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Kapitel 3 Warschau, September 1919

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Annas Bestimmung nahm an einem nasskalten Herbsttag im Warschau des Jahres 1919 ihren Anfang.

Kaum war der Streifenpolizist hinter der nächsten Ecke verschwunden, lösten sich zwei Gestalten aus dem Schatten des Hauseingangs . Ein Mann und ein kleines Mädchen. Er trug einen Frack, der schon bessere Tage gesehen hatte, sie ein geblümtes Kleid mit weißer Knopfleiste. Sie hatten schwarze Instrumentenkoffer bei sich und postierten sich der Akustik wegen unter dem gewölbten Eingang eines Kaufhauses. Nachdem die beiden ihre Musikinstrumente hervorgekramt hatten – der Mann spielte Violine, das Mädchen Klarinette – machten sie da weiter, wo sie vor wenigen Minuten aufgehört hatten. Mit dem zweiten Satz aus Mozarts Klarinettenkonzert. Wie jeden Tag waren auf der Marszatkowska, einer der Prachtstraßen Warschaus, viele Menschen unterwegs, und im Nu bildete sich ein Halbkreis um die beiden Musiker. Selbst einem wenig geschulten Zuhörer musste auffallen, dass der Mann mittelmäßig spielte, während die Kleine eine Zauberin auf der Klarinette war. Auch wenn ihr Spiel nicht frei von Fehlern war, spürte man in dem schmächtigen Körper eine Kraft, die über kurz oder lang zu etwas Großem, Unglaublichem erblühen würde. Ihr Adagio stieß in seelische Tiefen vor, trieb die verschütteten Träume der Zuhörer an die Oberfläche, wo sie sich als Tränen offenbarten. Die Marszatkowska löste sich auf: die knochigen Bäume, der Asphalt, selbst die rumpelnde Tram ... Die Welt hielt den Atem an. Bis das Duo ein heiteres Stück anstimmte, das Gioacchino Rossini mit achtzehn Jahren komponiert hatte und ein Lächeln auf die Gesichter rundum zauberte. Obgleich von einfacher Natur schien das Werk für den Mann und das Kind eine besondere Bedeutung zu haben, denn sie warfen sich beim Spielen liebevolle Blicke zu, und selbst die Sonne riskierte einen kurzen Blick. Als der letzte Ton verhallte, war zunächst nur ein kollektives Seufzen zu hören, danach brach ein Beifallssturm los, der in heiteres Klimpern mündete. Die Münzen flogen nur so in die offenen Instrumentenkoffer! Nicht wenige blieben noch eine Weile stehen, in der Hoffnung, es gäbe noch eine Zugabe, doch schon bald zerstreuten sich die Menschen in alle Richtungen. Die einen überquerten die Straße, die anderen rannten zur Tram, dritte ließen sich von den reich bestückten Schaufenstern der Kaufhäuser ins Innere locken. Die Welt hatte sie wieder.

Nur ein einzelner Herr blieb zurück. Er war groß und stattlich, trug einen langen Mantel mit rotem Schal, einen breitkrempigen Hut und einen Spazierstock. Sein Gesicht lag im Schatten, dafür quollen die weißen Haare großzügig unter seinem Hut hervor.

Der Straßenmusikant war gerade dabei, die Instrumente wegzupacken, das Mädchen half ihm, als der Herr auf sie zutrat. Erschrocken blickte der Mann auf. Offenbar befürchtete er, es könnte sich um einen Gesetzeshüter handeln, oder sogar Schlimmeres.

Der Herr lüftete den Hut. Zum Vorschein kam ein hageres Gesicht mit tiefen Mundfalten und klaren blauen Augen.

„Vergeben Sie mir, Signore. Ich wollte Sie nicht erschrecken“, beeilte er sich zu sagen. „Mein Name ist Arturo Menotti. Das eben war eine hochkarätige Darbietung. Wem verdanke ich dieses unerwartete Vergnügen?“ Er sprach Polnisch mit einem melodiösen italienischen Akzent.

„Ich heiße Andrej.“ Der Musiker zog es vor, seinen Nachnamen nicht zu nennen. „Und das hier ist meine Tochter … Anna.“

„Erstaunlich“, murmelte Signore Menotti und blickte nunmehr auf das Kind, das sich hinter seinem Vater versteckte. „Wo hat sie so zu spielen gelernt?“

„Ich habe es ihr beigebracht“, antwortete der Musiker nicht ohne Stolz. „Vor dem Krieg war ich Mitglied eines Kammerorchesters.“

„Sie hat wohl Ihr Talent geerbt“, sagte Signore Menotti höflich.

Der Musiker lächelte. „Nun, es ist wohl mehr als das. Sie ist gerade mal elf und hat mich bereits überflügelt.“

„Wirklich ganz erstaunlich.“ Signore Menotti räusperte sich. „Sie müssen wissen, ich leite ein großes Symphonieorchester, und zurzeit gastieren wir in Ihrer schönen Stadt.“

Bei diesen Worten wurde der Musiker eine Spur blasser, sagte aber nichts.

„Ich bin stets auf der Suche nach Talenten. Außergewöhnlichen Talenten“, fügte der Italiener eindringlich hinzu. „Und Ihre Tochter ist es zweifellos.“

„Und?“ Es klang lauernd.

„Geben Sie sie in meine Obhut, und ich biete ihr nicht nur eine erstklassige Ausbildung, sondern auch die Chance, eine weltberühmte Künstlerin zu werden.“

„Sie ist stumm“, erwiderte der Musiker.

„Aber nicht taub, oder?“ Signore Menotti lächelte mild.

„Nein, natürlich nicht“, sagte der Musiker. „Ich kenne viele erfolgreiche Vertreter unserer Zunft, doch Frauen waren niemals darunter.“ Seine Stirn legte sich in Falten. „Was für ein Orchester soll das sein?“

Arturo Menotti kramte einen Handzettel aus seiner Manteltasche hervor. „Hier!“, sagte er und drückte seinem Gegenüber das Stück Papier in die Hand. „Ich setze Sie und Ihre Tochter auf die Gästeliste. Es wäre mir eine außerordentliche Freude, Sie dort zu sehen. Kommen Sie nach dem Konzert hinter die Bühne, und wir reden weiter.“

Der Italiener lüftete seinen Hut zum Abschied, dann wandte er sich ab. Seine große Gestalt war bald in der Menge verschwunden, doch hallte das ΄Tok Tok΄ seines Spazierstocks noch lange nach.

Voller Argwohn starrte der Musiker auf den Handzettel: Heute Abend im Großen Theater! Die weltberühmte Philharmonie der Zwei Welten spielt Mozart und Bruckner. Chefdirigent ist Arturo Menotti. Einlass: 19:30 Uhr.

Anna, die aus seinem Schatten getreten war, fixierte das Blatt Papier mit großen Augen. Was ist das, Tata?, wollte sie gestenreich wissen.

„Nichts“, antwortete dieser und zerknüllte den Handzettel. „Gar nichts.“

Andrej Kaminski focht einen inneren Kampf aus. Nichts liebte er so sehr wie seine Tochter, die er seit dem viel zu frühen Tod seiner Frau allein großzog. Obwohl sie niemals hatten hungern müssen, was einzig Annas außergewöhnlichem Talent zu verdanken war, lagen fünf lange Jahre der Trauer und der Entbehrungen hinter ihnen. Seine zahlreichen Versuche, eine feste Anstellung als Musiker zu finden, waren bisher daran gescheitert, dass er entweder zu gut, zu schlecht oder zu alt war. Also hatten sie die Straße gewählt. Nicht die schlechteste Entscheidung, auch wenn sich Andrej schmerzlich bewusst war, dass es keine langfristige Lösung darstellte. Weder für seine Tochter noch für ihn, zumal er nicht jünger wurde und die Straße bereits ihre Spuren hinterlassen hatte. Seine rheumatischen Beschwerden häuften sich, und schon seit mehreren Wochen litt er an einer Bronchitis, die keine Anstalten machte, ihn wieder vom Haken zu lassen.

Mit zitternder Hand zog er den zusammengeknüllten Zettel aus seiner Hosentasche, legte ihn auf den Küchentisch und strich ihn glatt.

Heute Abend im Großen Theater. Die weltberühmte Philharmonie der Zwei Welten spielt Mozart und Bruckner. Chefdirigent ist Arturo Menotti. Einlass: 19:30 Uhr.

Ein einfaches Blatt Papier. Verlockend. Tückisch.

Die Zeit war reif, Anna auf eine ordentliche Schule zu schicken, zumal er sich außerstande sah, sie weiter zu fördern. Nicht nur musikalisch, sondern auch wegen ihrer Versehrtheit – wie er dieses Wort hasste – stieß er immer häufiger an seine Grenzen. Seine kleine Tochter verdiente eine Zukunft. So betrachtet war Menottis Angebot ein Geschenk des Himmels, nur dass er dafür einen hohen Preis würde zahlen müssen. Anna war der einzige Lichtblick in seinem Leben, seine Existenzberechtigung. Wie könnte er sie da einem Fremden überlassen?

Während ein Muster aus Schatten und Sonnenstrahlen über den Tisch wanderte, starrte er auf den Zettel und hörte erst damit auf, nachdem die Wörter von den Schatten vollends verschluckt worden waren. Er fällte seine Entscheidung zwei Stunden vor Konzertbeginn. Was hatte er schon zu verlieren? Außerdem war der Gedanke verlockend, nach Jahren der Absenz wieder einen Konzertsaal von innen zu sehen. Also badete er die kleine Anna, schrubbte ihre Haut, bis diese ganz rosig war, zog ihr ihr hübschestes Kleid an, das mit dem Spitzenkrägelchen und den Puffärmeln, bürstete ihr Haar und flocht es zu einem langen Zopf. Inzwischen hatte er sich einen Plan zurechtgelegt. Sollte es zu Verhandlungen kommen, würde er darauf bestehen, ebenfalls engagiert zu werden. Entweder Anna und er würden gemeinsam im Orchester spielen oder keiner von ihnen!

Die Fassadenbeleuchtung des Großen Theaters tauchte die Pelze und edlen Roben in strahlenden Glanz, und die Menschen stießen bewundernde Rufe aus. Ob der Pracht des Gebäudes oder ihrer eigenen Erscheinung wegen hätte Andrej nicht sagen können. Anna und er gaben ein vergleichsweise schäbiges Bild ab, was sein kleines Mädchen zum Glück nicht bemerkte. Es war ihr erster Konzertbesuch, und die Aufregung war ihr deutlich anzusehen. Mal trat sie nervös von einem Fuß auf den anderen, mal balancierte sie auf den Zehenspitzen, um besser sehen zu können. Von Gefühlen überwältigt beugte sich Andrej zu ihr hinunter und küsste zärtlich ihren Scheitel. Anna dankte es ihm mit ihrem schönsten Lächeln.

Vor dem Kassenhäuschen hatte sich eine lange Schlange gebildet, doch kaum hatten sich Andrej und Anna ans Ende gestellt, als ein livrierter Platzanweiser auf sie zukam und sie aufforderte, ihm zu folgen. Gesenkten Hauptes und mit errötenden Wangen eilten sie an den wartenden Menschen vorbei und betraten das Gebäude durch einen Seiteneingang. Unmittelbar fanden sie sich in einem Menschenstrom wieder, der sich träge durchs Foyer Richtung Saal schob. Der Platzanweiser lotste sie geschickt hindurch und wich nicht von ihrer Seite, bis sie in einer der vorderen Reihen Platz genommen hatten. Anschließend verabschiedete er sich mit einem dünnen Lächeln.

Andrej atmete tief ein. Er hatte den verheißungsvollen Duft eines Konzertsaals so lange entbehren müssen. Den Kopf in den Nacken gelegt betrachtete er die kunstvoll gearbeitete Decke, den weißen Stuck, die Malereien, die glitzernden Kronleuchter. In seinem Inneren breitete sich ein warmes Gefühl der Heimkehr aus, während Anna mit offenem Mund und tellergroßen Augen neben ihm saß. Bei ihrem Anblick musste er unwillkürlich lächeln.

Der Saal schien bis auf den letzten Platz ausverkauft zu sein, denn es vergingen noch viele Minuten, bis alle ihren Sitz eingenommen hatten. Minuten, in denen Andrej die aufgeblähten, gut genährten Menschen musterte und das Gefühl von Neid aus seinem Herzen zu verbannen versuchte. Gedankenverloren strich er mit der Hand über die linke Armlehne seines Stuhls, das Holz fühlte sich kühl und glatt an, bis seine Fingerkuppen unerwartet auf eine Unebenheit stießen. Sie war zugleich fest und weich und seltsam vertraut. Aber völlig fehl am Platz. Gerade als sich Andrej vorbeugte, um nachzuschauen, betraten der Chor und die Musiker die Bühne. Die Gespräche verstummten, und eine erwartungsvolle Spannung legte sich über den Saal. Die Armlehne rückte in den Hintergrund.

Arturo Menotti erschien. Groß. Schwarz. Allmächtig. Er wandte sich zum Publikum und vollführte eine elegante Verbeugung, dabei kam es Andrej so vor, als würde er ihm direkt in die Augen schauen. Anschließend wandte sich der Maestro wieder dem Orchester zu und hob die Arme. Er musste nicht mit seinem Taktstock auf das Pult klopfen, denn alle Blicke waren bereits auf ihn gerichtet.

Als der erste Ton von Mozarts Requiem erklang, raste Andrejs Herz vor Aufregung.

Zwei Stunden später war es gebrochen.

Ihm war auf grausame Weise klar geworden, dass es in diesem Orchester keinen Platz für ihn geben würde.

Nach diesem denkwürdigen Abend ging alles sehr schnell. Arturo Menotti zeigte sich über Andrejs „kluge Entscheidung“ außerordentlich erfreut und bot ihm einen Obolus für die Unannehmlichkeiten an, den Andrej jedoch zurückwies. Der Maestro erzählte etwas von uralten Instrumenten und einer segensreichen Jugend, von Geben und Nehmen, doch die Worte zerplatzten wie Seifenblasen, bevor sie Andrej erreichen konnten. Die bevorstehende Trennung beherrschte sein ganzes Denken. Er hatte gefleht, mitkommen zu dürfen, doch Menotti war unnachgiebig gewesen. In den ersten, entscheidenden Jahren dürfte nichts Annas musikalische Entwicklung behindern, so sein Argument, Andrej wäre nur Ballast, eine unwillkommene Ablenkung. Am Ende wurde entschieden, dass Anna bei ihrem Vater bleiben würde, bis das Orchester weiterzog.

Ihnen blieben zwei Wochen.

Zwei Wochen voller Tränen, Beteuerungen, Selbstvorwürfe und Zwetschgenklöße, Annas Lieblingsspeise. Dann kam der Tag des Abschieds. Der Herbst zeigte sich von seiner berauschenden Seite, nicht eine Wolke verunzierte den tiefblauen Himmel. Sie standen am Hintereingang des Großen Theaters, nur wenige Stunden, bevor die Philharmonie der Zwei Welten nach Prag weiterreisen und ihm sein kleines Mädchen für unbestimmte Zeit entreißen sollte. Mit fahlem Blick verfolgte Andrej, wie Arturo Menotti durch die Tür trat und Anna aufforderte, ihm zu folgen. Er öffnete den Mund, um sie zurückzuholen, das Abkommen für nichtig zu erklären, doch kein Ton kam aus seiner trockenen Kehle. Anna war bereits in den engen Korridor getreten, dessen weniges Licht vom breiten Rücken des Maestros verschluckt wurde. Dann ließ sie ein leises Schluchzen hören, das ihm von den Wänden widerhallend tödliche Stiche versetzte.

„Du musst keine Angst haben, Kind“, erklang Arturo Menottis allmächtiger Bass. „Ab jetzt sind wir deine Familie.“

Am Ende des Weges streckte der Maestro die Hand aus, um einen schweren Vorhang beiseitezuschieben. Als gleißendes Licht hinausströmte, wandte Anna instinktiv den Kopf ab.

„Auf Wiedersehen, Spätzchen!“, rief Andrej.

Zu mehr reichte es nicht.

Sie winkte ein letztes Mal, hielt die Arme vor ihrem Bauch über Kreuz – ich habe dich lieb, Tata –, dann trat sie durch das helle Karree.

Es gab einen Luftzug, die Tür schlug mit einem lauten Knall zu, und Andrej stand vor dem Nichts.

Der Bund der Zwölf

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