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Kapitel 6 Paris, April 1926
ОглавлениеEin jäher Schmerz brachte Vincent in die Gegenwart zurück. Tränen schossen ihm in die Augen, und er begann, unkontrolliert zu zittern. Kopf und Beine hatten Feuer gefangen, während sein Körper dazwischen aus Luft zu bestehen schien. Als ob sein Torso herausgeschnitten worden wäre. Ihn überkam Panik, und er blinzelte heftig. Ein Schatten beugte sich über ihn. Vincent wollte aufspringen, um sich schlagen, weglaufen, doch er war in einem Schmerzpanzer gefangen, unfähig, sich zu bewegen. Weil Tränen ihm die Sicht raubten, konnte er keine Details erkennen, also blinzelte er so lange, bis das Bild einigermaßen klar wurde. Vor ihm stand ein Mann mit einem faltigen Gesicht, das von einem dicken schwarzen Schnurrbart dominiert wurde, darüber thronte ein wirrer Lockenkopf, der an manchen Stellen bereits weiß wurde. Die dunklen Augen schauten besorgt, und es sah nicht so aus, als würde er das Werk der Näherin fortsetzen wollen.
Der eiserne Griff in Vincents Nacken lockerte sich etwas, dennoch fühlte sich sein Schädel zentnerschwer an, als er ihn zur Seite drehte, um sich umzuschauen. Die Seitengasse war verschwunden. Keine Leuchtreklamen, keine Straßenlaternen, kein fernes Hupen. Nur Zwielicht und ein beunruhigendes Wispern. Vincent fröstelte.
„Wo bin ich?“, krächzte er und spuckte einen Klumpen Blut aus.
„Im Bois de Boulogne“, antwortete der Fremde. Er sprach Französisch mit deutschem Akzent.
„Wie komme ich hierher?“
„Sie können sich nicht erinnern?“
Vincent schüttelte den Kopf und bedauerte es sofort, als ihn eine Welle der Übelkeit überkam. Benommen umfasste er die Holzbank, auf der er saß, und senkte den Blick. Zu seinen Füßen lagen jede Menge blutige Taschentücher.
„Halten Sie still, Monsieur“, sagte der Mann weiter. „Ihre Nase ist gebrochen. Ich habe sie wieder gerichtet, aber Sie müssen langsam machen. Ich glaube, Sie haben eine Gehirnerschütterung.“
„Was ist passiert?
„Dahinten steht mein Kiosk.“ Der Fremde zeigte in eine unbestimmte Richtung.
Ein Deutscher, der in Paris einen Kiosk betrieb?
Vincent wunderte sich, sagte jedoch nichts. „Ich habe gesehen, wie ein Automobil am Bois angehalten hat“, erklärte der andere weiter, „dann sind zwei finster aussehende Burschen ausgestiegen und haben Sie hier abgeladen.“
Wie in Zeitlupe hob Vincent die rechte Hand, um seine Nase zu berühren und zuckte zusammen. „Sie haben meine Nase gerichtet, sagen Sie?“
„ Ja, keine große Sache. Ein kleiner Ruck, mehr war nicht nötig.“ Der Mann verschränkte die Arme. „Man hat Sie übel zugerichtet, Monsieur. In wenigen Stunden wird Ihr Gesicht grün und blau sein, fürchte ich.“
Vincent lehnte sich vorsichtig zurück. „Und Sie sind?“
„Nennen Sie mich Bébère.“
„Ihr Kiosk ist um diese Uhrzeit noch geöffnet?“
Der andere warf ihm einen unergründlichen Blick zu. „Das kommt vor.“
Vincent, der sich benommen fühlte, schloss die Augen.
„Wissen Sie, wer die waren, Monsieur?“
Vincent wollte nicken, besann sich aber rechtzeitig. „Ja.“
Wut überkam ihn, als er an Freddy und dessen Freunde dachte. Unwillkürlich ballte er die Fäuste, und der Druck in seinem Kopf stieg unangenehm an.
„Sie müssen zur Polizei gehen und Anzeige erstatten“, warf sein Retter ein, was er geflissentlich ignorierte.
Stattdessen öffnete er die Augen und blickte seinen Gegenüber an. „Ich heiße Vincent. Vincent Lefèvre.“
Als Bébère lächelte, erweckte er eindrucksvolle Krähenfüße zum Leben. „Sehr angenehm.“
„Bébère ist die Abkürzung von Albert, richtig?“, fragte Vincent.
Kurzes Nicken.
„Und Ihr Nachname?“ Vincent wusste gern, mit wem er es zu tun hatte.
„Einfach nur Bébère.“
Heute konnte er eine Ausnahme machen. „Ich danke Ihnen für Ihre Hilfe, Bébère.“
Als er versuchte aufzustehen, fuhr ein scharfer Schmerz durch seine Knie.
„Monsieur, was tun Sie da?“
„Ich muss nach Hause.
„Sie sollten sich erst einmal ausruhen.“
„Haben Sie Telefon?“
Bébère lachte. „Telefon in einem Kiosk?“
„Sie haben recht.“ Vincent seufzte. „Wie weit ist es bis dahin?“
„Keine hundert Meter. Ich werde Sie stützen. Allein hätte ich Sie nicht tragen können, deshalb habe ich Ihre Nase gleich hier verarztet. Ich wollte nicht, dass Sie an Ihrem eigenen Blut ersticken.“
„ Sehr aufmerksam.“ Vincent schnitt eine Grimasse. „Kommen Sie, verschwinden wir von hier! Ich frier mir den Hintern ab.“
„Gern.“
Mit Bébères Hilfe stand er auf. Der ältere Mann war zwar einen halben Kopf kleiner, dennoch umfasste er ihn entschlossen, sodass sich Vincent auf seine Schulter stützen konnte. Ein schlecht beleuchteter Kiesweg führte aus der Dunkelheit heraus, und schon bald erhaschte Vincent zwischen den wispernden Bäumen ein Glitzern, das sich beim Näherkommen als typischer Pariser Kiosk entpuppte. Er stand direkt am Eingang zum Bois: ein fünfeckiger, holzverkleideter Bau mit einer Kuppel, die an einen indischen Tempel erinnerte. Obwohl der Kiosk geschlossen war, leuchtete er wie ein Weihnachtsbaum. Ein strahlendes Eiland in der Finsternis.
„Ich mag Elektrizität“, sagte Bébère, als hätte er Vincents Verwunderung gespürt. „Sie eröffnet einem ganz neue Möglichkeiten.“
Kaum hatten sie den Kiosk erreicht, kramte er in seiner Tasche nach dem Schlüssel, während Vincent mit geschlossenen Augen an der Wand lehnte. Dann öffnete Bébère die Tür, und ein Lichtspalt zeigte sich auf dem Boden. Hell und verführerisch. Dankbar kam Vincent der Einladung nach und humpelte ins Innere.
„Nehmen Sie Platz, Monsieur Lefèvre.“
„Vincent“, verbesserte er den anderen, während er sich auf den einzigen vorhandenen Stuhl setzte. „Danke.“
„ Hier.“ Bébère legte ihm eine Wolldecke um die Schulter, die zwar muffig roch, ihn dennoch wie eine warme Umarmung umfing, dann drückte er ihm ein Taschentuch für seine blutende Nase in die Hand. „Und jetzt lassen Sie mich Ihre Beine sehen.“
„Das ist nicht nötig.“
„Zeigen Sie mir Ihre Beine!“
Ihre Blicke trafen sich zu einem stummen Duell. Vincent, dem heute nicht mehr nach Kämpfen zumute war, warf bereits nach wenigen Sekunden das Handtuch und rollte seine Hosenbeine anstandslos nach oben. Als Bébère die violette Färbung auf seinen Knien sah, stieß er einen leisen Pfiff aus, dann tastete er die Stelle vorsichtig ab. Indessen begutachtete Vincent neugierig seine Umgebung. Dabei legte er den Kopf leicht in den Nacken, um die Blutung aus seiner Nase zu stoppen. Zur Straße hin befand sich eine große Öffnung, die mit einem Holzbrett verschlossen war, daneben stand eine relativ neu aussehende Registrierkasse. Ein Monstrum aus Metall mit Knöpfen, Schaltern und einer Kurbel an der Seite. Eine ähnliche Kasse befand sich auch hinter der Bar des Nuits Folles . In den Regalen rundum stapelten sich Zeitungen und Magazine wie Ziegelsteine aufeinander, dazwischen gab es jede Menge Nippes: Postkarten, Papiervögel, handgroße Eiffeltürme, Puppen in Cancan-Kostümen, Miniaturholzschuhe, bunte Murmeln, muschelbesetzte Schmuckkästchen, Zuckerstangen, ein volles Bonbonglas.
„Interessanter Laden“, murmelte Vincent.
Bébère schmunzelte. „Danke, ich sehe ihn als ein Sammelsurium menschlicher Entgleisungen.“ Dann wurde er ernst. „Ich bin zwar kein Arzt, aber ich glaube nicht, dass etwas gebrochen ist. Vielleicht haben Sie eine Verstauchung.“
Nach diesen Worten richtete er sich wieder auf und streckte sich. Dabei knackte es in seinem Rücken.
„Haben Sie keinen zweiten Stuhl?“, fragte Vincent, der ein schlechtes Gewissen hatte. Schließlich war der Mann älter als er.
Bébère zögerte eine Sekunde, bevor er den Kopf schüttelte. „Nein.“
„Mhm.“
„Aber das ist kein Problem. Sehen Sie!“ Er schnappte sich einen Stapel Zeitungen und setzte sich darauf. „Die Ausgaben vom letzten Monat.“
Eine Zeitlang blickten sie sich schweigend an, bis Vincent die Stille brach.
„ Was hat Sie eigentlich nach Paris verschlagen? Es gibt viele Ausländer hier, aber meistens sind es Russen oder Amerikaner. Seit Unterzeichnung des Versailler Vertrags machen Ihre Landsleute eher einen großen Bogen um unser Land.“
„Sie nehmen wohl kein Blatt vor den Mund, was?“ Bébère wirkte eher amüsiert als verärgert.
„Ich bin bloß neugierig.“
„Ich brauchte einen Tapetenwechsel. Irgendwie hatte ich das Gefühl, dass hier eine Aufgabe auf mich wartet.“
„Was für eine Aufgabe?“
„ Das weiß ich auch nicht. Wenn es soweit ist, werde ich es schon merken.“ Bébère grinste. „Und was machen Sie so im Leben?“
Vincent entging der abrupte Themenwechsel nicht, doch weil er in Bébères Schuld stand, ließ er die Sache auf sich beruhen. „Ich betreibe einen Klub“, antwortete er und tupfte sich die Nase ab. Inzwischen war das gesamte Taschentuch rot gefärbt. „Vielleicht haben Sie schon mal davon gehört: das Nuits Folles unten in Pigalle.“
Bébères Gesicht hellte sich auf. „Na und ob! Es heißt, es sei ein sehr schicker Laden und nicht minder verrucht. Allerdings war ich noch nie dort. Ich gehöre nicht unbedingt zu Ihrer Klientel.“
Vincent rang sich ein Lächeln ab, das sich anfühlte, als würde man ihm ein glühendes Eisen unter die Gesichtshaut stoßen. „Es wäre mir eine Ehre, Sie bei uns begrüßen zu dürfen. Selbstverständlich geht dann alles aufs Haus!“
„Ich danke Ihnen. Wer weiß, vielleicht eines Tages ...“ Bébère zwinkerte, was ihm ein spitzbübisches Aussehen verlieh, dann reichte er Vincent ein frisches Taschentuch, das er aus der Hosentasche zog. Offenbar besaß er einen unerschöpflichen Vorrat. „Wie laufen die Geschäfte? Ich hoffe, gut.“
Vincents Gesicht verschloss sich schlagartig.
„Oh, tut mir leid. Ich wollte nicht indiskret sein.“
Vincent machte eine wegwerfende Handbewegung. „Schon gut. Sie haben nur einen wunden Punkt getroffen.“
„Wollen Sie darüber reden?“
Vincent war kein Mensch, der sich Fremden anvertraute, hatte ihn das Leben doch gelehrt, dass sie meistens nichts Gutes im Schilde führten. Nachdenklich musterte er Bébère, wie er da auf seinem Zeitungsstapel saß, die dunklen Augen auf ihn gerichtet, die Hände ineinander verschränkt. Im Kiosk war es warm und gemütlich; die gebrochene Nase pochte in erträglichem Maße (sofern er seine Gesichtsmuskeln nicht zu sehr bemühte), die Blutung schien nachzulassen, und die wunden Knie konnte er getrost ignorieren. Als der Deutsche hinter sich griff und eine Flasche Pastis mit zwei Gläsern hervorzauberte, gab das den Ausschlag.
„Es geht um diese verfluchte Methusalem-Seuche“, begann Vincent leise. „Sie wird mich noch ruinieren.“