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Sonntag, 12. September 2010 – Killocraw
ОглавлениеVorsichtig folgte Hazel Connor über die glatten Felsen, die in dieser Höhe bereits feucht von Meeresgischt glänzten. Die Ledersohlen der Cowboystiefel fanden wenig Halt, und Hazel musste gebückt gehen, um sich mit den Händen an Felsvorsprüngen festhalten zu können. Connor sah nicht zurück. Hatte er sie schon vergessen? Wie im Rausch kletterte er das Felsmassiv hinab, die Füße sicher zwischen den Steinen platzierend, während die Brandung unter ihnen gegen das schwarzglänzende Gestein schlug. Salzige Spritzer benetzten Hazels Gesicht und brannten in den Augen. Mit der Hand wischte sie sie fort und sah hinunter zu Connor, der kurz davor war, die markante Felsspitze zu erreichen. Tapfer kletterte sie weiter. Er hatte zwar behauptet, sie müsse nicht beweisen, dass sie stark und klug sei, aber nun wollte sie ihm zeigen, dass sie auch genug Geschicklichkeit besaß, um mit Wildwest-Stiefeln zur keltischen Höhle zu kraxeln. Wieder schlug eine große Welle an die Felsen, während der Sturm ihr Sand in die Augen blies. Verdammt! dachte Hazel. Plötzlich hörte sie Connor rufen. Seine Worte trug der Wind davon, aber deutlich erkannte sie den erhobenen Daumen und sein strahlendes Lächeln. Hatte er wirklich die Höhle gefunden? Die Sagen umwobene? Hazel beeilte sich. Nur noch wenige vorsichtige Tritte im Gestein, und endlich hatte auch sie den Felsen erreicht, der wie ein Ausrufezeichen den Höhleneingang markierte. Das Felsplateau davor wirkte wie eine Aussichtsplattform, von der aus Fairtheoir Túláin möglicherweise die strandenden Schiffe beobachtete. Oder konnte ein Felsengott durch das Gestein hindurchsehen, fragte Hazel sich, als Connor sie hinunter in den Höhleneingang zog.
„Wir haben sie gefunden, Hazel!“, strahlte er.
„Was macht dich so sicher, dass es die richtige Höhle ist?“
„Ich habe sie im Traum gesehen“, erklärte Connor und riskierte einen prüfenden Seitenblick auf seine Begleiterin.
Sofort erinnerte sich Hazel an ihren Traum, in dem sie Connor begegnet war. Hatte sie nicht auch etwas Schwarzes gesehen? Waren es Felsen gewesen? Ach was, schalt sie sich, das bildete sie sich nur ein! Der starke Wind hatte ihr wohl schon den Verstand aus dem Hirn geblasen!
„Komm‘, setz‘ dich, das Felsplateau bietet Schutz vor dem Wind“, forderte Connor sie auf.
Der Höhleneingang lag genau darunter und wurde zu einem Drittel von senkrechten Steinen, die das Plateau stützten, verdeckt. Die Öffnung war gerade so hoch, dass Hazel mit angewinkelten Beinen aufrecht darin sitzen konnte, während Connor sich nach hinten lehnte und die Ellenbogen auf die harten Steine stützte. Wenn sie eng zusammenrückten, bot der Felsspalt genügend Platz für zwei.
„Was machen wir nun?“, wollte Hazel wissen.
Wie seltsam, überlegte sie. Inzwischen begab sie sich schon freiwillig unter seine Führung. Sonst war sie selbst immer diejenige, die das Kommando übernahm. Dieser Mann hatte eine unerklärliche Macht über sie. Der Gedanke daran machte ihr Angst, aber zugleich fühlte sie sich sonderbar geborgen.
„Wir können nicht in die Höhle hinabsteigen, solange Flut herrscht. In den unteren Kammern steht bestimmt noch das Wasser“, erklärte Connor.
„Zu dumm“, fügte er hinzu, „dass ich mich nicht über die Tidenzeiten informiert habe.“
„Ja, wir haben uns eben zu sehr auf Ben verlassen. Wenn der wüsste, dass wir die Höhle auch ohne ihn gefunden haben!“
Connor schmunzelte und sah hinaus auf das ungestüme Meer, das hohe Wellen gen Küste schickte, geradeso, als handelte es in Bens Auftrag und hielte sie davon ab, in die Tiefe hinab zu steigen. Was war wohl der eigentliche Grund dafür, dass er heute nicht gekommen war? Umgab die Höhle ein weiteres Geheimnis, das Ben vor ihnen nicht preisgeben wollte?
„Dann warten wir eben auf Ebbe“, erklärte Hazel trotzig.
„Die wird vermutlich zu spät eintreffen. Bei Dunkelheit können wir unmöglich über die Felsen steigen!“
„Wir hätten eine Taschenlampe mitnehmen sollen!“
„Habe ich dabei“, sprach Connor und klopfte auf seinen Rucksack, „aber es wäre unvernünftig und verantwortungslos, trotzdem in die Höhle zu steigen, denn wir müssen ja auch noch wieder zurückklettern und den ganzen Weg zum Auto bewältigen.“
Hazel maulte.
„So was Blödes!“
„Wir wollen uns lieber freuen, dass wir die Höhle gefunden haben, Hazel!“, versuchte Connor sie aufzumuntern. „Weglaufen wird sie uns sicher nicht. Denk mal dran, wie viele Jahrhunderte Fairtheoir Túláin hier schon lebt. Da kommt es doch auf ein paar Tage auch nicht mehr an. Wir werden wiederkommen!“ tröstete Connor Hazel – und sich selbst, denn am liebsten wäre auch er sofort in die Tiefe hinabgestiegen und hätte das Geheimnis der gefangenen Seelen gelüftet.
„Ist es dir nicht unheimlich hier zu sitzen?“, fragte Hazel plötzlich und sah hinab in die kalte schwarze Tiefe, die wie ein offener Schlund auf Nahrung wartete. An den Felswänden rann Wasser hinab wie der Speichel eines Ungeheuers.
„Du brauchst dich nicht zu fürchten. Wir kommen doch in friedlicher Mission. Und den Stein haben wir auch dabei!“
Damit Hazel nicht erneut nach dem roten D fragte, lenkte Connor schnell vom Thema ab.
„Jetzt gibt es erst einmal etwas zu essen und zu trinken!“
„Oh, toll, daran habe ich gar nicht gedacht“, gab Hazel kleinlaut zu, „ich dachte, wir fahren mit Ben hierher, erkunden die Höhle und fahren wieder nach Hause.“
„Es ist immer gut, wenn man für den Notfall gerüstet ist“, erklärte Connor und zog zwei Emaillebecher, eine Thermoskanne und eine große Plastikdose aus dem Rucksack.
„Es gibt heißen Tee und Dinkelbrot mit original Kintyre Cheddar-Käse“, verkündete er stolz.
Sogleich reichte er Hazel einen Becher, füllte ihn mit dampfendem Tee und schnitt ihr mit einem großen Sägemesser eine dicke Scheibe vom Brotlaib ab.
„Das Brot habe ich selbst gebacken“, erklärte Connor und hielt es hoch wie eine Trophäe.
„Ehrlich?“
Hazel staunte.
„Ein biologisch versierter Geschichtslehrer, der Fährten lesen und Brote backen kann! Tolle Kombination!“ Hazel lachte und hielt ihm die Scheibe hin, damit er sie mit Käse belegte.
„Halt“, rief sie, „nicht so viel!“
„Wer viel gewandert ist, der muss auch viel essen!“, lachte er und biss genüsslich von seinem Brot ab. „Und wer zurückwandern will, der muss auch genug trinken! Slainte mhath!“
Connor hob feierlich den Becher und stieß mit Hazel an.
„Slainte mhath!“, erwiderte sie und nippte vorsichtig an dem heißen Tee.
„Was ist das?“
„Kräutertee. Schmeckt er dir?“
„Sag bloß, den hast du auch selbst gemacht?!“
Mit großen Augen musterte sie Connor, der in der engen Felsspalte noch gewaltiger wirkte.
Er grinste.
„Woraus besteht denn der Tee? Hast du ein Aphrodisiakum für mich hinein gemixt?“, rutschte es Hazel heraus, und nun erging es ihr plötzlich wie Caitlin, die ständig rot anlief, sobald Jamie sie ansah. Schnell senkte sie den Blick, doch Connors Lachen befreite sie aus ihrer Scham.
„Brauchst du das denn?“
Er zwinkerte ihr zu und klärte sie dann schnell über die Zusammensetzung auf, um die peinliche Situation zu beenden.
„Der Tee besteht aus verschiedenen Kräutern. Brennnessel, Ehrenpreis und Kamille sind darin, ebenso wie Mädesüß, Gänseblümchen und Beifuß. Außerdem Ringelblume und Eisenkraut.“ Connor überlegte. „Königskerze und sogar Birkenblätter!“
„Hast du die alle selbst gesammelt, Herr Biologielehrer?“
„Und getrocknet“, ergänzte Connor stolz.
„Du bist ja ein halber Druide!“, stellte Hazel lachend fest und bemerkte nicht das Zucken in Connors Mundwinkeln.
„Hast du die Kräuter mit der goldenen Sichel geschnitten? Und dir einen langen weißen Rauschebart umgehängt? So wie Miraculix?“
Bei der Vorstellung lachte Hazel schallend, und in der Tiefe des Felsens erklang schaurig ihr Echo. Erschrocken sah sie Connor an. Mit bleichem Gesicht saß er ihr gegenüber. Seine Augen hatten einen leblosen Ausdruck angenommen.
„Die Vorstellung von Druiden“, vernahm sie seltsam dumpf eine fremde Stimme, die Connors Mund entsprang, „entspricht nicht der Wahrheit. Die Geschichtsschreiber haben vieles falsch interpretiert und überliefert. Und der moderne Mensch hat sich nach Gutdünken ein Bild von dem Druiden erschaffen, das nicht haltbar ist.“
Befremdet starrte Hazel auf die verzerrten Gesichtszüge ihres Begleiters.
„Es tut mir leid“, stammelte sie betreten, „wenn ich etwas Falsches gesagt habe. Ich wollte dich nicht verletzen.“
Verlegen malte sie mit einem Stöckchen Muster in den feinen Sand, der in den Eingang der Höhle geweht war. Zunächst waren es nur wenige Striche, dann entstand daraus ein Baum mit Krone und vielen einzelnen Blättern. Je länger Connor schwieg, desto mehr Blätter zeichnete Hazel in den Sand. Gebannt beobachtete Connor ihr Treiben. Dann nahm er abrupt ihre Hand und sah ihr fest in die Augen. Hazel erblickte in dem kühlen Blau ein Feuer. Rotgoldene Flammen schlugen empor und schienen alles Leben zu verbrennen. Sie begann zu zittern.
Endlich flüsterte sie: „Connor, du machst mir Angst!“
Er wandte den Blick von ihr ab und starrte auf die Zeichnung im Sand. Plötzlich stoben feine Körnchen zur Seite, als ein Tropfen auf eines der Blätter fiel. Hazel sah zum Himmel. Begann es zu regnen? Keine einzige Wolke war zu sehen, und auch das Meer hatte sich so weit zurückgezogen, dass keine Gischt mehr zum Plateau hinauf spritzte. Erst dann bemerkte Hazel, dass der Tropfen eine Träne war, die aus Connors Auge lautlos in den weichen Sand gefallen war. Er sprach kein Wort. Langsam sah er auf. Seine schwarzen Wimpern bildeten einen nassen Kranz um die blauen Augen, in denen das Feuer erloschen war, und Hazel spürte eine unbändige Macht nach ihrem Herzen greifen.
Nach einer langen Pause räusperte Connor sich und sprach: „Haselnussblätter.“
Verwirrt blickte Hazel ihn an.
„Haselnussblätter sind auch im Tee.“
Hazel nickte wortlos.
„Die Haselnuss hatte für die Kelten eine besondere Bedeutung“, begann Connor leise zu erzählen. „Sie bauten aus dem Holz Werkzeuge und leider auch Waffen, ebenso Zäune und Fischreusen. Die Hasel stand als Symbol für Fruchtbarkeit und Wohlstand, für Reichtum und Unsterblichkeit. Besonders aber für Klugheit. Das Verspeisen ihrer Früchte nämlich verhalf zum Erwerb von Weisheit.“
Hazel hörte gespannt zu. Der Wind pfiff nach wie vor, der Falke rief eeek-eeek, und das Meer rauschte, aber sie nahm nur noch Connors Stimme wahr, die nah an ihrem Ohr von vergangenen Zeiten berichtete.
„Der Jahreskreis des keltischen Volkes wurde unterteilt in bestimmte Zeiträume, denen spezielle Baumarten zugeordnet waren. Die Zeit der Haselnuss fiel in den März und in den September. Neun Vollmonde nach der Sommersonnenwende im Juni und neun Vollmonde nach der Wintersonnenwende im Dezember, an denen das Licht über die Finsternis siegt, beginnen die Tage der Haselnuss. Menschen, die in den Tagen der Haselnuss geboren sind, wurden gezeugt, als die Sonne ihren Höhepunkt erreicht hatte oder aus der finsteren Erde wieder geboren wurde. Diese Menschen sind eng verbunden mit der Zahl Neun und dem Neunerrhythmus, der auch die Zahl Drei beinhaltet.“
Connor schaute sie an.
„Haselnussgeborene Menschen sind verständnisvoll, ehrlich und tolerant. Sie besitzen neben großer Intelligenz auch eine stark ausgeprägte Intuition, die es ihnen ermöglicht, hinter die sichtbare Welt zu blicken.“
Connor machte eine Pause und trank einen Schluck Tee.
„Die Aufgabe haselgeborener Menschen ist es“, fuhr er fort, „das Konkurrenzdenken auszuschalten, sich für das Gemeinwohl einzusetzen, Toleranz zu fördern und den Weg der Zärtlichkeit zu gehen. Frieden zu schaffen in der Welt.“
Eindringlich sah er in Hazels braune Augen, die begonnen hatten zu leuchten. Mit rotglühenden Wangen saß die junge Frau ihm gegenüber und lauschte fieberhaft seinen Schilderungen.
„Der Haselnussstrauch ist eine Pionierpflanze. Und so sind auch die haselnussgeborenen Menschen Pioniere auf dem gewaltfreien Weg zum Weltfrieden. So wie Mahatma Gandhi. Oder Jesus.“
Hazel sprach kein Wort. Wie gebannt sah sie auf Connors weiche Lippen, denen Worte der Liebe entsprangen, der Liebe für die ganze Welt.
Endlich trank auch sie vom Tee, der nichts von seiner wärmenden Kraft verloren hatte, obwohl er längst abgekühlt war.
„Warum erzählst du mir das, Connor?“, hauchte sie.
Ein Lächeln umspielte seinen Mund.
„Weil du in den Tagen der Haselnuss geboren bist. Hazel.“
Mit offenem Mund starrte sie ihn an.
„Woher weißt du das?“
Connor schwieg.
„Ich habe am 27. März Geburtstag!“, erklärte sie überwältigt.
„Drei mal neun sind siebenundzwanzig. Und neun geteilt durch drei sind drei.“
„Connor, wann bist du geboren?“
„Am 27. September.“
Er lächelte und erwartete ihre Rechenaufgabe.
„Du bist auch eine Haselnuss! Und was für eine!“, strahlte sie.
„Und nicht nur das, Hazel“, murmelte er leise und biss sich auf die Lippen.
„Wie meinst du das?“
Forschend sah sie ihn an, doch er biss hastig von seinem Käsebrot ab.
„Ist dir noch etwas aufgefallen, Hazel?“, fragte er schließlich, als er den großen Bissen hinuntergeschluckt hatte.
„Ja, sofort!“ Sie lachte. „Das ist wohl mehr ein Zufall, oder?“
„Nichts ist Zufall, Hazel! Alles gehört zu einem großen Plan, den es zu erfüllen gilt. Vielleicht haben deine Eltern dich Hazel genannt, weil sie es tief im Inneren gespürt haben oder es wurde ihnen eingegeben, damit du selbst eines Tages dahinterkommst, was deine Aufgabe im Leben ist.“
„Glaubst du wirklich, dass alles vorbestimmt ist?“
„Ganz fest!“
„Und wer entwirft diesen großen Plan, von dem du sprichst?“
Connor zögerte.
„Sag schon!“ drängte Hazel ihn.
„Die Götter.“
„Welche Götter?“, fragte sie ängstlich und dachte an Fairtheoir Túláin und seine Leidenschaft, Schädel zu sammeln.
„Die Götter sind überall. In jedem Fels, in jedem Berg, in den Sümpfen, in Quellen, Seen und Flüssen. Besonders auch in den Wäldern, ja, in jedem einzelnen Baum!“
In der Enge des Höhleneingangs fiel es Connor schwer, seine weit schweifenden Handbewegungen auszuführen, mit denen er die Götter in ihrer Allgegenwart bestätigte.
„Die Götter der Flüsse und Seen galten einst als Lebensspender, denn das Wasser war heilig. Um sie wohlwollend zu stimmen, wurden ihnen häufig wertvolle Gegenstände geopfert, die man in der Neuzeit in Seen und Sümpfen gefunden hat.“
Vor ihrem inneren Auge erschienen Hazel golden glänzende Gefäße, die in gläsernen Vitrinen ausgestellt Museumsbesuchern Rätsel aufgaben.
„Weiterhin hatten die Götter die Macht über Erfolg oder Misserfolg der Ernte“, fuhr Connor euphorisch fort, „sie hatten Einfluss auf die Fruchtbarkeit von Boden, Mensch und Tier. Und sie galten als Vermittler zwischen Erde und Jenseits. Denn wie du bestimmt weißt, Hazel, glaubten die Kelten an Reinkarnation.“
Prüfend blickte Connor in zwei weit geöffnete braune Augen.
„Das Leben war ein endloser Zyklus von Vergehen und Wiederauferstehen. Deshalb war auch die Erde, in der die Toten begraben waren, heilig. In ihren Gräbern wurden ebenfalls Gegenstände gefunden, aber nicht als Opfergabe für die Götter, sondern als Beigabe für das nächste Leben. Stell dir vor, Hazel“, Connors Augen leuchteten strahlender denn je, „bei den Kelten gab es keine Vorstellung von der Hölle. Jeder gelangte ins Jenseits, und die Seele lebte immer weiter. In einem anderen Körper.“
Begeistert sah er Hazel an.
„Aber die Seelen, die Fairtheoir Túláin gefangen hält, können nicht in einem anderen Körper weiterleben, oder?“
„Ich schätze, ja“, mutmaßte Connor. „Das muss schlimm für sie sein.“
„Dann müssen wir sie befreien!“, schlug Hazel vor.
„Und uns den Groll des Felsengotts zuziehen?“
„Wenn du ihn mit dem Stein besänftigst?“
Connor überlegte.
„Vielleicht.“
Lange Zeit sprachen sie nicht, bis Hazel laut dachte.
„Wenn aber all diese Götter den großen Plan für jeden Menschen entworfen haben, warum ließen sie dann die armen Toten dort unten in die Höhle gehen, um den Kessel zu stehlen? Warum sollten sie für immer verdammt sein?“
„Vielleicht mussten einige wenige dieses Schicksal erleiden, damit andere Menschen daraus lernten. Vielleicht haben die Götter Menschen geopfert, um ihre Mitmenschen auf den rechten Weg zu führen, hin zu Gerechtigkeit und Gemeinschaftssinn. Zum Frieden.“
„Das ist aber schaurig!“
„Ja, und es gibt noch mehr schaurige Geschichten über die Kelten, die aber zum großen Teil von den Römern erfunden und überliefert wurden, um dem keltischen Volk und besonders den Druiden zu schaden.“
„Du, Connor?“
Ängstlich blickte Hazel auf den Baum, den sie zu ihren Füßen in den Sand gezeichnet hatte und von dem nunmehr feuchte Spuren übrig waren, nachdem sie ihn mit der Hand hastig fortgewischt hatte.
„Ja?“
„Warum hast du vorhin geweint?“
„Ich habe zurückgesehen.“
„Wie? Zurück?“
„Weit in die Vergangenheit, Hazel.“
Langsam gab Hazel die Frage auf, wie er es anstellte, Dinge zu sehen, die dem Normalsterblichen verborgen blieben. Normalsterblichen?
Hazel schauderte.
„Connor, was hast du gesehen?“
„Feuer.“
„Was für ein Feuer?“
Connor dachte nach. Dann erhob er sich vorsichtig aus der unbequemen Stellung und reckte auf dem Felsplateau seine Glieder. Wie ein Riese, der morgens aus dem Bett gestiegen war, sah er aus, dachte Hazel. Schnell verdrängte sie den Gedanken an sein Bett und fragte erneut.
„Was für ein Feuer, Connor?“
„Das erzähle ich dir ein anderes Mal. Sieh nur, Hazel, ist das nicht Bens Boot dort draußen?“
Gerade noch wollte sie nachbohren, wurde nun aber abgelenkt durch den Fischkutter, der langsam vor der Küste kreuzte.
„Ja, das ist Ben!“, rief sie und winkte ausladend mit beiden Armen.
Ein Signal ertönte, und an Deck erschien eine gelbe Windjacke, die sich aufblähte wie eine dicke Boje. Wild fuchtelte die Boje mit den Armen und deutete hinauf zur Straße.
„Er will uns warnen“, vermutete Connor. „Er will verhindern, dass wir in die Höhle steigen.“
„Aber warum?“
„Das wissen nur die Götter – und Ben.“
„Aber wir werden es herausfinden, ja?“
„Ja, Hazel, wir werden wiederkommen. Bei Ebbe, und dann besuchen wir Fairtheoir Túláin!“
„Yeah!“, kreischte Hazel und hatte Mühe, zwischen den glitschigen Felsen das Gleichgewicht zu halten.
Schnell packte Connor ihre Picknick-Utensilien in den Rucksack, schwang diesen auf den Rücken und stieg mit Hazel die felsige Steilküste hinauf. Erst als sie oben angekommen waren und einige hundert Fuß auf der Straße Richtung Norden zurückgelegt hatten, drehte das Fischerboot bei und fuhr langsam zum Mull hinunter, wo es die Halbinsel umfahren würde, um zurück nach Portmullen zu gelangen.
Nachdem die Wanderer den Großteil der Strecke zurückgelegt hatten, blieb Connor plötzlich stehen.
„Wir haben etwas vergessen, Hazel!“
„Was denn? Hast du den Stein verloren?“, fragte sie erschrocken.
Doch Connor grinste nur breit.
„Ich wollte dich doch tragen!“
Und schon hatte er sich vornüber gebeugt und mit der rechten Hand blitzschnell Hazels Beine vom Boden gehoben, während er den linken Arm um ihren Rücken legte, so dass sie wie eine Verletzte in den Armen des barmherzigen Samariters lag. Oder des Sonnengotts, der mit dem Himmelskörper langsam hinter dem Horizont versank, um am nächsten Morgen wiedergeboren zu werden.