Читать книгу Dolúrna - Mira Birkholz - Страница 13
Sonntag, 12. September 2010 – Killocraw
ОглавлениеAm Sonntagmorgen stand Hazel eine halbe Stunde vor dem Spiegel, bis sie sich endlich für eine schwarze Röhrenjeans, den blaumelierten Rollkragenpullover und ihre schwarze Lederjacke entschied. Dazu trug sie braune Cowboy-Stiefel mit Fransen und kleinen Perlen. Ja, so konnte sie Connor in das kalte Reich der Toten folgen. Ihre Kleidung war bequem, warm und trotzdem aufregend genug, um Connors Blick von den Schädeln der gefangenen Seelen auf den Körper der Lebenden zu lenken.
Hazel hatte Ben telefonisch um ein Treffen am Hafen gebeten, damit er sie zu der Höhle Fairtheoir Túláins führen würde.
Endlich trat Hazel in die frische, unverbrauchte Luft des Morgens und stieg auf ihr Mofa, das auch am heiligen Sonntag keine Rücksicht auf die ehrwürdige Stille in der Stadt nahm. Es knatterte, hustete und spuckte, bis oben im ersten Stock ein verschlafenes Gesicht zum Fenster gesprungen kam und es hastig schloss. Wie gut, dass Hazel im ratternden Motorenlärm nicht Jennys Fluchen hörte.
Die kühle Morgenluft des Septembers erinnerte sie daran, dass der Herbst bereits an die Tür klopfte. Im Fahrtwind fröstelte Hazel, während ihr Haar, mit einem breiten schwarzen Gummi zu einem Zopf gebändigt, wie ein Propeller am Hinterkopf kreiste. Der Himmel über der Stadt war milchig-grau und ächzte unter der schweren Last dicker dunkelgrauer Wolken, die wie Federbetten geradewegs über den Dächern zu ruhen schienen.
Als Hazel den Kai erreichte, entdeckte sie zuerst Connors Auto. Sie parkte ihr Mofa neben dem Gebäude der Touristeninformation und steuerte den kleinen dunkelblauen Vauxhall an, mit dem Connor zur Baumschule gefahren war. Eine seltsame Stille lag über dem Hafenbecken. Wie graue Zuckerwatte dämpfte die Luft jeden Klang. Selbst die Möwen zogen still ihre Bahnen am Himmel, ohne zu kreischen. Wenige Menschen waren unterwegs. Bens Boot lag verlassen am Steg.
Plötzlich erblickte Hazel Connor, der sich hinter dem Kiosk angeregt mit einer jungen Frau unterhielt. Sie war viel kleiner als er, vielleicht so groß wie Hazel, und trug ihr Haar ordentlich geschnitten. Wenn sie lachte und den Kopf in den Nacken legte, glitt es danach jedes Mal wieder zurück an Ort und Stelle, ohne auch nur ein Anzeichen von Unordnung zu hinterlassen. Unwillkürlich griff Hazel nach ihrem Haar, das zerzaust ihr Gesicht einrahmte. Ein Glück, dass der Zopf stramm gebunden war, überlegte sie.
Entschlossenen Schrittes ging Hazel mit ihren Cowboystiefeln laut klackend auf die beiden zu. Wer war wohl diese Frau? Eifersucht knabberte an Hazels Herz wie eine gierige Maus am Käse.
„Hi, Connor!“, rief sie und winkte fröhlich, damit er nichts von ihrer Unsicherheit bemerkte.
Connor erwiderte ihr Winken.
„Hi, Hazel! Schön, dass du da bist!“
Strahlendes Blau brachte den Sommer zurück.
„Hast du geglaubt, ich mache einen Rückzieher?“
Herausfordernd sah sie Connor an und lachte.
„Nein, warum solltest du?! Ich hab Lucy schon erzählt, dass wir ein bisschen an der Küste entlang wandern wollen.“
Verschwörerisch blinzelte er Hazel zu, und sofort begriff sie, dass Connor sich mit ihr gegen Lucy verbündete, welche sie nun als die junge Lehrerin von Emilys Schule erkannte. Offenbar wollte er verhindern, dass diese etwas von der Höhle erfuhr. Hazels Herz klopfte.
„Ja“, bestätigte sie schnell, „wir wollen uns an der Westküste Pflanzen und Seevögel ansehen.“
„Ach, übrigens, Hazel. Lucy, Miss Davenport, ist meine Kollegin. Sie unterrichtet Englisch, Mathematik und Erdkunde.“
Lucy lächelte stolz.
„Und Hazel“, erklärte er wichtig, „ist meine persönliche Pflanzenberaterin.“
Connor zwinkerte Hazel zu.
„Und Fremdenführerin!“, ergänzte er.
Grimmig blickte Lucy drein.
„Wir kennen uns schon. Und als Fremdenführerin hätte ich auch fungieren können! Schließlich lebe ich schon länger auf Kintyre als sie!“
Mit dem Finger zeigte Lucy auf Hazel.
„Ich kenne mich hier sehr gut aus!“
Hatte die gierige Maus nun etwa die Fronten gewechselt? Heftig schien sie jetzt an Lucys Selbstbewusstsein zu nagen, denn nervös strich diese sich das Haar hinter das Ohr, doch sofort glitt es zurück in ihr gerötetes Gesicht. Auch ihr Lächeln war ausgeglitten und zu Boden gestürzt. Mit hängenden Mundwinkeln wünschte sie noch viel Spaß und verabschiedete sich eilig.
„Auf Wiedersehen, Lucy!“, rief Connor ihr nach, doch sie schien schon außer Hörweite.
„Ist sie immer so schnell beleidigt?“, fragte Hazel erstaunt.
„Ich weiß nicht, ich kenne sie ja noch keine zwei Wochen.“
„Möchtest du sie mitnehmen?“, fragte Hazel anstandshalber und ohrfeigte sich in Gedanken.
„Nein“, rief Connor entschieden, „schließlich interessiert sie sich gar nicht so sehr für Pflanzen und Seevögel wie wir!“
Er lachte.
„Außerdem war sie auf dem Weg zur Kirche.“
Erleichtert stemmte Hazel die Hände in die Hüften und fragte: „Worauf warten wir dann noch?!“
„Auf Ben, fürchte ich“, erklärte Connor und zeigte auf dessen Boot.
„Er ist noch nicht eingetroffen.“
Hazel sah zur Uhr. „Schon zwanzig nach zehn!“
Sie kramte ihr Handy aus der Brusttasche der Lederjacke und wählte eine Nummer.
„Ich ruf ihn an.“
Connor lauschte dem Gespräch, das für ihn sehr einseitig verlief, da er Bens Worte nicht verstehen konnte.
„Ben, wo bleibst du denn? – Warum nicht? – Ach, das ist doch albern! – Wir haben schon ganz andere Sachen gemacht! – Wir wollen aber! Connor wartet auch schon! – Mensch, Ben, dann machen wir es eben ohne dich!“
Wütend beendete Hazel das Gespräch und fuchtelte mit dem Handy in der Luft herum.
„Er kommt nicht! Er hat uns versetzt! Er meint, es sei zu gefährlich! So ein Quatsch! Er will mich nicht in Gefahr bringen oder so!“
Fast stampfte sie mit dem Fuß auf, beherrschte sich aber.
„Er mag dich eben“, erklärte Connor, „da ist es doch klar, dass er dich beschützen will.“
Hazel sah ihn prüfend an.
„Aber dann braucht er mich doch nicht wie ein kleines Kind zu behandeln!“
„Du bist seine Freundin.“
Connors Augen zogen sich zusammen, so dass die Eingänge zur Höhle schmalen Spalten glichen.
„Ich würde meine Freundin auch beschützen“, fügte er hinzu, „komme, was wolle.“
Mit abwesendem Blick schaute er zum Horizont, und Hazel fröstelte, als sie die Blässe seiner Haut sah, die einen krassen Kontrast zu den schwarzen Locken bildete.
„Was machen wir nun?“, unterbrach Hazel die beunruhigende Stille.
Connor sah ihr in die Augen, und Hazel kannte augenblicklich seine Antwort.
„Ich werde allein gehen.“
„Nein! Ich komme mit!“
„Hazel, es ist zu gefährlich! Ben hat Recht. Wir dürfen dich nicht in Gefahr bringen!“
„Ich bin eine erwachsene Frau, Connor, und ich entscheide selbst, was ich tue! Und ich werde dir hier und jetzt zu der verdammten Höhle dieses albernen Keltengotts folgen!“
Ernst sah Connor sie an.
„Hazel, Fairtheoir Túláin ist nicht albern! Er ist allgegenwärtig in den Felsen von Kintyre. Er bewacht die Küste und sorgt dafür, dass das Meer dein Land nicht fortspült. Und er bewahrt die Seeleute davor, mit ihren Schiffen an den Felsen zu zerschellen!“
Für einen kurzen Moment war Hazel sprachlos. Dann hauchte sie: „Du glaubst an ihn?!“
Connor antwortete nicht.
Schweigen herrschte.
Schließlich fuhr er fort: „Ben sprach von dem Kessel. Erinnerst du dich?“
Hazel nickte brav.
„Darin konnte Fairtheoir Túláin ertrunkene Seeleute wieder zum Leben erwecken! Er konnte sie mit Speisen aus dem Kessel versorgen, bis sie wieder gesund waren. Und jeder, der den Kessel aus Eigennutz stehlen wollte, starb in dieser Höhle. Denn dessen Seele war böse, egoistisch und hinterhältig, und Fairtheoir Túláin hielt sie gefangen, damit sie in der Welt keinen Schaden mehr anrichten konnte.“
Hazel fand leise ihre Stimme wieder.
„Connor, du sprichst, als hättest du es selbst gesehen!“
Plötzlich war er ihr unheimlich. Was wusste sie eigentlich von diesem Menschen, der aus der Fremde hier her gekommen war und sie mit seinen Augen verzaubert hatte? Sie hatte bereits von ihm geträumt, bevor sie ihm begegnet war! Was tat er mit ihr? Was wollte er wirklich in Portmullen? Hatte die alte Mrs. MacFarlane recht, wenn sie misstrauisch hinter ihm her schnüffelte und behauptete, er sei ein Zauberer? Brachte er wirklich das Böse, wie Hazel zwei Kundinnen in der Gärtnerei hatte tuscheln hören? Connors Blick ließ sie erzittern.
Doch plötzlich lächelte er.
„Hazel, du bist ja ganz blass! Du brauchst dich nicht zu fürchten. Deine Seele ist nicht böse. Und ich werde dich beschützen.“
Mit großen Augen sah sie ihn an.
„Heißt das, du nimmst mich mit?“
„Ja. Ich weiß, dass dir nichts geschehen wird.“
Das seltsame Gefühl in Hazels Bauch wollte einfach nicht weichen.
„Connor, ständig sprichst du in Rätseln! Woher weißt du das alles?“
Sanft nahm Connor ihre Hand und beruhigte sie. Mit einem entwaffnenden Lächeln erklärte er: „Ich habe schließlich Geschichte studiert! Du weißt doch, Hazel, dass Lehrer immer alles besser wissen müssen!“
Laut lachte er, und Hazel fiel erleichtert mit ein.
„So, wollen wir los?“, fragte Connor und setzte flink den großen Rucksack auf, der am Kiosk gelehnt hatte.
„Ja, klar! Aber weißt du denn, wohin wir fahren müssen?“
Stolz zog Connor eine Wanderkarte aus der Jackentasche und zeigte Hazel das Gebiet um Killocraw, das er bereits rot eingekreist hatte.
„Es ist immer besser, man informiert sich selbst! Auch wenn man eine Fremdenführerin hat!“ Schelmisch grinste er Hazel an.
„Lass‘ uns dort an der Küste entlang gehen. Das hier sind ungefähr fünf Meilen. Schaffst du das?“
„Na klar! Und sonst musst du mich halt tragen!“
Das hatte sie nur denken wollen. Nun waren ihr die Worte aus dem Mund gerutscht.
Connor lächelte.
„Kein Problem.“
Mit dem kleinen Vauxhall machten sie sich auf den Weg Richtung Killocraw. Auf der A 83 fuhren sie durch Wiesen und Felder über Kilchenzie, bis sie nach ungefähr sechs Meilen die Küste erreichten. Hier begann der lange Sandstrand, der im Süden bis nach Machrihanish reichte. Doch sie fuhren in nördlicher Richtung weiter.
„Sieh nur, hier gibt es schon Felsen, Connor!“, staunte Hazel.
Er lachte.
„Ich habe gedacht, du kennst dich hier aus! Na, wie gut, dass du mal etwas Anderes vom Land siehst als Portmullen!“
„Ich kenne die Küste!“, empörte sich Hazel. „Aber meistens bin ich mit Bens Boot mitgefahren, und von der Wasserseite sieht sie ganz anders aus!“
„Vielleicht bist du schon ganz nah an der Höhle vorbeigefahren, ohne es zu wissen!“
„Ja, und vielleicht hat Fairtheoir Túláin uns vor dem Zerschellen bewahrt!“
Prüfend sah Connor sie an. Machte Hazel sich lustig? Doch ihr Gesicht war ganz ernst.
„Ben hat mir nie etwas von der Höhle erzählt“, wunderte sie sich.
„Er wusste wohl, dass du sie sonst besuchen würdest!“
Endlich erreichten sie Killocraw, und Connor fand einen Parkplatz.
„Ich dachte, wir wollten bis Bellochantuy fahren?!“
Überrascht sah Hazel Connor an, der mit versunkenem Blick auf das Meer schaute.
„Siehst du die Vögel dort?“
Hazel reckte den Hals.
„Ja, irgendwelche Möwen.“
„Na, du bist mir die richtige Vogelführerin!“, lachte Connor und erklärte: „Das sind Wanderfalken, die dort im Sommer in den Felsen gebrütet haben. Der Wanderfalke ist die am weitesten auf der Welt verbreitete Vogelart. Falco peregrinus.“
„Jawohl, Herr Professor! Vielen Dank für die Aufklärung!“
Hazel legte die Hand auf die Brust und verbeugte sich vor Connor.
„Können Sie mir bitte gnädigst den Zusammenhang zwischen Wanderfalken und unserem Ziel erläutern?“
„Falken weisen den Weg.“
Verständnislos schaute sie Connor an.
„Das sind sehr komplexe Vorgänge. Es ist schwer zu erklären. Man muss die Vögel lange studiert haben.“
„Ach ja“, erinnerte sich Hazel, „du bist ja auch Biologielehrer. Und die wissen bekanntlich Dinge, von denen kleine Schülerinnen nicht einmal zu träumen wagen!“
„Genau!“, lachte Connor und schloss damit das Thema ab.
„Komm‘, lass uns hier aussteigen, Hazel! Wir müssen in südlicher Richtung gehen, die Sonne im Gesicht.“
Connor befreite seinen großen Körper aus der Enge des Kleinwagens und reckte sich genüsslich.
„Welche Sonne? Ich sehe nur graue Wolken!“, beschwerte sich Hazel und vermied den Blick auf seinen straffen Körper.
„Die Sonne ist immer da! Auch wenn du sie jetzt nicht sehen kannst.“
„Das weiß ich auch“, schimpfte sie, „schließlich bin ich nicht ganz dumm!“
Die braunen Haselaugen sandten helle Blitze aus.
Connor lachte.
„Ich wollte dich nicht beleidigen, Hazel. Ich wollte dir nur von der Sonnenverehrung der Kelten erzählen. Vom Wiedererwachen des Lichts und der Wiedergeburt des Lebens im tiefsten Winter. Deshalb habe ich gesagt, die Sonne sei immer da, so wie auch deine Seele...“ Connor unterbrach sich selbst. Hazel runzelte die Stirn.
„Komm‘, lass uns einfach losgehen“, entschied er, setzte den Rucksack auf und reichte Hazel versöhnlich die Hand.
„Also gut, folgen wir der Spur der Falken und der ewigen Sonne!“
Zu ihrer Linken lag die Fahrbahn und dahinter das hügelig ansteigende Land, das als Gras- und Weideland für Rinder- und Schafherden diente und von weitläufigen Heideflächen umgeben war. Zur Rechten erstreckte sich unendlich grau und aufgewühlt das Meer. Salzige Luft stieg ihnen in die Nasen. Ein leichter Fischgeruch.
„An klaren Tagen kann man dort drüben Islay erkennen“, erklärte Hazel, die Connor beweisen wollte, dass sie sich wenigstens in der Kintyre umgebenden Inselwelt auskannte. Mit dem Finger wies sie in nordwestlicher Richtung.
„Und da hinten in der Ferne, mehr im Südwesten, liegt Rathlin Island. Das ist schon Irland. Wusstest du, Connor, dass der Mull of Kintyre der nahegelegenste Ort Großbritanniens zum irischen Festland ist?“
Stolz sah sie ihn von der Seite an. Ein leichter Wind spielte in seinen Locken, während seine Lippen ein Lächeln umspielte.
„Ich habe darüber gelesen. Genaugenommen ist das irische Festland, von dem du sprichst, allerdings auch noch ein Stück Großbritanniens...“
Hazel verdrehte theatralisch die Augen.
„Ja, Herr Oberlehrer, ich weiß, dass es sich um Nordirland handelt, das zu Großbritannien gehört! Hältst du mich eigentlich für dumm, weil ich ‚nur in einer Gärtnerei‘ arbeite und nicht studiert habe?! Glaubst du, ich hätte keinen Schulabschluss gemacht? Denkst du, ich kann nur ein paar Pflänzchen verkaufen, die ich mit Glück benennen kann?!“
Connor sah sie traurig an und griff nach ihrem Arm, doch Hazel riss sich wütend los.
„Immer glauben alle Leute, ich bin total bescheuert, nur weil ich bei der Arbeit kein Kostüm oder ein schickes Kleid trage. Nur weil ich nicht in so einem piekfeinen Büro sitze und wichtige Konferenzen abhalte oder in feiner Seidenbluse den Leuten Kredite andrehe!“
Aufgebracht beschleunigte sie ihren Schritt. Doch Connor stoppte sie, indem er von hinten ihre Taille griff. Die Lederjacke lag fest in seinen Händen, und behutsam drehte Connor die zappelnde Hazel herum. Mühsam gelang es ihm, sie festzuhalten. Sie atmete heftig und sah stur an ihm vorbei, während sie die Arme stramm vor der Brust verschränkte.
„Hazel“, sprach er eindringlich, „Hazel, beruhige dich!“
Sanft strich er eine wilde Haarsträhne aus ihrer Stirn. Die braunen Augen blickten trotzig.
„Wer hat dich so verletzt?“
Connors Stimme klang leise und mitfühlend.
Fragend sah sie ihn an.
„Wer hat dich glauben lassen, du müsstest jedem Menschen beweisen, dass du etwas wert bist? Dass du stark und klug bist. Wer hat je daran gezweifelt?“
Hazel schluckte und sah zu Boden. Wie konnte es sein, dass dieser Mann, den sie heute zum dritten Mal traf, sie besser kannte als jeder andere, vielleicht sogar besser als sie sich selbst?! Wie hatte er sie so schnell durchschauen können? Besaß er eine Art Röntgenblick für Gefühle und Charaktereigenschaften? Ahnte er auch etwas von David?
„Du musst es mir nicht sagen“, klang Connors Stimme nah an ihrem Ohr. Er roch nach Aftershave.
„Es tut mir leid, Hazel. Ich wollte dich nicht belehren. Und schon gar nicht verletzen. Es war dumm von mir und kleinlich. Ich möchte nicht, dass du traurig bist.“
„Ich bin gar nicht traurig!“
In Hazels Augen schwammen Tränen.
Niemals hatte David sie weinen sehen. Zu sehr war sie darauf bedacht gewesen, ihre Verletzung vor ihm zu verbergen. Geschauspielert hatte sie, so getan, als ob sie ihn sowieso nicht mehr wollte. Und David hatte sich täuschen lassen. Das hatte Hazel eine kleine Genugtuung verschafft, jedoch nicht die Wunde zu schließen vermocht, die David ihr zugefügt hatte. Bei Connor funktionierte es nicht. Er sah einfach durch Hazel hindurch und erinnerte sie daran, dass unter ihrem Schutzpanzer aus frechen Bemerkungen und wilder Kampfbereitschaft eine Sensibilität schlummerte, die ihr schon ein Leben lang zu schaffen machte.
Plötzlich schlossen sich zwei Arme um sie, und Hazel versank in der Umarmung dieses großen Mannes, der sie fest an seine Brust drückte, damit sie ungesehen weinen konnte.
Wind kam auf und blies große Wellen auf den Strand, wo sie unter lautem Grollen brachen und zurück ins Meer stürzten. Connors Jacke flatterte laut an Hazels Ohr. Über ihren Köpfen stieß ein Vogel helle Schreie aus. Eeek-eeek-eeek. Vermutlich ein Wanderfalke. Wies er ihnen den Weg?
Mit dem Handrücken wischte Hazel die Tränen aus ihrem Gesicht.
„Ich möchte mit dir die Höhle finden“, sprach sie gegen den Wind, und Connor nickte.
Wortlos wanderten sie die Straße entlang, die sich parallel zur Küstenlinie schlängelte. Am Meeressaum verlief ein schmaler Sandstrand, der in regelmäßigen Abständen von tosenden Wellen überflutet wurde. Mit lautem Krachen stürzten sie gegen die Felsen, die an dieser Stelle jedoch nur vereinzelt in das Meer ragten. Sicherlich bargen sie keinen Platz für eine Höhle.
Durch den Wind angetrieben erwachten die dicken grauen Wattewolken aus ihrer Lethargie, trennten sich zäh von einander, schoben sich langsam vorwärts auf das Land zu und ließen ein milchiges Licht durchscheinen, das auf die stete Gegenwart der Sonne hinwies. Selbst an diesem düsteren Frühherbsttag. Nun segelten auch Möwen über ihren Köpfen, tanzten mit dem Wind und kreischten. Vor Freude? Vor Hunger? Wer wusste das schon? Vielleicht Connor, der fest die Falken im Auge behielt, die ständig ihren Weg kreuzten und eine für Hazel unverständliche Sprache sprachen, welche ihrem Begleiter scheinbar geläufig war wie Englisch, Französisch und Gälisch. Konzentriert beobachtete er ihren Flug an der Küste entlang, sah von Zeit zu Zeit in den Himmel, dorthin, wo die Sonne gegen die Wolken kämpfte und sich langsam behaupten konnte.
Immer heller wurde der Tag, immer wärmer die Luft. Regelmäßig erkundigte sich Connor, ob er Hazel schon tragen dürfe. Ja, „dürfe“ hatte er gefragt, lächelte sie in sich hinein, doch sie hatte entschieden verneint. Obwohl die Verlockung groß war. So wie ihr Wunsch, seine Hand zu halten, die beim Gehen nah an ihrer vorbeischwang.
Nachdem sie eine knappe Stunde gelaufen waren, trat plötzlich ein Sonnenstrahl durch die letzte Dunstschicht und ließ Hazel blinzeln, als sie zu Connor aufschaute. Sein Haar glänzte, als wäre er soeben dem Ozean entstiegen, und seine Augen leuchteten wie Aquamarine vom Meeresgrund. Vor der endlosen grauen See, auf der nun die Sonne glitzerte, während sie in gleichmäßigen Abständen den Strand küsste, wirkte Connor selbst wie ein gewaltiger Felsen. In seinem Windschatten verlor das Tosen der Wellen seine Macht, seine Bedrohlichkeit. Wie ein Schalldämpfer fing Connor den Lärm ab und bewahrte Hazel davor, im Gegenwind den Atem zu verlieren. Mit einer Hand hielt er die tanzenden Locken aus dem Gesicht, während er mit der Zungenspitze kurz seine Lippen befeuchtete. Er lächelte sie an, und Hazel wurde ganz mulmig zumute.
„Ich möchte jetzt die Straße verlassen“, kündigte er an. „Hier wird nämlich der Strand schmaler, und der Felsengürtel geht in eine leichte Steilküste über. Traust du dir zu, Hazel, hier hinunter zu klettern?“
Tapfer nickte sie.
Mit vorsichtigen Schritten tasteten sie sich vorwärts über das schwarze Gestein, das jahrein, jahraus Wind und Wetter standhielt. Der Wind hatte es trocken geblasen, so dass die Sohlen ihrer Schuhe sicheren Halt fanden. Trotzdem wünschte Hazel nun, sie hätte statt der coolen Cowboystiefel ihre bequemeren Wanderschuhe angezogen. Connor brauchte sie nichts vormachen. Er hätte sie auch mit derben Boots nach Hause getragen.
Connor bückte sich plötzlich und hob eine große braun-weiß gestrichelte Feder auf, die mit dem Kiel in einem Felsspalt steckengeblieben war. Sorgfältig untersuchte er die Musterung. Er drehte und wendete sie, betrachtete den Kiel und hielt sie gegen die Sonne.
„Falco peregrinus?“ fragte Hazel schließlich und erntete ein liebevolles Lächeln, das sie für seine Besserwisserei entschädigte. Er schien es wirklich nicht böse gemeint zu haben. Es war lange her, dass sich jemand so um Hazel gesorgt hatte.
„Ja, Falco peregrinus“, bestätigte er und sah sich um. „Siehst du dort drüben den Felsvorsprung?“
Mit dem Finger zeigte Connor auf das Ende des Felsmassivs, auf dem sie zur Hälfte hinunter geklettert waren. Hazel nickte.
„Dort möchte ich mal nachsehen.“
„Das sieht aber gefährlich aus!“
Schwarz und steil erhob sich eine Felsspitze vor dem weißen Himmel, an die sich eine plateauförmige Gesteinsplatte anschloss, die weit über den Abgrund hinausragte.
„Das ist es auch. Wir müssen eben sehr vorsichtig sein.“
Connor reichte Hazel die Hand. Trotz des Sturms, der wild an ihren Jacken zerrte und Connor das Aussehen eines blauen Großsegels verlieh, spürte Hazel das stille Kribbeln in der Handfläche, als er sie umfasste. Fast hätte sie ihn gefragt, ob er es auch fühlte, besann sich jedoch.
„Wir können Fairtheoir Túláin ja mitteilen, dass wir in friedlicher Mission kommen!“, schlug Hazel eifrig vor. „Dann beschützt er uns vielleicht!“
Connor starrte sie an.
„Wir können ihm ein Opfer bringen, damit er uns wohlgesonnen ist“, weitete er ihren Vorschlag aus, bemerkte jedoch gleichzeitig das Entsetzen in ihren Augen.
„Wir sollen etwas opfern? Deinen Falken vielleicht?“
Connor blickte zum Himmel.
„Nein“, lächelte er, „wir werden ihm etwas Anderes anvertrauen.“
Ein vorübergehendes Opfer, kein endgültiges, beschloss er still. Denn niemals wollte er sich von diesem Schatz trennen.
Aus der Hosentasche zog Connor einen kleinen runden Stein.
„Was ist das?“, fragte Hazel und beugte sich über das glatte dunkelgrüne Mineral, das in Connors Handfläche lag und durchzogen war von wenigen leuchtendroten Sprenkeln.
„Das ist ein Heliotrop“, erklärte er Hazel. „Ein Edelstein. Er schützt die Natur und unsere Umwelt vor Gier und Aggression. Laut alter griechischer Überlieferung symbolisiert sein Grün das Leben auf der Erde, das Wachsen, das Werden, während die roten Punkte für das Blut der Erde stehen.“
Fasziniert starrte Hazel auf den geheimnisvoll gemusterten Stein.
„Die Menschen glaubten“, sprach Connor weiter, „dass der Stein sie in Harmonie mit den Göttern der Erde und des Wassers brachte, denn er soll Irdisches mit Überirdischem verbinden und vor negativen Energien schützen.“
Hazel runzelte die Stirn.
„Der Heliotrop ist ein Stein der Sonne und weist uns mit seinem Licht den Weg durch die Dunkelheit. Er hilft, Verständnis und den inneren Frieden zu finden und diesen hinaus in die Welt zu tragen.“
Gebannt lauschte Hazel den ungewöhnlichen Erläuterungen dieses erstaunlichen Mannes. Und mit großen Augen bestaunte Hazel den glänzenden Stein.
„Darf ich ihn mal in die Hand nehmen?“
Vorsichtig legte Connor den Heliotrop in die Mulde ihrer Hand, die ihn vor dem reißenden Sturm schützte. Sanft strich sie mit dem Zeigefinger darüber, und als sie ihn behutsam umdrehte, stutzte sie plötzlich. Um sicher zu gehen, dass sie sich nicht täuschte, hielt sie den Stein nah vor ihre Augen.
„Da ist ja ein Buchstabe auf dem Stein!“
Erstaunt blickte sie Connor an. Tatsächlich war in dem Dunkelgrün des Minerals ein D aus leuchtendrotem Eisenoxid eingeschlossen, das sich seltsam plastisch vom glatten Gestein abhob.
Connor nahm ihr den Stein aus der Hand und hielt ihn fest umschlossen.
„Sieht ganz so aus“, bestätigte er kurz und erhob sich aus der Hocke.
„Wir werden den Stein in den Eingang der Höhle legen“, entschied Connor und kletterte zielstrebig auf das Felsplateau zu.
„Woher weißt du, dass dort wirklich die Höhle liegt?“, rief Hazel ihm nach, doch er antwortete nicht. Hatte der Wind ihre Worte verschlungen oder wollte Connor sein Geheimnis nicht preisgeben? Hazel war verwirrt. Seine Worte über den Edelstein klangen mystisch und hallten in ihrem Kopf nach. Vom Blut der Erde hatte er gesprochen, von Erd- und Wassergöttern, von Überirdischem. All dies flößte ihr mehr Angst als Frieden ein. Wer war dieser Mann, der so ungewöhnlich sprach und an Mythen glaubte? Der von keltischem Glauben erzählte, von Sonnenverehrung, und sich von Falken den Weg weisen ließ! Wenn sie das Ben erzählte, würde er sie schallend auslachen. Oder etwa nicht? Denn auch er hatte ehrfürchtig von der Höhle des alten Fairtheoir Túláin berichtet. War an der Geschichte wirklich etwas Wahres? Nun erst wurde Hazel das ganze Ausmaß dieser Expedition bewusst, und doch hatte sie immer noch keine Vorstellung davon, was Connor in der Höhle zu finden hoffte.