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Kapitel 2 Paris, April 1926

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„Das wird Ihnen nicht gefallen, Patron!“

Vincent Lefèvre trat aus dem Badezimmer. „Was wird mir nicht gefallen?“

Der Besitzer des Nuits Folles , eines berüchtigten Nachtklubs in Pigalle, war ein dunkelhaariger Mann in den Dreißigern, groß und von kräftiger Statur. Als er die Schultern unter dem brokatenen Hausmantel bewegte, zeichneten sich darunter die Muskeln ab. Ein Tropf also, wer sich vom warmen Braunton seiner Augen täuschen ließ. Gustave Ledoux, ehemaliger französischer Boxchampion im Mittelgewicht und Mädchen für alles, war kein Tropf. Sachte nahm er das Frühstückstablett vom Servierwagen und stellte es auf den kleinen runden Tisch direkt am Fenster. Dann schenkte er Kaffee in eine Schale ein, fügte etwas Milch und ein Stück Zucker hinzu, bevor er einen Schritt zurücktrat.

Mit einem verkniffenen Gesichtsausdruck setzte sich Vincent an den Tisch, nahm ein Croissant aus dem Korb und tunkte es in seinen Kaffee. Mit einer kurzen Handbewegung forderte er Gustave auf, sich zu ihm zu gesellen, was dieser auch tat. Die wortlose Einladung, sich ebenfalls zu bedienen, lehnte er jedoch ab.

Nachdem Vincent zwei Croissants vertilgt hatte, sah er auf.

„Also, was ist?“

Gustave zeigte auf die Zeitung, die auf dem Frühstückstablett lag. Als Vincent die Titelseite sah, stieß er einen lauten Fluch aus.

Sag‘ ich doch“, murmelte Gustave und rieb seine schiefe Nase. Das tat er immer, wenn er beunruhigt war.

Auf dem Titelblatt des Petit Journal Illustré prangte eine rötlich braune Zeichnung. Zu sehen war ein schreiender Mann in einem Himmelbett, neben ihm lag eine skelettierte Frau im hauchzarten Nachthemd. Rechts im Bild spähten einige Dienstboten durch die halb offene Schlafzimmertür, auf ihren Gesichtern lag ein Ausdruck des Grauens. Vincent griff nach der Zeitung, schlug sie auf und fluchte einmal mehr. Da stand es. Gleich auf der zweiten Seite zwischen der Rubrik „Ihr Arzt empfiehlt“ und Tipps, wie man schnell zu Reichtum gelangte: Die Methusalem-Seuche forderte ihr dreizehntes Opfer. Sein Blick humpelte schwerfällig über den Artikel, saugte sich mehrmals an kniffligen Wörtern fest, um sich nach einer gefühlten Ewigkeit enttäuscht abzuwenden. In der Zeitung stand nichts, was Vincent nicht bereits wusste. Wie in den zwölf Fällen davor war jemand innerhalb weniger Stunden vergreist und gestorben. Ein grausames Ende, das diesmal eine junge Frau namens Véronique Milhaud ereilt hatte. Die Ärzte und Experten, die aus Deutschland, der Schweiz und weiß Gott woher angereist waren, standen vor einem Rätsel. In einer Stellungnahme erklärte der ermittelnde Kommissar, ein gewisser Bernard Fournier, dass bei dem neuesten Opfer weder Spuren von Gift noch Beweise für äußere Gewalteinwirkung gefunden worden waren. Dennoch wäre der Ehemann, wie in solchen Fällen üblich, der Hauptverdächtige, und natürlich würde man ihn befragen. Inoffiziellen Quellen der Polizei zufolge machte man sich dennoch keine Illusionen, was das Ergebnis der Vernehmung betraf.

Die Methusalem-Seuche, im Übrigen eine Namensschöpfung der Zeitungen, war vor zwei Monaten wie ein Fluch über Paris hereingebrochen. Dass die Opfer der illustren Gesellschaft angehörten, bereitete Vincent Magenschmerzen, denn die Reichen und Schönen waren es, die den Großteil seiner Klientel ausmachten. Seit Bekanntwerden der Todesfälle waren die Einnahmen dramatisch eingebrochen. Obwohl Mistinguett in seinem Klub auftrat, neben Josephine Baker die populärste Sängerin in Paris, waren die Tische nur noch spärlich besetzt. Statt auszugehen, verkrochen sich die Menschen im vermeintlichen Schutz ihrer eigenen vier Wände. Zu allem Überfluss schürten reaktionäre Kräfte das Gerücht, die Seuche sei durch diese neuartige „Negermusik“ aus Amerika ausgelöst worden.

Vincent knallte die Zeitung auf den Tisch. „Gustave, das Telefon!“

Der Angesprochene sprang auf, holte den schwarzen Apparat, der sich auf dem Nachttisch befand, und stellte ihn auf den Servierwagen.

„Hier, Patron.“

„Danke.“ Vincent nahm den Hörer ab. „Guten Tag, Mademoiselle. Geben Sie mir die Polizeistation des 4. Arrondissements ... Ja, ich warte.“

Ungeduldig klopfte er mit dem Fuß auf den Boden, dann verharrte er mitten in der Bewegung. „Wie meinen Sie das, die Leitung ist belegt? … Aha … Ja … Nein, warten Sie! Bitte verbinden Sie mich mit MON-335 … Ja, danke.“ Der Fuß nahm sein rhythmisches Klopfen erneut auf, um gleich wieder innezuhalten. „Magali? Ich bin’s, Vincent … Was? Nein! Du musst mich zur Polizeistation von Notre-Dame fahren … Nein, nein! Ich will nur mit jemandem sprechen … Gustave muss heute Vormittag zum Arzt. Seine alte Kriegsverletzung macht ihm wieder zu schaffen … Richte ich ihm aus. Also, wie sieht’s aus? … Die Metro? Ich habe einen Peugeot 177 in der Garage stehen!“ Das schwarzrote Automobil, das eine Spitzengeschwindigkeit von 70 km/h erreichte, war Vincents ganzer Stolz, auch wenn er es nicht fahren konnte. „Ach komm, du weißt doch, dass ich einen Höllenrespekt davor habe. Du dagegen bist ein echter Haudegen am Steuer! ... Es liegt mir fern, dir Honig ums Maul zu schmieren … Kolossal! Du hast was gut bei mir … Deinen Bugatti? Muss das sein? … Schon gut! Wenn du unbedingt darauf bestehst, nehmen wir deinen Bugatti.“ Vincent rollte entnervt mit den Augen. „Wann kannst du frühestens im Klub sein?“

Keine vierzig Minuten später stürmte eine junge Frau durch den zweiflügeligen Eingang des Nuits Folles und ließ den Blick prüfend über den Saal wandern. Noch harrten die Stühle umgedreht auf den Tischen, Bühne und Tanzfläche waren verwaist, die blank polierten Spiegel ohne Anbeter. Als sie Vincent mit dem alten Portier, den alle nur Papi nannten, an der Bar entdeckte, winkte sie fröhlich. Magali war eine schicke junge Frau von achtundzwanzig Jahren, die ihren rostroten Schopf in einem kurzen Bob trug. Die schweren Lider unter den schwungvoll gezeichneten Augenbrauen verliehen ihrem Gesicht einen melancholischen Ausdruck, auch wenn der Blick aus ihren hellgrünen Augen meist unverschämt direkt war. Sie war von knabenhaftem Wuchs und trug eine graue Hose, dazu ein weißes Männerhemd und eine dunkelrote Jacke mit Schalkragen und Blume im Knopfloch. Magali war das, was man eine Garçonne nannte. Frauen, die ihre Emanzipation durch einen männlichen Kleidungsstil zum Ausdruck brachten.

„Vincent, Schatz! Du siehst müde aus.“

Willst du, dass die uns gleich dabehalten?“, schimpfte dieser statt einer Begrüßung und zeigte auf ihre Hose.

Magali schnaubte. „Was bist du nur für ein Spießer!“ Sie drehte sich einmal um die eigene Achse. „Sieht doch gut aus.“ Dann drückte sie dem alten Portier einen Kuss auf die Wange. „Guten Tag, Papi!“

„Mademoiselle“, murmelte dieser verlegen.

„Hör auf, ihn durcheinanderzubringen“, maulte Vincent.

Doch Magali lachte nur. „Du bist heute wieder blendender Laune, wie ich sehe!“

Vincent und sie waren seit vielen Jahren befreundet. Kennengelernt hatten sie sich an einem warmen Sommertag im Park der Tuilerien. Zu einer Zeit, als Magali noch Marie Le Bellec hieß, Wonneproppen in Matrosenanzügen ihre Spielreifen manierlich den Weg entlangtrieben und elegante Herren hutlüftend die Damenwelt zum Erröten brachten. Mittendrin dann dieser junge Mann mit der Ballonmütze und dem mürrischen Charme, der verwegen genug war, den Spaziergängern trotz gesetzlichen Verbots Limonade zu verkaufen. Marie, von so viel Verruchtheit fasziniert, sprach den Fremden an und verliebte sich bereits in den ersten Minuten unsterblich. Was unausweichlich war, hatte sie doch nie zuvor einen Rebell kennengelernt. Er, der die Schwelle zum Erwachsensein bereits überschritten hatte, war ihren kindlichen Avancen mit Gleichmut begegnet. Heute lachten sie beide darüber.

Marie Le Bellec stammte ursprünglich aus Brest und war das Ergebnis einer außerehelichen Liaison. Kurz nach ihrer Geburt wurde sie in die Obhut von Benediktinerinnen gegeben, während sich ihre fromme, von Schuld zerfressene Mutter nach Afrika begab, um das Wort Gottes zu verbreiten. Wo sie recht bald an Malaria erkrankte und verstarb. Von ihrem Vater wusste Marie nur, dass er Leutnant bei der Marine gewesen war. Mit fünfzehn Jahren, kurz bevor sie die Weihe empfangen sollte, lief sie weg und landete in Paris. Sie hatte Glück. Nach einigen unliebsamen Begegnungen mit der Polizei wegen Herumstreunens fand sie Unterschlupf bei einem älteren jüdischen Ehepaar, das sich ihrer annahm und sie bei einem befreundeten Tuchhändler in die Lehre schickte.

Eines Abends, als sie mit Vincent am Ufer der Seine saß und einem hell erleuchteten Kahn hinterherblickte, der den Fluss mit Geschnatter und Gelächter überzog, erzählte sie ihm von ihrer Kindheit hinter düsteren Klostermauern. Von den nicht enden wollenden Gebeten zu einem ungerechten Gott, vom Tragen der Unterhose auf dem Kopf als Strafe fürs Bettnässen und vom leisen Weinen der Jüngeren im ungeheizten Schlafsaal. Im Gegenzug berichtete Vincent von den Pariser Waisenhäusern, wo es nicht Gebete, sondern Stockschläge hagelte und wo nicht nasse Unterhosen die Kinderhäupter zierten, sondern Kopfläuse. Nur das nächtliche Weinen war das gleiche gewesen.

Nach diesem Abend kamen sie nie wieder auf das Thema zu sprechen .

Im Laufe der Jahre brachte sie ihm das Lesen und Schreiben bei, er lehrte sie, sich über Autoritäten hinwegzusetzen. Nach Ausbruch des Krieges trennten sich ihre Wege. Zu der Zeit, als sie ihre Kaufmannslehre beendete, galt Vincent als vermisst, doch zwei Jahre nach Kriegsende liefen sie sich anlässlich der Feier zum 14. Juli auf dem Champs de Mars zufällig in die Arme. Vincent, der kurz davor stand, seinen Nachtklub zu eröffnen, bot ihr eine Partnerschaft an. Fortan kümmerte sie sich um die Buchhaltung und das Personal. Wie Vincent an das Kapital für den Klub gekommen war, wusste sie bis heute nicht. Die einen munkelten, er habe während des Krieges für die Engländer spioniert und sich seine Dienste teuer bezahlen lassen, andere meinten, er habe in großem Stil mit Waffen gehandelt. Ihr war es egal.

Wie die meisten Nachtklubs in Montmartre und Pigalle erwies sich das Nuits Folles als Goldgrube, denn nach den Schrecken des Krieges dürstete es die Menschen nach Zerstreuung. Während Vincent den Luxus in vollen Zügen genoss, brach Marie Le Bellec endgültig mit ihrer Vergangenheit und nahm den provenzalischen Namen Magali an, „weil er an gelbe Tischdecken und duftende Lavendelkissen erinnert“.

„Was ist nun?“, fragte Vincent ungeduldig und riss sie aus ihren Gedanken. „Fahren wir oder nicht?“

„In der Ruhe liegt die Kraft, Sportsfreund“, erwiderte Magali unbeeindruckt.

Doch der „Sportsfreund“ hörte sie nicht mehr. Er befand sich bereits auf dem Weg nach draußen.

In der Polizeistation des 4. Arrondissements herrschte Ausnahmezustand. Eine Menschenmenge stand dicht gedrängt im Vorraum und sorgte für Tumult, was für sich genommen nichts Ungewöhnliches war, doch statt der üblichen Verbrechervisagen, grell geschminkten Münder und obszönen Gesten, prägten schwarze Melonen, teure Pelzmäntel und geschwenkte Gehstöcke das Bild. Der diensthabende Brigadier am Empfang war offenkundig überfordert.

„Messieurs dames!“, rief er alle paar Sekunden. „Messieurs dames, bitte beruhigen Sie sich!“

Doch die Herrschaften hatten wenig Einsehen. Stattdessen schallten immer die gleichen Rufe durch den Raum. „Kommissar Fournier! Wir wollen mit Kommissar Fournier sprechen!“

Vincent und Magali versuchten vergeblich, sich durch die aufgebrachte Menschenmenge zu kämpfen. Alle hatten dasselbe Anliegen, und Kommissar Fournier tat den Teufel, sich sehen zu lassen.

„Und was machen wir jetzt?“, fragte Magali besorgt. Inmitten vieler Menschen fühlte sie sich unwohl.

Vincent zuckte mit den Schultern. Seiner Miene nach zu urteilen war auch er alles andere als begeistert. Magali wollte gerade einen Witz machen, um von ihrem Unbehagen abzulenken, als ihr Herzschlag ohne Vorwarnung aussetzte. Im selben Moment geriet die Welt in Schieflage, und die junge Frau krallte sich in ihrer Panik an einem pelzigen Arm zu ihrer Linken fest.

„Entschuldigen Sie“, keuchte sie, als die Besitzerin sie postwendend anfauchte, und fasste sich mit beiden Händen an die Brust.

Dann fing ihr heimtückisches Herz wieder an zu schlagen, und es fühlte sich an, als lieferten sich in ihrem Brustkorb betrunkene Pferde ein Rennen. Mit der Übelkeit kämpfend schloss Magali die Augen. Als sie diese wieder öffnete, fiel ihr unsteter Blick auf einen Mann, der sich auf den diensthabenden Brigadier zubewegte. Warum er ihr ins Auge stach, wusste sie nicht. An ihm war nichts Besonderes. Er war durchschnittlich groß, hatte dunkelblonde Haare oder vielleicht waren sie auch braun, und er trug einen grauen Mantel. Obwohl er nun direkt neben dem Brigadier stand, schien dieser ihn nicht zu bemerken, was schon recht eigenartig war.

Da löste sich der Mann plötzlich auf.

Magali blinzelte. Wie ist so etwas möglich? Der Gedanke war noch nicht zu Ende gebracht, als der Mann mehrere Meter hinter dem Brigadier wieder in Erscheinung trat; im abgesperrten Bereich, dort wo sich die Büros und Gefängniszellen befanden. Neugierig blickte er sich um, bevor er erneut mit seiner Umgebung verschmolz. Magalis Herz klopfte hart und unregelmäßig. Die Szene erinnerte sie an den Film Der Scheich , den sie einmal in einem Lichtspielhaus gesehen hatte. Er war immer wieder gerissen, was dazu geführt hatte, dass Rudolph Valentino wie von Zauberhand von einem Schauplatz zum anderen gehüpft war. Am Ende hatten alle ihr Eintrittsgeld zurückerhalten.

„Vincent?“ Ihre Stimme klang etwas zitterig, als sie sich an ihren Freund wandte, der seinen finsteren Blick durch den Raum schweifen ließ. „Hast du gerade den Mann gesehen, der durch die Sperre gegangen ist?“

„Welchen Mann?“ Vincent sah auf sie hinunter und erschrak. „Verdammt, was ist passiert?“

„Wieso fragst du?“

„Du bist bleich wie der Tod!“ Er legte seinen Arm um ihre Schulter. „Du musst dich ausruhen. Wir suchen dir einen freien Stuhl.“

„Nein, nein, lass mal! Ich dachte nur, ich hätte etwas gesehen. Es sind wahrscheinlich nur die vielen Menschen.“ Erschöpft lehnte sie sich an ihn. „Es ist wirklich nichts.“

Ein Ruck ging durch Vincents Körper. „Weißt du was? Lass uns von hier verschwinden! Das bringt doch eh nichts. Wir kommen lieber ein andermal wieder, wenn die …“

„Na so was, Vincent Lefèvre!“, warf sich eine spöttische Stimme dazwischen. „Was verschafft uns die zweifelhafte Ehre? Willst du dich endlich stellen?“

Sichtlich verärgert und ohne Magali loszulassen, drehte sich Vincent um. Vor ihnen stand ein dicklicher Mann in dunkelblauer Uniform, mit geschwellter Brust und auffallend hellen Augen.

„Sieh an, Emile Dubois.“

„Für dich immer noch Brigadier Dubois.“

Vincent schnaubte nur, während Magali ein gequältes „Guten Tag“ herauspresste.

„Mademoiselle“, grüßte dieser zurück und rang sich ein schmales Lächeln ab. „Also, was wollt ihr hier?“

Das geht Sie nichts an, Brigadier!

„Noch einmal in diesem Ton, Lefèvre, und es wird mir ein Vergnügen sein, dich einzubuchten!“ Der Blick des Polizisten war feindselig. „Ich hoffe, du hast deine Hände schön bei dir behalten.“

„Was wollen Sie damit andeuten?“

Ich habe gesehen, wie deine hübsche Begleiterin nach einer Dame gegrapscht hat. Wäre nicht das erste Mal, dass sich Schmeißfliegen wie ihr bei den anständigen Leuten bedienen.“

Vincent, dessen Gesicht purpurrot geworden war, wollte etwas erwidern, doch Magali zupfte an seinem Ärmel.

„Hör nicht auf ihn!“, sagte sie eindringlich und zog ihn fast gewaltsam zum Ausgang. „Lass uns lieber gehen.“

Brigadier Dubois ließ es sich nicht nehmen, ihnen noch eine Drohung hinterherzuschicken, die aber angesichts des Tumults im Vorraum erheblich an Wirkung einbüßte. Draußen auf der Straße ließ Vincent seiner Wut freien Lauf. Seine lauten Flüche hallten von den Häuserwänden wider, bis Magali und er außer Hörweite der Polizeistation waren.

„Schmeißfliegen?“, bemerkte ein feixender Vincent wenig später. „War das nicht etwas dick aufgetragen, Emile?“

„Aber nein.“ Der andere schmunzelte. „Ich finde, es klang sehr glaubwürdig.“

Vincent lachte. „Du bist ein verdammter Romantiker.“

Daraufhin fielen sich die beiden Männer in die Arme, während Magali den Kopf schüttelte.

„Dass ihr immer so übertreiben müsst! An euch sind echte Possenreißer verloren gegangen, wisst ihr das?“, sagte sie und quittierte den vorwurfsvollen Blick der zwei Freunde, die im selben Viertel aufgewachsen waren, mit einem amüsierten Lächeln.

Die drei befanden sich im Pavillon eines kleinen Parks unweit der Polizeistation, wo sich die Laubbäume in ihrem ersten Grün präsentierten. Eine vornehme Zurückhaltung, die sie zur Freude der Anwohner in Bälde ablegen würden.

„Wenigstens habt ihr mich mit eurer kleinen Vorstellung von meinem Unwohlsein abgelenkt“, fügte Magali hinzu.

„Zu viele Menschen?“, mutmaßte Emile, der sie gut kannte.

Sie nickte. Den Mann in der Polizeistation erwähnte sie nicht. Vermutlich war er nur Einbildung gewesen.

Nachdem Emile ein paar aufmunternde Worte gemurmelt hatte, räusperte er sich. „Also, was kann ich für euch tun?“

„Es geht um die Methusalem-Seuche“, begann Vincent.

Der Polizist stieß einen tiefen Seufzer aus.

„Ja, ich weiß“, beeilte sich Vincent zu sagen. „Aber diese Toten sind schlecht fürs Geschäft, Emile. Ich will wissen, wie weit euer Kommissar mit seinen Ermittlungen ist. Dreizehn Opfer und noch immer keine Spur?“

Der Angesprochene trat einen Schritt vor. „Unter uns gesagt: Ich glaube, dass Fournier einen Verdacht hat“, antwortete er leise. „In den letzten Tagen hat er sehr geheimnisvoll getan.“

„Was für einen Verdacht?“

„Keine Ahnung. Er hält sich bedeckt. Ich nehme an, er sammelt noch die entsprechenden Beweise. Die Todesfälle sorgen für viel Wirbel, wisst ihr, vor allem bei den einflussreichen Leuten.“ Emiles Stimme war inzwischen nur noch ein Flüstern. „Der Polizeipräfekt ist außer sich. Fournier darf keinen Fehler machen und den Falschen beschuldigen.“

Hoffentlich findet er bald seine Beweise. Sonst müssen wir das Nuits Folles schließen.“ Vincent ballte die Fäuste. „Ich will nicht, dass es so weit kommt!“

„Wird es schon nicht“, murmelte Emile, doch in Magalis Ohren klangen die Worte wenig überzeugend.

Diese Seuche ist grauenvoll. Sie erinnert mich an Abraham Stokers Dracula “, warf sie ein und unterdrückte ein Schaudern. „Das letzte Opfer war noch so jung.“

Vincent warf ihr einen schiefen Blick zu. „Sag bloß, du liest diesen Schund?“

„Schund?“, erwiderte sie. „Das sagt ausgerechnet jemand, der Jules Verne verehrt. Einen Märchenerzähler!“

„Einen Visionär!“, warfen Emile und Vincent gleichzeitig ein.

Magali prustete verächtlich. „Eine Reise zum Mond? Ich bitte euch.“

„Also, das ist ja wohl …“, begann Vincent, doch er sollte seinen Satz niemals beenden, denn in diesem Moment erklangen einige Querstraßen weiter schrille Trillerpfeifen, dazwischen waren Rufe zu hören.

„Ich glaube, es kommt aus der Richtung der Polizeistation“, sagte Magali mit einem unguten Gefühl.

„Vielleicht sind die feinen Herrschaften übereinander hergefallen, dann müsste ich sie alle einsperren. Das wäre doch mal ein Spaß!“ Emile lachte, ein Laut, der aus den Tiefen seines Bauchs kam. „Ich muss zurück. Tut mir leid, Leute.“

„Pflicht ist Pflicht, Brigadier!“ Vincent bedachte seinen alten Freund mit einem schneidigen Salut, was ihm prompt einen nicht ernst gemeinten Boxhieb einbrachte.

Magali, es war mir wie immer ein Vergnügen.“ Emile tippte an seine Mütze. „Bis bald, ihr beiden!“ Sprachs und verließ den Park im Laufschritt, wobei sein Cape emsig hinter ihm her flatterte.

„Ich verstehe nicht, warum er nicht schon längst Brigadier en Chef ist“, sagte Magali, während sie ihm versonnen nachblickte.

Er hat keinen Ehrgeiz. Hat er noch nie gehabt. Seine Orchideenzucht geht ihm über alles.“

„Ein Jammer“, erwiderte sie und fügte nach einer kurzen Pause hinzu: „Jules Verne … pfff.“

„Abraham Stoker“, schnaubte Vincent zurück.

Besitzergreifend legte er ihre linke Hand auf seinen rechten Arm, dann geleitete er sie zum Bugatti, der zwei Straßen entfernt geparkt war.

Der Bund der Zwölf

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