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Kapitel 7 Paris, April 1926

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„Sie wollen mir also nicht verraten, wer die Leute waren, die Sie so zugerichtet haben?“ Doktor Boudin schaute seinen ramponierten Patienten über den Rand seiner Brille hinweg an.

Vincent zuckte mit den Schultern.

„Wie Sie meinen.“ Der Arzt, ein kleiner Mann mit grauem Spitzbart und Nickelbrille, setzte sich zurück an seinen Schreibtisch. „Sie können sich wieder anziehen.“

Während Vincent hinter dem Paravent verschwand, redete der Doktor weiter. „Sie hatten Glück. Sie haben an den Knien nur einige Prellungen, und was das Wichtigste ist, Ihr Kopf ist heil geblieben. Bis auf das Gesicht natürlich. Trotzdem sollten Sie sich die nächsten Tage schonen. Es kann sein, dass Ihnen immer wieder übel wird.“ Er holte aus der Schublade etwas hervor. „Ich gebe Ihnen eine Cannabistinktur. Ein paar Tropfen unter der Zunge werden genügen, um Ihre Kopfschmerzen zu lindern. Bitte nehmen Sie die Medizin nur einmal am Tag ein.“

„Und die Nase?“

„Sie wird wieder zusammenwachsen.“ Der Arzt blickte auf, als Vincent wieder vor den Paravent trat. „Wer immer Ihre Nase gerichtet hat, wusste, was er tat. Haben Sie eine Eismaschine im Haus?“

Im Klub befindet sich eine.“

„Gut. Sehen Sie zu, dass Sie Ihr Gesicht kühlen, damit die Schwellung abklingt.“

Mache ich.“ Vincent steckte das Fläschchen mit der Tinktur ein, dann zeigte er auf sein entstelltes Gesicht. „Kein sehr schöner Anblick, was?“

Doktor Boudin seufzte. „Ich habe in den letzten Tagen schlimmere Dinge gesehen, glauben Sie mir.“

„Tatsächlich?“, erwiderte Vincent mehr aus Höflichkeit denn aus Interesse.

„Ich war derjenige, der diese arme Frau für tot erklärt hat, wissen Sie.“ Doktor Boudin setzte kurz die Brille ab, um seine Augenlider zu massieren.

„Welche arme Frau?“

Sie haben bestimmt davon gehört.“ Er setzte die Brille wieder auf. „Zurzeit redet man in Paris von nichts anderem. Die junge Frau aus der Rue de Condé, die in ihrem Bett verwelkt ist wie eine Rose in der Wüste.“

Vincent horchte auf. „Véronique Milhaud?“

„Ja.“

Sein Herzschlag beschleunigte sich etwas. „War sie wirklich skelettiert, so wie es in der Zeitung abgebildet war?“

„Aber nein. Was für ein Unfug! Sie sah aus, als …“ Der Arzt suchte nach den richtigen Worten. „… als hätte man ihr das Leben ausgesogen. Ich glaube, die arme Frau hat darüber den Verstand verloren.“

„Wie kommen Sie darauf?“

Doktor Boudin zögerte kurz, offenbar wägte er ab, wie viel er erzählen durfte, dann schüttelte er den Kopf. „Ich kann Ihnen leider nichts darüber sagen.“

„Haben Sie sich nicht so.“ Vincents Stimme hatte einen drängenden Ton angenommen. „Es bleibt auch unter uns.“

„Nein, nein!“ Der Arzt hob abwehrend die Hände. „Ich habe schon zu viel gesagt.“ Plötzlich schien er es sehr eilig zu haben, Vincent loszuwerden. „Entschuldigen Sie, Monsieur Lefèvre, aber mein nächster Patient wartet bereits.“

Vincent verbarg seine Enttäuschung. „Schon gut, Doktor, und vielen Dank“, sagte er und wedelte mit dem Fläschchen in seiner Hand. „Auch für das hier!“

Er hatte gerade noch Zeit, ein letztes Mal zu nicken, bevor die Tür des Sprechzimmers hinter ihm zugeschlagen wurde.

Gustave, der draußen auf ihn wartete, saß auf dem Trittbrett des Peugeot 177 und las Zeitung, in seinem Mundwinkel steckte eine Zigarette, eine Gauloises Caporal, seine Lieblingsmarke. Als er Vincent bemerkte, sprang er auf.

„Patron! Es wird Sie interessieren zu erfahren, dass die Polizei eine Belohnung von 10.000 Francs ausgesetzt hat; für den entscheidenden Hinweis, der zur Lösung der Methusalem-Todesfälle führt.“ Er fuchtelte mit der Zeitung. „Steht hier.“

„10.000 Francs, hm?

„Ja.“

Das würde unsere Probleme auf einen Schlag lösen“, murmelte Vincent nachdenklich. Auf der Hinfahrt hatte er Gustave erzählt, wie er zu seinem neuen Aussehen gekommen war. „Trotzdem würde ich der Näherin lieber meine Faust ins Maul stopfen als Banknoten!“

Nichts für ungut, Patron, aber wir sind nur zu zweit. Die Näherin hat Dutzende Männer, die keine Skrupel haben, ihre Großmutter für hundert Francs abzumurksen.“ Obwohl niemand in Hörweite war, senkte Gustave die Stimme. „Ich habe gehört, Grapache soll eine Schusswaffe besitzen.“

Vincent blickte finster zurück. „Na und? Ich habe auch eine.“

Gustave sagte nichts, rieb sich lediglich den Nasenrücken.

„Keine Sorge“, fügte Vincent hinzu. „Ich habe nicht vor, einen Krieg anzuzetteln. Zum jetzigen Zeitpunkt würden wir mit wehenden Fahnen untergehen. Alles, was ich will, ist den Klub retten.“

„Verstanden, Patron.“ Gustave wirkte erleichtert.

„Und jetzt lass uns zu Magali fahren!“

Sind Sie sicher?“ Gustave drückte seine Gauloises Caporal mit zwei Fingern aus und verstaute sie in der rechten Brusttasche, bevor er seinem Chef die Beifahrertür öffnete. „Sie werden sich einiges anhören müssen.“

Nach der erwarteten Tirade des Entsetzens angesichts seiner geschwollenen Nasenpartie samt blauvioletter Färbung und seines schwerfälligen Humpelns, die Vincent mehrmals vergeblich mit einem „halb so schlimm“ zu stoppen versuchte, erklärte sich Magali bereit, sich in der Rue de Condé umzuhören, um die Hausnummer der Toten in Erfahrung zu bringen. Aber nicht mehr! Vincent war guter Dinge. Der Vormittag hatte eine unerwartete Wendung genommen und ihm neue Möglichkeiten eröffnet. Véronique Milhaud hatte den Verstand verloren, so der Doktor, das Leben war ihr ausgesogen worden ... Äußerst mysteriös. Sobald Vincent die vollständige Adresse der Toten kannte, würde er einen Weg finden, alles darüber zu erfahren. Es gab für ihn zehntausend gute Gründe, dieses Rätsel zu lösen, und Véronique Milhaud war erst der Anfang.

Nachdem sie Magali in der Rue de Condé abgesetzt hatten, parkten Vincent und Gustave in der Parallelstraße und warteten im Wagen auf ihre Rückkehr. Der ehemalige Boxer nutzte die Zeit, um wertvolle Ratschläge zu erteilen.

„Immer schön Eis darauf legen.“

„Ich weiß.“

„Und nicht auf dem Bauch schlafen, Patron!“

„In Ordnung.“

„Aber auch nicht auf dem Rücken, falls Sie wieder Nasenbluten haben.“

„Ich verstehe.“

„Denken Sie daran, den Verband täglich zu wechseln.“

„Ja.“

„Sie wollen doch am Ende nicht so aussehen wie ich.“

„Nein.“

„Dachte ich mir.“

„Ist nicht persönlich gemeint.“

„Weiß ich doch, Patron.“

Nach einer guten Stunde kam Magali zurück. Ihre kurzen Haare waren zerzaust, offenbar war sie gerannt, um ihnen die Neuigkeit schnellstmöglich zu überbringen.

„Ich habe ein paar Geschäfte abgeklappert. Bei Challois, dem Pferdemetzger, bin ich fündig geworden“, begann sie, nachdem sie auf die Rückbank des Peugeots geklettert war, wo Nickel und gelbes Leder glänzten. Sie ließ ein mit Zeitungspapier umwickeltes Bündel lautstark auf den teuren Sitz knallen. „Hüftsteaks“, fügte sie hinzu.

„Fantastisch“, bemerkte Vincent trocken und schluckte die bissige Bemerkung hinunter, die ihm auf der Zunge lag.

Véronique Milhaud hat in Haus Nummer 8 gewohnt“, sagte Magali weiter, während sie ihr Bild im Rückspiegel suchte und ihre Frisur, so gut es ging, wieder in Ordnung brachte. „Aber das ist nicht alles. Der gute Mann konnte mir noch ein paar Informationen aus erster Hand liefern. Er hat sie von einem jungen Mädchen, das im Haus der Milhauds als Dienstmädchen arbeitet. Ein recht einfältiges, aber sehr gesprächiges Ding. Madame Milhaud war offenbar die Tochter eines Notars aus Lyon.“ Als Magali sich nach vorne lehnte, konnte Vincent ihr Parfum riechen. „Gerüchten zufolge ist ihr Vater in einen Skandal verwickelt gewesen, der es seiner Tochter unmöglich gemacht hat, in Lyon einen wohlhabenden Ehemann zu finden. Genaueres konnte mir der Metzger auch nicht sagen. Nur dass ihre Eltern sie nach Paris geschickt haben, damit sie hier ihr Glück macht. Der Plan ist aufgegangen, wie es aussieht, auch wenn die Arme nicht viel davon gehabt hat. Maurice Milhauds Vermögen wird auf fünfhunderttausend Francs geschätzt.“

Dankbar nahm Magali das Zitronentörtchen entgegen, das ihr Vincent in diesem Moment reichte. Wohl wissend, dass seine Jugendfreundin gern ein zweites Frühstück einlegte, hatte er sich vor zwanzig Minuten in der Confiserie um die Ecke mit ihrer Lieblingssüßspeise eingedeckt.

„Ist das alles?“, fragte er.

„Na hör mal.“ Hastig schluckte sie das erste Stück hinunter. „Das ist doch schon eine ganze Menge.“

„Hast du nichts über den Zustand der Frau erfahren können?“

Sie schüttelte den Kopf. „Ich glaube nicht, dass das Dienstmädchen ihre Herrin zu Gesicht bekommen hat, als es mit ihr zu Ende ging. In dem Fall hätte sie es überall rumerzählt. So etwas behält man nicht für sich, wenn man sich interessant machen will.“

Vincent strich sich nachdenklich das Kinn. „Es wird nicht einfach, an den Ehegatten ranzukommen. Weißt du, ob noch jemand im Haus lebt?“

Magali verschlang ein weiteres Stück von dem Zitronentörtchen und bedachte Vincent mit einem schiefen Grinsen. „Es gibt noch zwei Bedienstete.“ Sie tupfte sich mit abgespreiztem Finger den Mund. „Die Köchin und die Haushälterin, eine Madame Boneasse.“

„Also weißt du doch mehr, als du erzählt hast!“ Vincent sah sie leicht verärgert an. „Lass dir nicht immer alles aus der Nase ziehen, Magali.“

Sie zog eine Schnute. „Ich weiß nur, dass die Haushälterin ein strenges Regiment führt und sich das Dienstmädchen darüber beschwert hat.“

„Ist das alles?“

„Ja.“

„Sicher?“

„Ja-a.“

„Hmm …“ Seine Stirn glättete sich etwas. „Könntest du vielleicht …?“

„Nein.“

Überrascht hob er eine Augenbraue, eine solche Antwort hatte er nicht erwartet. „Ach komm.“ Er schenkte ihr ein, wie er hoffte, einnehmendes Lächeln. „Fühl der Haushälterin auf den Zahn! Rede mit ihr, von Frau zu Frau.“

„Nein!“

Er spürte, wie Ärger in ihm aufstieg. „Stell dir vor, wir lösen den Fall und bekommen die 10.000 Francs“, sagte er. „Dann wären wir aus dem Schneider.“

Magali sah ihn mit ungewohnt finsterer Miene an. „Du meinst, du wärst aus dem Schneider.“

Er biss sich auf die Lippen. „Nein, wir. Nachdem ich die Näherin ausbezahlt hätte, würde noch etwas Geld übrig bleiben. Wir könnten unsere Reserven wieder aufstocken.“

„Du willst etwas schaffen, woran erfahrene Polizisten und Wissenschaftler gescheitert sind?“

Traute sie ihm denn gar nichts zu? „Es ist zumindest einen Versuch wert.“

„Das ist Unsinn!“

Vincent schaute sie böse an. Sein Geduldsfaden stand kurz vor der Zerreißprobe. „Seit wann bist du so negativ? Die Magali, die ich kenne, würde sich diese Chance nicht entgehen lassen.“

Unerwartet huschte ein gequälter Ausdruck über ihr Gesicht. „Verlang das nicht von mir, Vincent“, sagte sie leise.

„Was soll ich nicht verlangen?“

„Du willst, dass ich mich bei einer armen alten Frau einschmeichele und ihr Vertrauen missbrauche, nur weil du dich mit den falschen Leuten angelegt hast. Das ist nicht anständig.“

Spricht aus dir plötzlich deine katholische Erziehung?, wollte er fragen, hielt jedoch seine Zunge im Zaun. „Beim Metzger ging’s doch auch“, sagte er stattdessen.

„Das war etwas anderes.“

Er holte tief Luft. „Tu es für mich.“

„Nein.“ Unangenehm berührt schaute Magali zu Boden. „Es tut mir leid!“ Sie rutschte vom Rücksitz hinunter, riss die Tür auf und sprang auf die Straße. „Ich nehme die Metro!“, rief sie noch, dann war sie weg.

Verblüfft blickte ihr Vincent hinterher.

„Zigarette?“, fragte Gustave.

„Gern.“

„Frauen, hm?“

„Ja“, antwortete Vincent. Unwillentlich verzogen sich seine Mundwinkel zu einem kleinen Lächeln.

„In diesem Aufzug willst du hin?“ Der skeptische Ausdruck in Magalis Augen, als er sich ihr am nächsten Morgen stolz präsentierte, war unübersehbar.

Sie befanden sich in seinem schlicht eingerichteten Ankleidezimmer, das mit rauchblauer Seide ausgekleidet und mit farblich abgestimmten Möbeln bestückt war. Wäre es allerdings nach ihm und nicht nach Magali gegangen, säße seine Freundin jetzt auf einem teuren mit Gobelinstoff überzogenen Diwan, umgeben von atemberaubender Opulenz im Pompadour-Stil.

Er sah an sich herunter. „Wieso? Was stimmt damit nicht?“

Magali deutete mit ihrer silbernen Zigarettenspitze auf ihn. „Du wirst diese brave Frau zu Tode erschrecken.“

„Das sagst ausgerechnet du?“

Magali lächelte nachsichtig. „Hier geht es nicht um mich, Schatz.“

Vincent schnaubte, bevor er vor den körpergroßen Spiegel trat und den Kopf mal nach links, mal nach rechts neigte. Abgesehen von seinem Gesicht gefiel ihm, was er sah: der weiße Flanellanzug, dazu das apfelgrüne Hemd und die lavendelfarbene Krawatte mit dem goldenen Monogramm ... Er, der Junge aus dem Quartier des Halles, hatte es weit gebracht.

Magali sah das offenbar anders. „Ach, um Himmels willen!“, rief sie und stürzte zu seinem begehbaren Kleiderschrank, in dem sich neben Anzügen, Krawatten und blank polierten Schuhen die Hemden eindrucksvoll türmten.

Nachdenklich tippte sie mit dem Zeigefinger auf ihre Oberlippe, eine Eigenart, die Vincent an ihr besonders mochte, bevor sie sich jedes Regal einzeln vornahm. Als er sie abwechselnd murmeln und fluchen hörte, konnte er sich ein Gefühl der Schadenfreude nicht verkneifen. Nach einer Weile kam sie mit leeren Händen heraus.

„Es ist hoffnungslos“, verkündete sie mit einem Seufzen. „Ich übernehme das.“

„Was?“

„Ich werde zum Haus der Milhauds gehen und mit der Haushälterin sprechen.“

„Wirklich?“

„Entschuldige, Vincent. Du weißt, ich liebe dich, aber mit deinem Gesicht und den …“ Sie deutete hinter sich. „… Sachen da werden dich diese Leute nicht über ihre Türschwelle lassen. Der Versuch wäre reine Zeitverschwendung.“

Nur mit Mühe gelang es ihm, ein Grinsen zu unterdrücken. Er hatte gewusst, dass die lavendelfarbene Krawatte Magali in die Knie zwingen würde.

„Denk daran, die Haushälterin ist vom alten Schlag“, sagte er und zeigte auf ihre saloppe Aufmachung.

„Keine Sorge. Ich ziehe eine von Stellas blonden Kurzhaarperücken an und stülpe mir einen dieser altmodischen grauen Hüte über“, antwortete sie wenig begeistert. „Gibt es etwas Spezielles, was ich fragen soll?“

Vincent überlegte kurz. „Finde so viel wie möglich über den Tod der Frau heraus, wo sie vorher gewesen ist, was sie getan hat. Alles ist wichtig.“

„In Ordnung. Und hör bitte auf zu grinsen!“

Entschuldige.“ Er blickte sie ernst an. „Ich bin sehr dankbar, dass du das machst, wirklich. Mit älteren Haushälterinnen Tee zu trinken, ist nicht unbedingt mein Fall.“ Und dann: „Wie willst du vorgehen?“

„Ich habe da so eine Idee.“ Magali zögerte kurz, bevor sie sich auf die Zehenspitzen stellte und ihm einen Kuss auf die Wange hauchte. „Vertrau mir“, fügte sie noch hinzu, dann machte sie auf dem Absatz kehrt und verließ das Ankleidezimmer.

Der Bund der Zwölf

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