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Donnerstag, 2. September 2010 – Portmullen, Hafen

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Frisch geduscht trat Hazel aus dem kleinen Haus in der Crosshill Avenue, wo sie bereits seit drei Jahren in einer Zwei-Zimmerwohnung lebte. Feucht glänzte noch ihr Haar, doch das Trocknen würde der Fahrtwind übernehmen. Mofa statt Föhn, das war ihre Devise, denn es machte doch viel mehr Spaß, mit fliegendem Haar durch die abendliche Stadt zu fahren, als im stickigen Bad kostbare Zeit zu vergeuden. Deshalb blieb der Helm auch heute am Lenker hängen, während Hazel in Jeans und Lederjacke auf ihr Fahrzeug stieg, die schwarze Sonnenbrille aufsetzte und das Mofa unter lautem Knattern startete. Blaugraue Abgaswolken stoben aus dem Auspuff, doch Hazel fuhr ihnen flink davon. Böse Blicke erntete sie regelmäßig von ihrer Nachbarin Jenny, die die erste Etage mit ihr teilte, denn Hazels Mofa stieß seinen giftigen Atem am liebsten unterhalb ihres Schlafzimmerfensters aus.

Endlich hatte Hazel Feierabend. Magnus war heute wieder schwer zu ertragen gewesen, und sie war froh, den Hauch von Freiheit zu spüren, der zusammen mit dem spätsommerlichen Seewind um ihren Kopf wirbelte. Stürmisch zog er an ihrem Haar, während sie die Ralston Road hinunter zur Main Street fuhr, die geradewegs zum Hafen führte, wo Bens Boot am Kai lag.

Sie liebte es, abends durch die Straßen der Stadt zu fahren, vorbei an Emilys Grundschule, der Royal Bank of Scotland und dem imposanten Town House, dessen Turm sich steil in den Himmel streckte, als wollte er nach schönem Wetter Ausschau halten. Unterwegs winkte sie Hannah zu, Caitlins älterer Schwester, die in der Main Street bei einem Juwelier arbeitete, und Riley, dem Mechaniker, der Hazels Mofa schon im Schlaf zerlegen und wieder zusammensetzen konnte. Gerade hatte er seine Werkstatt in der Shore Street abgeschlossen und fuhr nun in seinem grünen Pickup grüßend an Hazel vorbei. Aus dem offenen Fenster rief er laut: „Hi, Hazel!“, doch seine Worte verloren sich im Motorenlärm, so dass Hazel wie eine Taubstumme den Gruß von seinen Lippen ablas.

Am liebsten hätte sie die Augen geschlossen und davon geträumt, irgendwo im Süden durch eine italienische oder französische Stadt zu fahren, den Geruch von Pizza in der Nase, melancholische Chansons im Ohr und die Lippen heiß von Giorgios Kuss oder Pierres, Philippes oder Antonios. Rotwein und Baguette, ein warmer Sandstrand, an dem glühend rot die Sonne unterging und sanfte Klänge auf der Gitarre, bis die Sterne hell am Himmel leuchteten.

Möwen kreischten über dem Hafen, eine kühle Brise, die einen Hauch Malt mitführte, kroch in Hazels Nacken und holte sie nach Schottland zurück. Das Wasser war aufgewühlt, Boote tanzten auf den Wellen Ceilidh, Segel flatterten wie große Bettlaken an der Wäscheleine eines Meeresgotts, und Metallösen schlugen klingelnd an unzählige Masten. Viele Touristenyachten lagen unten am Steg. Doch mit dem Sommer würden sie den Hafen verlassen und das Regiment an die einheimischen Fischkutter zurückgeben, denen sie mit ihrem strahlenden Weiß und der exklusiven Ausstattung alljährlich die Schau stahlen. Nicht nur Bens altes Fischerboot hatte vom alltäglichen Kampf mit dem Meer Rost angesetzt, sondern auch die wenigen anderen, die noch übrig geblieben waren. Vorbei war die Zeit, in der die meisten Familien in Portmullen ihren Lebensunterhalt mit dem Fischen verdienten. Heute lebte man überwiegend von der Landwirtschaft und dem Tourismus. Selbst die Glanzzeit der Destillerien war Vergangenheit. Mitte des neunzehnten Jahrhunderts hatte es im Ort vierunddreißig Whisky-Brennereien gegeben, und Portmullen hatte sich stolz als Whiskyhauptstadt der Welt bezeichnet. Doch lediglich drei Destillerien waren davon übrig geblieben. Ob allerdings der Konsum von Whisky abgenommen hatte, wagte Hazel zu bezweifeln. Auch ihr Freund Ben unterstützte die örtlichen Brennereien großzügig und sorgte somit dafür, dass sein hart verdientes Geld den Einwohnern die Arbeitsplätze sicherte.

Häufig besuchte Hazel Ben abends im Hafen, wo sie an Deck seines Bootes das goldene Lebenswasser genossen, von dem immer eine Flasche an Bord war. Mit dem Rücken an die Kabinenwand gelehnt, das Glas in der Hand, saßen sie im Windschatten, beobachteten den Sonnenuntergang und sprachen über tägliche Ereignisse, Hazels Chef, Bens Fangstrategien, Musik, Sport und manchmal, wenn sie in Stimmung waren, auch über ihre Träume und Lebensziele.

Es gab Leute, die ihre Nasen rümpften, wenn sie Hazel mit Ben sahen. Es gehörte sich einfach nicht, dass eine junge Frau abends im Hafen auf einem Fischerboot Whisky trank, noch dazu allein mit einem Mann, den sie laut Mrs. MacFarlane nicht einmal zu heiraten gedachte.

Üblicherweise begegnete Hazel Mrs. MacFarlane nur im Ort, wenn sie mittags die Gärtnerei verließ, um schnell ihre Einkäufe zu erledigen. Dann hatte die alte Farmersfrau regelmäßig eine Gruppe ebenso alter Damen um sich geschart und vertraute ihnen hinter vorgehaltener Hand die neuesten Skandale an, von denen die betroffenen Personen häufig nicht einmal etwas ahnten.

Doch heute Abend entdeckte Hazel die graue Dauerwellenfrisur zwischen den Yachten. Auf dem schmalen Holzsteg lief Mrs. MacFarlane unruhig hin und her und drehte dabei den Kopf nervös in alle Richtungen, gerade so, als wäre sie eine Schmugglerbraut und auf der Hut vor der Küstenwache. Hazel stellte ihr Mofa am Kai ab, drehte ihr zerzaustes Haar zu einem provisorischen Zopf und näherte sich den Fischerbooten. Was tat Mrs. MacFarlane dort zwischen den teuren Yachten der Urlauber? Die alte Dame im bunt gemusterten Nylonrock trippelte mit ihren ausgetretenen Kunstleder-Sandalen aufgeregt umher, bis sie sich plötzlich hinter einem der Schiffsrümpfe duckte und neugierig den Hals reckte. Wie eine Giraffe, die heimlich das saftige Laub vom verbotenen Baum naschen wollte. Hazel folgte ihrem Blick und entdeckte Ben, der an Deck seines Bootes stand und sich mit einem Mann unterhielt, den Hazel noch nie gesehen hatte. Er war so groß, dass er Ben in die Augen sehen konnte, obwohl der Steg tiefer gelegen war als das Bootsdeck. Im Näherkommen bemerkte sie, dass er zu einem rotkarierten Hemd eine dunkelbraune Wildlederhose trug und eine Weste aus dem gleichen Material, dazu derbe Wanderstiefel. Seine schwarzen Locken reichten bis auf den Hemdkragen und wirbelten im Wind wild um seinen Kopf herum. Wie zufällig sah Hazel zurück in Mrs. MacFarlanes Richtung, und tatsächlich schien sie die beiden Männer zu beobachten, die sich angeregt unterhielten. Kaum hatte Hazel die alte Frau entdeckt, verschwand ihr grauer Kopf hinter dem schützenden Bug der Yacht. Nicht zu glauben! Sie führte sich auf wie Miss Marple persönlich. Fehlte nur noch ihr Freund Mr. Stringer. Wer war wohl dieser große Mann neben Ben, und was hatte er zu verbergen, dass er hier zu dieser Tageszeit unter Mrs. MacFarlanes detektivischer Beobachtung stand? Plötzlich blickte Ben auf, zog sich die Mütze vom Kopf und schwenkte sie in der Luft.

„Hi, Hazel!“, kamen seine Worte angeflogen.

Ben wirkte kleiner als sonst und schmaler, obwohl der Wind seine blaue Arbeitshose und die leuchtend gelbe Windjacke tüchtig aufblies.

„Hi, Ben!“, rief sie zurück und beschleunigte ihren Schritt.

Gerade als Hazel die Männer erreicht hatte, drehte sich der Fremde um.

Die tiefstehende Abendsonne verlieh seinem Gesicht einen goldenen Ton, in dem die Augen wie zwei Fremdkörper wirkten. Leuchtendes Aquamarinblau bildete einen kühlen Kontrast zum warmen Rotgold seiner Haut und schien wie von einer anderen Welt, die tief begraben am Meeresgrund ruhte. Wie zwei verborgene Höhlen im Felsgestein von Kintyre entführten sie Hazels Blick hinab in die Tiefe, in der sie die Verlockung der Fremde spürte und gleichzeitig den vertrauten Klang des ewigen Meeres wahrnahm, der sie Zeit ihres Lebens begleitet hatte. Aquamarinblaues Wasser strömte durch diese Höhlen und spülte Hazel mit sich fort. Immer tiefer und tiefer wurde sie gezogen, doch sie fürchtete sich nicht. Diese Welt, in die sie eindrang, war ihr fremd und vertraut zugleich. Sie spürte, dass sie nicht allein war. Eine unerklärliche Macht ließ sie erschauern.

„Hazel, was ist los?“

In der Ferne hörte sie Bens Stimme, doch wie gebannt konnte Hazel ihren Blick nicht von diesen Augen abwenden. Unter der Oberfläche des Mannes, der mächtig wie ein Felsmassiv vor Hazel stand, brodelte eine Meeresflut, die sich im Sturm aufbäumte und mit weißer Gischt an das Gestein spritzte, aufgewühlt und ungebändigt.

„Hazel?“, rief Ben erneut. „Hazel, geht’s dir nicht gut?“

Unter Anstrengung gelang es ihr, den Blick fortzureißen und Ben zu begrüßen.

„Doch, doch“, stammelte sie, „hi, Ben!“

„Was ist denn mit dir los, Hazel? Hast du zu tief in die Flasche geguckt?“, wunderte sich Ben, der seine Freundin selten so abwesend und verunsichert erlebt hatte.

„Nein, ist schon okay! Willst du uns nicht miteinander bekannt machen?“

Ihr Blick wanderte erneut zu dem fremden Mann, um dessen Gesicht herum ein Kranz schwarzer Locken im Seewind tanzte.

„Ach so, ja“, begann Ben, „seinen Namen kenn‘ ich auch noch nicht! Dies ist jedenfalls Hazel, wie du sicher schon bemerkt hast!“ grinste er den Fremden an und zeigte auf seine Freundin.

„Und ich bin Connor“, sprach eine ruhige, dunkle Stimme.

War es die kühle Luft, überlegte Hazel, oder ihr feuchtes Haar, das ihr eine Gänsehaut über den Körper jagte? Ihre Nackenhaare stellten sich auf, und der Schauer lief hinab über ihre Arme, ihre Brust, bis zu den Oberschenkeln.

„Hallo, Connor“, hörte sie sich antworten, und sein Name klang wie ein Echo in ihrem Kopf.

Connor streckte ihr seine Hand entgegen, die Hazels groß und kräftig umschloss. Sie zuckte zusammen und fragte sich, ob er es auch gespürt hatte. Wie ein Blitz, wie elektrische Ladung war ein Gefühl durch ihren Körper geschossen, das sie nie zuvor gespürt hatte.

Ben beobachtete den großen Mann mit Argwohn.

„Du kannst sie jetzt wieder loslassen!“, bemerkte er trocken.

Hastig zog Connor seine Hand zurück und räusperte sich, während Hazel ihre Hand tief in der Tasche ihrer Lederjacke vergrub. Erst jetzt bemerkte sie den breiten, silbernen Ring an seinem kleinen Finger. Hazel erstarrte.

„Ich habe Ben um Auskunft gebeten“, erklärte Connor. „Ich interessiere mich sehr für die Küstenregion von Kintyre. Und da ein Fischer das Land von der Seeseite am besten kennt, habe ich Ben gefragt.“

„Er wollte wissen, ob es hier Höhlen gibt.“

Hazel schaute Ben stolz an.

„Da hat er ja den Richtigen gefragt!“, lachte sie, wendete den Kopf zu Connor und erklärte:

„Wenn hier einer etwas über alte Schmuggler-Höhlen weiß, dann Ben!“

„Na, schmuggeln möchte ich nicht“, stellte Connor klar, „es handelt sich mehr um ein historisches Interesse.“

„Bist du Archäologe?“, fragte Hazel gespannt. „Oder Geschichtsprofessor?“

Connor lachte. „So etwas Ähnliches.“

„An der Westküste von Kintyre gibt es ein paar Höhlen“, berichtete Ben, „doch die wenigsten Leute kennen sie. Man kann sie nur vom Meer aus einsehen und nur bei Ebbe betreten. Wenn die Flut zurückkommt, muss man sie wieder verlassen haben, sonst wird man eingeschlossen und ertrinkt. Der Wasserpegel steigt dort nämlich so stark an, dass die Höhlen komplett durchspült werden.“

Aquamarinfarbene Höhlen. Hazel zuckte erneut zusammen.

„Verrätst du mir, Ben, wo ich solch eine Höhle finden kann?“, fragte der große fremde Mann.

Ben zögerte.

„Es wird erzählt“, begann er geheimnisvoll, „dass es in der Nähe von Killocraw eine Höhle gibt, die weit unter das Land reicht und früher einmal Sitz des keltischen Felsengotts Fairtheoir Túláin gewesen sein soll. Doch niemand, den ich kenne“, erklärte Ben düster, „hat sie jemals betreten.“

„Warum nicht?“

Ben lachte nervös.

„Es soll ein Fluch auf der Höhle liegen.“

Hazel lachte.

„Das glaubst du doch selbst nicht, Ben!“

Er senkte den Blick.

„Nein. Nein, nicht wirklich. Aber wer weiß, ob nicht doch etwas Wahres dran ist?!“

„Was für ein Fluch?“, erkundigte sich Connor gebannt.

„Man sagt, in der hintersten Kammer soll es von Schädeln wimmeln!“, hauchte Ben.

Hazel schauderte.

„Und die restlichen Knochen der Skelette?“, fragte Connor.

„Die soll Fairtheoir Túláin ins Meer geworfen haben, damit die Köpfe auch nach dem Tod nicht wieder fortlaufen konnten!“

„Und was wollte er mit den Köpfen?“, fragte Hazel gespannt.

„Der Kopf galt als Sitz der Seele“, erklärte Connor nun, und Ben sah ihn mit geweiteten Augen an.

„Ja“, bestätigte er, „und Fairtheoir Túláin wollte die Seelen gefangen halten, weil sie in sein Haus eingedrungen waren, um den heiligen Kessel zu stehlen.“

„Was für einen heiligen Kessel?“, staunte Hazel.

„Der Kessel erweckte die Toten zum Leben, und er war immer gefüllt mit Speisen. Niemals war er leer, egal, wie viel daraus gegessen wurde!“

„Wow!“, rief Hazel aus. „Und heute sammelt der alte Fairtheoir Túláin immer noch Schädel? Zur Strafe und zur Abschreckung?“

„So wird es erzählt“, bestätigte Ben.

„Aber du kennst niemanden, der in der Höhle war?“ Connor blickte ihn fest an.

„Du glaubst mir nicht?“

„Doch, ich glaube dir, Ben, aber ich möchte mir gern die Höhle ansehen, und da ist es von Vorteil, wenn man sich vorher eingehend informiert.“

„Du willst in die Höhle?“ Entgeistert blickte Hazel in die hellblauen Augen und sah schon Connors Seele über dem brodelnden Kessel schweben.

„Ja, ich möchte herausfinden, inwieweit die Überlieferung der Wahrheit entspricht.“

„Na, dann viel Spaß!“, erklärte Ben. „Ich werde deinen Schädel nicht befreien!“

„Aber du zeigst mir, wo die Höhle ist?“

„Wenn du dich unbedingt in Lebensgefahr begeben willst...“

„Dann komm‘ ich aber mit!“, entschied Hazel plötzlich und fragte sich, woher sie den Mut nahm, sich kopfüber in solch ein Abenteuer zu stürzen. Und woher den heftigen Antrieb, diesem fremden Mann in die Unterwelt von Kintyre zu folgen.

Ben sah sie entsetzt an.

„Hazel, das kann gefährlich werden!“

„Ach, ich pass‘ schon auf meinen Kopf auf. So eine wilde Seele wie meine lässt Fairtheoir Túláin sowieso wieder frei, wenn er erst gemerkt hat, wie ungemütlich sein beschauliches Höhlenleben plötzlich wird!“ Sie lachte laut los.

„Ihr nehmt mich nicht ernst“, stellte Ben beleidigt fest und verstand nicht, warum seine Freundin so Feuer und Flamme war, mit diesem Mann in ihr Unglück zu laufen. Natürlich kannte er die Euphorie, mit der Hazel sich in neue Ideen stürzte, ihren Übermut, ihre Leichtfertigkeit. Doch heute Abend hatte sie sich zu vorschnell dem verrückten Plan dieses fremden Mannes hingegeben. Eine seltsame Anziehungskraft ging von ihm aus, und Ben machte sich Sorgen.

Dolúrna

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