau, wovon ich spreche. Wir haben beide total versagt, wenn du mich fragst. Rhylee hat Besseres verdient. Eine bessere Freundin, als ich es war und auf jeden Fall einen netteren Mann als dich.“

Er hatte nichts dagegen, dass sie ihn verletzte. Er hatte es ohne Frage verdient. Seine Fehler waren nicht wieder gut zu machen.

„Es ist eine Sache, Rhylee zu sagen, dass sie aufhören muss, vor dem Leben wegzulaufen, aber eine ganz andere, nicht für sie da zu sein.“

„Du warst für sie da.“ Ihm fehlte die Bestimmtheit in der Stimme. Aber sein Blick war ehrlich. Er hielt Emily mit seinen Augen fest. „Ich erinnere mich daran, wie oft du da warst und versuchst hast, sie zu überzeugen mit dir shoppen zu gehen, nur um sie aus der Wohnung zu locken. Du hast alles getan, was du tun konntest.“

„Nein, das habe ich nicht, Gerry.“ Sie seufzte. „Hätte ich das, wäre es nie so weit gekommen.“

„Sie hat nicht zugelassen, dass jemand ihr hilft.“

Emilys Blick traf ihn und er hob die Hände. „Ich weiß selbst, dass ich Mist gebaut habe und ich suche nicht nach einer Entschuldigung, glaub mir Em. Aber es ist die Wahrheit. Wir haben beide unser Bestes versucht, doch sie hat es einfach nicht zugelassen, dass ihr jemand nah kommt. Sie hat sich vor uns allen verschanzt.“

Die Erinnerung war sofort da. Es lag nicht daran, dass er kurz davor war, sie endgültig zu verlieren. Das Gefühl, wie sie ihm entglitten war, jeden Tag ein bisschen mehr; wie sie durch ihn durchgesehen hatte und von einer Fremden zu einer durchsichtigen Hülle geworden war; begleitete ihn ständig. Die Angst, die Hilflosigkeit, und die Wut auf sie und sich selbst saßen unter seiner Haut und verfolgten ihn bei allem, was er tat. Er war nur sehr gut darin geworden, es nicht zu sehen.

„Mag sein. Trotzdem hätte ich ihr nach unserem Streit sagen sollen, wie wichtig sie mir ist.“ Emily lächelte und als er erkannte, wie traurig ihre Augen wirkten, wandte er den Blick auf die fliederfarbene Bettdecke, die Rhylees zierlichen Körper unter sich begrub.

„Sie ist meine beste und meine einzige Freundin.“

„Nun übertreibst du.“ Er versuchte witzig zu sein und scheiterte kläglich.

„Du weißt, dass ich nicht übertreibe.“

„Und ob. Du hast mich, Daniel, Will und Elise. Und natürlich hast du Matty.“

„Du und Daniel, ihr seid Kerle und nicht meine beste Freundin. Will und Elise sind zu jung und sowieso ein Fall für sich.“

„Und Matty? Was ist mit dem?“

„Der ist mein Bruder.“

Matthew war nicht Emilys richtiger Bruder, aber beide verhielten sich, als seien sie eineiige Zwillinge. Emily hatte ihre Eltern bei einem Autounfall verloren, den sie nur dank ihrer Fähigkeiten überlebt hatte. Matt war in den ärmsten Londoner Kreisen groß geworden, hatte verschiedene Pflegefamilien durchlaufen, nachdem er und seine Geschwister seinen Eltern weggenommen worden waren. Er redete nicht über das warum, oder darüber, was er erlebt hatte. Die beiden begegneten sich vor 6 Jahren bei den Talamadre, als sie nichts mehr in der Welt hatten außer sich selbst. Emily war gerade 20 geworden und Matty erst 18. Die beiden hatten den Kummer und Schmerz des Anderen erkannt und waren seitdem zu einer untrennbaren Einheit verschmolzen.

Es vergingen ein paar Minuten, in denen Emily schwieg und ob bewusst oder unbewusst mit ihren geistigen Fähigkeiten den halbleeren Pappbecher von rechts nach links bewegte.

„Vielleicht hast du recht“, gestand er und wurde mit einem belustigten Schnauben belohnt.

„Natürlich habe ich Recht. Tante Emily hat immer Recht. Das weißt du doch, Gerry.“

Er nickte. Es machte keinen Sinn darüber zu diskutieren. Schon seit Jahren hatte Tante Emily ihren Ruf als besonders gute Ratgeberin in ihrer Gruppe. Die meisten hörten auf sie und taten gut daran. Sie war eine Beziehungsexpertin. Warum es Gerry auch nicht einleuchtete, weshalb sie ihr eigenes Liebesleben nicht auf die Reihe bekam und statt mit Daniel mit diesem Langweiler Craig verlobt war. Ein Buchhalter, der von Emilys eigentlichem Leben keine Ahnung hatte und glaubte seine Verlobte verkaufe Kosmetik und war als Selbstständige ständig auf Messen oder Vertriebsterminen.

„Liebst du sie noch, Gerry?“

Die Frage traf ihn unerwartet und das ironische Seufzen, das über seine Lippen kam, galt ihm selbst. Es war ein Fehler Emily zu unterschätzen. Sie war eine der tödlichsten Mitglieder ihres Teams. Eine Waffe auf zwei Beinen, die mit Matt zusammen keinen Auftrag scheute. Wenn anderen vor Angst die Knie schlotterten und sie zögerten, rannten die Zwei mit Begeisterung voraus. Nur weil sie klein war und hübsch aussah, war sie keinesfalls wehrlos. Den Fehler, sie zu unterschätzen, bereute man fast immer.

Er bereute es nicht, aber er hätte ahnen sollen, dass Rhylees Freundin von Anfang an auf diese Frage hinausgewollt hatte.

„Ich weiß es nicht. Es gibt so viel zwischen uns, was unausgesprochen ist.“

„Das ist keine Antwort. Liebst du sie? Ja oder nein?“

Er lachte getroffen. Emilys pragmatische Art trieb ihn in den Wahnsinn. Sie würde perfekt zu Daniel passen. Der fragte ihn das auch ständig. Ihm hatte Gerry schon tausend Mal erklärt, warum das keine einfache Frage war, egal wie einfach Daniel sie formulierte.

„Das ist nicht so einfach, Em.“ Er sah ihre blitzenden Augen und erwiderte ihren Blick. „Sag du es mir! Was denkt Tante Emily dazu?“ Abwartend verschränkte er die Arme.

„Ich werde dir verraten, was ich weiß. Alles, womit Tante Emily sich auskennt.“ Sie sah ihn an, als wolle sie sichergehen, dass er ihr zuhörte.

„Es gibt Frauen, die nach deinem Seitensprung Folgendes getan hätten. Sie hätten herausgefunden, wer sie war und erst die Schlampe und dann dich umgebracht.“

Sie lächelte auf diese ‚Lass es uns machen, mir gefällt der Plan, Matty’ - Art, die so unernst es wirkte, trotzdem gefährlich ernst zu nehmen war.

„Dann gibt es die Frauen, die nicht wie ich sind und wenigstens wütend genug wären, um dir das Leben zur Hölle zu machen.“

Sie sah zu Rhylee und seufzte. „Tja und dann gibt es die eine Frau, Gerry, die dich liebt und dich nur deshalb verlässt, weil du sie unendlich verletzt hast. Aber im Grunde macht sie nichts anderes, als darauf zu warten, dass du zurückkommst und euch eine zweite Chance gibst.“

Er war ihrem Blick schuldbewusst gefolgt. Diese eine Frau, die ihn liebte, lag reglos im Bett und er erhielt vielleicht nie mehr die Chance, sich bei ihr zu entschuldigen.

„Sie ist die ‚Eine’, die man nur einmal findet und von der man tief im Herzen immer glaubt, sie nicht verdient zu haben. Das weißt du doch, Gerry.“

Er schwieg. Der Kloß in seiner Kehle war zu groß, das Wasser sammelte sich in seinen blauen Augen und er kämpfte dagegen an, dass ihm Tränen über die Wange liefen. Natürlich wusste er, was Emily meinte. Rhylee war immer die 'Eine' für ihn gewesen. Schon als er sie zum ersten Mal gesehen hatte. Statt Jeremys Fallbesprechung zuzuhören, hatte er sich gefragt, wie er es am besten anstellte, dass sie mit ihm ausging.

„Wenn du sie nicht mehr liebst, Gerry, oder wenn du angefangen hast, ein neues Leben zu beginnen, bei dem du deine Depressionen nicht mehr nur mit Schwarztee, sondern schwarzem Kaffee ohne Zucker runterspülen musst, dann hättest du es ihr sagen sollen.“

„Was?“, entkam es ihm verdutzt. Wie war Emily von seiner großen Liebe zur endgültigen Trennung gekommen? Außerdem hatte er keine Depressionen.

„Wenn du sie nicht mehr liebst, musst du ihr das sagen und sie gehen lassen.“ Emily sah ihm in die Augen. „Aber wenn sie immer noch die 'Eine' für dich ist, wäre Schweigen noch schlimmer. Du darfst nicht länger weglaufen und so tun, als gäbe es sie nicht, obwohl du sowieso nur an sie denkst. Ihr geht es doch auch so. Sie liebt dich so sehr, dass sie dich nicht loslassen kann, obwohl sie denkt, dass du längst weitergegangen bist. Wie es Paare, die sich trennen, normalerweise auch tun.“

Der Hieb saß. Doch er hatte ihn verdient, weswegen er sich nicht verteidigte. Stattdessen holt er tief Luft. „Ich dachte, es wäre vorbei. Sie ist damals gegangen“, gestand er ehrlich. „Das war sehr deutlich.“

Er hielt sich für Sekunden an der blonden Strähne fest, die Rhylee in der Stirn lag. Er liebte es, wenn ihr Haar das tat. Einfach nicht da sein, wo es hingehörte.

„Und es war ihr Recht. Ich hätte nicht gedacht, dass sie mich nach all dem noch lieben könnte. Was ich getan habe, ist nicht zu entschuldigen.“

Er hatte sie nicht mit Absicht betrogen. Ihre Zurückweisungen hatte ihn dazu getrieben. Trotzdem hätte er es niemals soweit kommen lassen dürfen. Niemals.

„Weißt du Gerry, wenn du mich fragst, dann sehe ich das Ganze so. Rhylee gibt sich die Schuld an dem, was bei dem Ritual damals passiert ist. Wahrscheinlich gibt sie sich für deinen Seitensprung ebenfalls die Schuld. So ist sie eben.“

Sie stand auf und ging zu Rhylees Bett. „Du gibst dir natürlich auch die Schuld daran, sie betrogen zu haben. Was auch gut so ist. Außerdem denkst du, genau wie sie, dass es deine Schuld ist, dass sie das Baby verloren hat und du nicht da warst, um es zu verhindern. Völlig verrückt, irrational und dumm, wenn du mich fragst, aber leider auch absolut menschlich.“ Sie seufzte ernst. „Und in all der ‚blaming ourself’- Stimmung sind es eure besten Freunde, die merken, dass ihr beide euch immer noch liebt und nur zu ängstlich seid, einfach den ersten Schritt zu gehen. Damit treibt ihr nicht nur euch, sondern auch die Freunde in ‚Schwarzer Kaffee ohne Zucker’ - Depressionen.“

Ach so …

Sie deutete auf ihren leeren Becher, der allein auf der Fensterbank stand, und trug dabei ein wenig begeistertes Lächeln in den Zügen. „Kannst du dir vorstellen, was Tante Emily dazu sagt, Gerry?“

„Nein …“ Er lächelte zögernd. Kaffeedepressionen hatte er nicht verbreiten wollen. Auch wenn es ihm bis zu diesem Moment egal gewesen war, ob sein kaputtes Leben auch andere betraf. „Aber, wie wär’s Tante Emily sagt es mir?“

„Na ja, Tante Emily sagt dazu nur so viel wie: Sag ihr endlich, dass du sie zurückwillst, Gerry. Das du bereit bist, alles zu tun, damit sie dir wieder vertraut und das zwischen euch wieder funktioniert.“ Sie strich über Rhylees Hand und ihre Augen ruhten auf dem schlafenden Gesicht ihrer Freundin. „Wir haben tagtäglich mit Magie zu tun und mit Dingen, die andere für Märchen halten. Aber euch beide zusammen zu sehen, war echte Magie.“ Sie sah nun zu ihm und ihre Blicke trafen sich. „Ihr beide zusammen, das war echt. Und ihr habt damit alle um euch herum neidisch gemacht und gleichzeitig wart ihr sowas, wie unsere Versicherung. Die Hoffnung, dass es sich lohnt, durch all den Liebesmist im Leben zu gehen, weil es tatsächlich möglich ist, zu finden, was ihr hattet.“ Sie verkniff das Gesicht. „Was ihr habt. Wieder haben könnt. Wenn du aufhörst, Zeit zu vergeuden und endlich tust, was du schon vor Wochen hättest tun sollen. Rhylee weiß nicht, wie das geht. Sie ist viel zu still, zu schüchtern ... zu brav. Du aber weißt, wie man gegen etwas kämpft. Nutze das und kämpfe nicht gegen, sondern um sie. Kämpfe für euch.“

„Okay, okay.“ Er lächelte. „Ich habe es verstanden, denke ich.“

„Dann fang gleich damit an.“

„Womit?“

„Das weißt du hoffentlich selbst.“

Er hatte Angst vor der Hoffnung in seiner Brust. Vor den Möglichkeiten, die sich durch Emilys Worte ergaben, die aber von dem Piepsen des Monitors, der immer wieder unregelmäßig aussetzte und Alarm schlug, bedroht wurden.

„Was, wenn es zu spät ist, Em?“, fragte er leise. Er traute sich nicht, den Blick zu heben und sie anzusehen. Er wusste ja nicht einmal, ob er darauf wirklich eine Antwort wollte.

Bevor sie ihm trotzdem eine hätte geben können, klopfte es und Scott kam um die Ecke des kleinen Flurs. Er sah von Emily zu Gerry.

„Ich möchte nach Rhylee sehen.“ Gerry stand auf. Scott musste nichts mehr sagen. Es war für sie beide zur Routine geworden, dass er den Arzt für die Untersuchungen mit Rhylee allein ließ. Sie so zu sehen, war schon schlimm, er wollte nicht mit ansehen müssen, wie sie auf Scotts Versuche, sie aufzuwecken, kein bisschen reagierte. Es hätte den Funken Hoffnung in ihm viel zu leicht erstickt und der war gerade alles, was er noch besaß.

Emily begleitete ihn aus dem Zimmer. Als sie bemerkte, dass er vor der Tür stehen blieb und sich an die Wand lehnte, hob sie fragend eine Augenbraue.

„Was machst du da?“

„Nach was sieht es aus?“, konterte er. Seine Gefühle purzelten ungefiltert über seine Lippen, weil der Verstand nicht die Kraft hatte, etwas dagegen zu unternehmen.

Emily stemmte die Hände in die Hüften. „Hör auf, mich für dumm zu verkaufen, Gerry. Natürlich weiß ich, was das werden soll. Aber dir ist klar, dass du damit bei mir nicht durchkommst.“

„Ach so?“

„Komm schon.“

„Em ...“

„Fang gar nicht erst an zu diskutieren. Du musst mal was essen, Gerry. Außerdem sind die anderen auch alle unten und würden sich freuen, dich zu sehen.“

Das bezweifelte er. Wenn er solch miese Laune hatte, gingen ihm seine Freunde aus dem Weg. Es war unter seinen Kollegen bekannt, wie emotional Gerry sein konnte und das es ihm als Wassermagier schwerer fiel, seine Emotionen für sich zu behalten. Es kam nicht selten vor, dass er sich mit Daniel prügelte, wenn er wütend war. Gerade war Gerry jedoch nicht wütend, sondern ... verzweifelt. Und er hatte weder die Kraft, noch die Lust, es zu verheimlichen. Er wollte aber nicht bemitleidet werden und schon gar nicht die endlosen Fragen von Will und Elise beantworten, die es gut meinten und ihn damit trotzdem in den Wahnsinn trieben.

Emily bemerkte sein Zögern natürlich.

„Jetzt mach dir mal keine Sorgen wegen den beiden.“

„Ist das so offensichtlich?“

„Na du weichst bestimmt nicht Daniel oder Matty aus.“

Er erwiderte ihr Lächeln schwach. Wenn er nachdachte, war es wirklich offensichtlich.

„Kümmere du dich darum, dass du was isst und mal einen Moment an was anderes denkst. Daniel und ich kümmern uns um den Rest.“

„Danke, Em.“

„Dafür nicht.“

Sie ging weiter und diesmal folgte er ihr in den Raum, in dem sie zum Essen zusammen kamen. Für einen Speisesaal war er zu klein, für ein Esszimmer zu groß. Lucas Austen fand ihn prächtig und während Emily sich bloß fürs Buffet interessierte, steuerte Gerry auf den Tisch zu, um den seine Freunde verteilt saßen. Sie hatten aufgehört zu essen und er fühlte ihre besorgten Blicke auf sich, als er den Stuhl neben Daniel zurückzog und sich setzte.

„Willst du nichts essen?“, fragte Elise und erwachte damit als erste aus der überraschten Starre, mit der ihm alle begegneten.

Bevor er etwas dazu sagen konnte, schob Daniel ihm seinen Teller zu.

„Natürlich isst er was.“

Kurz darauf reichte er ihm auch sein Bier. Die Flasche war zwar geöffnet, aber er hatte noch nicht viel von ihr getrunken.

„Ich kann mir später ein Neues holen.“

Gerry nickte dankbar und bevor er in dem Essen herumstocherte, trank er was. Vielleicht gelang es dem Bier das nagende Gefühl in ihm zu betäuben, dass ihn zurück zu Rhylee dränge. Dabei konnte er nichts für sie tun, das wusste er. Trotzdem fühlte es sich nicht richtig an, hier zu sein, statt bei ihr.

Emily kam zu ihnen und reichte einen der beiden Teller ungefragt Daniel herüber. Sie setzte sich neben ihn und dann passierte etwas Unerwartetes. Statt das ihn alle durcheinander über Rhylees Zustand ausfragten, oder ihn mit Sprüchen aufzuheitern versuchten, begannen Emily und Matty ein Gespräch über die Arbeitsweise von Ms. Brooks Team. Will und Elise, die ebenfalls schon mit zwei Mitarbeitern der Amerikaner auf Patrouille gewesen waren, beteiligten sich sofort an der Unterhaltung und gaben ihm somit die Freiheit zu essen, ohne irgendwelche Fragen zu beantworten.

Nur Daniels ernsten Blick spürte er hin und wieder auf sich. Er beteiligte sich nicht an der Diskussion.

Als das Bier alle war, stand Gerry auf. Das Gespräch verstummte sofort und verriet ihm damit, dass sie sich zwar seinetwegen Mühe gaben, aber dennoch aufmerksam genug darauf achteten, was er machte.

„Wo willst du hin?“

Gerry erwiderte Daniels Blick. Sein bester Freund war es gewohnt, sich mit Gerrys sturem Dickkopf zu messen.

„Ich bin fertig.“

„Dein Teller ist noch halb voll.“

„Ja, Ma‘am.“ Gerry schob seinen Stuhl zurück an den Tisch. Er hatte nicht vor, sich vorschreiben zu lassen, wie lange er hier sitzen musste. Er hatte Emily den Gefallen getan und sie begleitet. Er hatte so viel gegessen wie er konnte, ohne dass sein Magen rebellierte, außerdem war das Bier leer.

„Ich will jetzt weder ein zweites Bier, noch mehr essen. Ich möchte einfach zurück zu Rhylee.“

Er hatte keine Lust sich zu rechtfertigen, aber die Worte polterten aus seinem Mund. Es war unfair, wie er mit ihnen umsprang. Aber er war launisch und gerade nicht in der Stimmung, sich zurückzuhalten. In ihm tobte ein ganzer Vulkan an unausgesprochener Wut. Gerry spürte wie sie wuchs und wuchs. Die ganze Situation war nicht bloß unfair. Sie war nicht nur Wescotts oder Austens Schuld. Vor allem war sie Sateks Schuld und allein an den Namen des Monsters zu denken, brachte seine Sicherungen fast zum Durchbrennen. Das Wasser in Elise Becher begann zu verdampfen und das Glas wackelte verdächtig.

„Dann solltest du gehen.“

Überrascht sah er zu Emily. Sie nickte ihm zu. Gerry sah einmal in die Runde, aber niemand schien Einspruch zu erheben. Em hatte diese Wirkung. Es war schwer jemandem zu widersprechen, der einem schon mehr als einmal das Leben gerettet hatte und zudem die Gabe besaß, Dinge so auszusprechen, dass sie wie Fakten klangen und nicht wie Möglichkeiten. Wenn sie also beschlossen hatte, dass ihn keiner zurückhalten sollte, dann tat es auch niemand.

Ein dankbares Lächeln umspielte für ein paar Sekunden seine Lippen und verdrängte den grimmigen Gesichtsausdruck.

Je näher er Rhylees Zimmer kam, umso mehr verschwand das Lächeln und das Gefühl der Dankbarkeit wurde von Unsicherheit überlagert. So ging es ihm immer, wenn er wusste, dass Scott bei ihr gewesen war. Die Untersuchungen brachten die Möglichkeit mit sich, dass es zu Ende war. Dass Scott ihm sagte, Rhylee wachte nicht wieder auf, sondern wäre endgültig gegangen.

Wie immer musste er ein paar Mal tief Luft holen und seine Kraftreserven mobilisieren, bevor er die Tür öffnete. Scott hatte gerade die Vorhänge etwas geöffnet, um ein wenig mehr der Abendsonne hereinzulassen. Die untergehende Sonne tauchte das Zimmer in goldenes Licht. Es wirkte wärmer und hübscher, als die Situation Anlass dazu gab. Gerry störte sich daran und erkannte an Scotts Gesichtsausdruck, dass seine Gefühle ihm offen ins Gesicht geschrieben standen. Er räusperte sich. „Wie geht es ihr, Doc?“

„Ach, Gerry.“

Er warf Scott einen Blick zu, der ihn aufforderte, damit aufzuhören. Er konnte es nicht gebrauchen, dass Scott anfing, ihn zu bemuttern.

„Ich will die Wahrheit wissen.“

„Nicht gut.“ Der Doc schüttelte den Kopf. „Gar nicht gut, Gerry.“

„Was heißt das?“, bohrte er weiter. Seine Stimme klang genauso kühl, wie er sich fühlte. Jedes bisschen Wärme floh und mit der Wärme auch jegliches andere Gefühl.

„Ihr Herz schlägt weiterhin unregelmäßig. Sie kämpft, so viel ist klar, aber ihr Puls wird zunehmend schwächer. Ohne die Beatmung und ärztliche Überwachung wäre sie längst nicht mehr bei uns.“

Bisher hatte Scott sich bemüht hoffnungsvoll zu klingen. Er hatte das offensichtlich aufgegeben und das war eine deutlichere Antwort, als alles was er hätte sagen können.

„Ihre Gehirnfunktion ist dagegen sehr gut.“

„Was heißt das?“

„Das Koma ist so etwas wie ein Tiefschlaf des Bewusstseins. Es sind auch Hirnströme vorhanden, für gewöhnlich viel geringer und langsamer, als bei wachen Patienten. Rhylees Gehirn arbeitet nach meinen Messungen aber nahezu normal.“

Hoffnung keimte in ihm auf. „Aber das ist doch prima. Das heißt, sie wacht bald auf, wenn ihr Gehirn schon normal arbeitet.“

Scott zögerte mit seiner Antwort, dann schüttelte er nachdenklich den Kopf. „Nicht unbedingt, Gerry. Das Koma ist eine natürliche Schutzfunktion des Körpers. Das Bewusstsein zieht sich zum Beispiel aufgrund einer traumatischen Erfahrung, wie in Rhylees Fall, weit hinter die Grenzen des vegetativen Nervensystems zurück. Alle Vitalfunktionen von Rhylee lassen auf ein Koma schließen, selbst ihre Anamnese spricht dafür. Nur ihr Gehirn spielt da nicht mit. Und das ist schlecht. Laut der Werte müsste sie sich bei vollem Bewusstsein befinden.“

„Ich verstehe nicht, was daran nicht positiv ist?“ Gerry atmete heftig ein und aus. Was sollte denn noch alles passieren, bevor er sie endlich zurück hatte?

„Ich befürchte, dass sie diesen Zustand nicht mehr lange mitmachen wird.“ Scott sah Gerry auf diese Art an, die sich schmerzhaft in sein Gedächtnis gebrannt hatte. Damals hatte der Doc ihm die Nachricht von Rhylees Unfall bei dem Ritual und den Folgen überbracht.

„Wenn sie nicht bald aufwacht, dann wird ihr Gehirn kollabieren. Der menschliche Körper kann zwar in ein Koma fallen. Aber in Rhylees Situation wird er es nicht lange verkraften.“

„Was wäre, wenn … wenn sie kollabiert?“, fragte er unsicher. Scott schüttelte hoffnungslos den Kopf.

„Ist ein Patient hirntot, ist es nur noch eine Frage von Stunden, bevor man die lebenserhaltenden Maschinen abschaltet.“ Scott sah ihn an. „Wenn das passiert Gerry, kann ich nichts mehr für sie tun. Niemand kann sie dann noch zurückholen.“

Scott sprach es nicht direkt aus. Doch Gerry verstand schon. Ein kalter Schauer fror seine Gefühle ein. Nicht mal Tamara Banks könnte ihr dann noch helfen. Wo blieb die verdammte Heilerin bloß? Laut Austen hätte sie schon gestern hier sein sollen. Er würde den Teamleiter suchen und mit ihm reden.

„Wie lange noch?“ Er sah wieder zu dem Arzt. „Wie lang hat sie noch?“

„Das kann ich nicht sagen. Es hätte schon vor Tagen passieren können, vielleicht geschieht es heute Nacht, möglicherweise auch erst morgen oder übermorgen. Aufgrund der Anomalie ihres Komas kann ich darüber keine konkrete Aussage treffen. Es tut mir Leid, Gerry.“

„Aber es passiert bald?“

Er wollte nicht fragen, doch er brauchte eine Antwort. Er musste wissen, wie viel Zeit ihm noch blieb.

„Das nehme ich leider an. Ihr Zustand ist sehr ungewöhnlich und ich kann nur vermuten woran es liegt. Möglicherweise liegt es an der Verbindung, die ihr zwei während des Rituals hattet. Ihr Bewusstsein scheint gut von dir geschützt worden zu sein, weswegen es immer noch funktioniert. Trotzdem verschlechtert sich ihr Allgemeinzustand stündlich. Sie wird schwächer, Gerry.“

Scott rieb sich übers Gesicht. Er wirkte müde und abgekämpft. Kein Wunder. Scott hatte noch keinen Patienten verloren und er kannte Rhylee besser als viele andere Mitglieder. Es war klar, dass er alles tun würde, um sie zu retten.

„Schon gut.“ Gerry nickte. „Alle unsere Hoffnungen ruhen allein auf der Heilerin.“ Er deutete auf Rhylee. „Kann ich bei ihr bleiben?“ Er wollte auf keinen Fall, dass sie allein war.

„Ja, natürlich. Ich schaue morgen früh wieder nach ihr. Aber du kannst mich jederzeit holen, wenn sich ihr Zustand verschlechtert.“

Gerry hoffte, das würde nicht passieren.

„Halt noch ein bisschen durch“, flüsterte er, als er sich an ihr Bett setzte. Er griff nach Rhylees Hand. Sie sah so schmal und zerbrechlich aus, wie sie in seiner kräftigen Hand lag. Sein Daumen strich über die zarte Haut und dann drückte er seine Lippen zu einem Kuss auf ihre Finger. „Ich bitte dich, mein Herz, geh noch nicht. Bleib bei mir.“

Er legte seine Stirn auf die Bettdecke und es gelang ihm nicht, die Tränen länger zurückzuhalten. Das Wasser in ihm suchte sich einen Weg nach draußen und rann warm über ihre viel zu kalte Hand. ‚Komm zurück zu mir, Rhylee‘, war alles was er verzweifelt dachte. Er hatte es nicht laut gesagt, und obwohl er es diesmal gerne getan hätte, versagte ihm die Stimme. Der Gedanke aber hallte in seinem Herzen wieder, das mit jedem Schlag ein Brennen durch seinen Körper trieb und ihn von innen heraus zerriss.

Talamadre

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