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Kapitel 1 Paris, April 1926
ОглавлениеEine milde Brise bauschte den Vorhang nach innen und wies damit auf die honorable Madame Boneasse, die mit einem Gläschen Kräuterlikör und einer ledergebundenen Ausgabe von Das Bildnis des Dorian Gray den Abend einläutete. Im Haus war es ruhig. Zu hören waren nur das Rascheln der Buchseiten und das Ticken der Uhr auf dem Kaminsims. Die fernen Geräusche der Stadt, die gelegentlich durch das halb offene Fenster sickerten, vermochten den Frieden nicht zu stören, und so wurde das monotone Knarzen des Schaukelstuhls schon bald von einem sanften Schnarchen abgelöst.
Schlag halb elf zerbarst das friedliche Bild unter lautem Hupen, gefolgt von einem infernalen Krachen und Knattern. Madame Boneasse fuhr erschrocken hoch, was zur Folge hatte, dass Oscar Wilde samt Lesebrille von ihren Knien rutschte und mit einem dumpfen Geräusch auf dem Boden landete.
„Wie? Was?“
Verwirrt blickte sich die alte Frau um, bevor sie sich umständlich aus dem Schaukelstuhl schälte und zum kleinen Spiegel stürzte, der neben der Zimmertür hing. Um ein Haar wäre sie auf ihre Lesebrille getreten.
„Ach, du meine Güte“, murmelte sie und zupfte sich die grauen Strähnen zurecht.
Erneut drangen diese schrecklichen Geräusche ins Zimmer, begleitet von einem stechenden Gestank, der Madame Boneasse veranlasste, unverzüglich das Fenster samt Läden zu schließen. Geschäftig strich sie über ihr Baumwollkleid, bevor sie etwas Eau de Cologne in ihre Handflächen tröpfelte und sich damit über Nacken und Stirn fuhr. Noch schnell einen Schluck Limettensaft, in der Hoffnung, dieser würde den Geruch des Kräuterlikörs übertönen, dann eilte sie nach draußen. Ihr Zimmer grenzte direkt ans Vestibül.
„Jeanne!“, rief sie energisch. „Jeanne!“
Ein junges Mädchen mit weißer Schürze stürzte um die Ecke.
„Ja, Madame?“
„Die Herrschaften sind soeben vorgefahren. Hast du die B… das Bett vorgewärmt?“
An den Gedanken, dass Monsieur und Madame Milhaud im selben Zimmer schliefen, konnte sie sich einfach nicht gewöhnen.
„Aber es ist so warm draußen.“
„Wir haben erst April, du dumme Gans! Im April werden die Betten immer vorgewärmt. Sieh zu, dass du heiße Backsteine heranschaffst! Du hast doch welche auf Vorrat?“
Das Mädchen nickte eifrig.
„Gut, gut. Die Herrschaften werden vermutlich nicht gleich zu Bett gehen, sondern den Abend in der Bibliothek ausklingen lassen. Also los, beeil dich!“
Das Dienstmädchen ließ zwar ein Schnauben hören, doch weil es auf dem Weg nach oben zwei Stufen auf einmal erklomm, ließ es ihm Madame Boneasse durchgehen. Sie strich sich noch einmal übers Haar. Keine Minute zu früh. Schon erschallte hinter der großen Eingangstür ein lautes Lachen, und man hörte, wie jemand mit einem Schlüsselbund hantierte. Madame Boneasse straffte sich und öffnete die Tür.
„Meine Gute“, dröhnte ihr Monsieur Milhauds angenehmer Bass entgegen. „Sie haben mich zu Tode erschreckt!“
Der Hausherr war ein korpulenter Mann in den Vierzigern mit einem mächtigen Schnauzer und einem rötlichen Gesicht, das von seiner Vorliebe für gutes Essen und übermäßigen Weingenuss zeugte. Ungeachtet seiner Körperfülle saß sein Abendanzug tadellos. Den Flanellmantel hatte er lässig über den Arm gehängt. Die Frau an seiner Seite war noch sehr jung, eine Schönheit mit aschblonden Locken und großen hellen Augen, die Lippen scharlachrot geschminkt. Sie trug ein tief ausgeschnittenes Kleid aus blauem Chiffon. Der Gipfel der Sittenlosigkeit war in Madame Boneasses Augen die lange Perlenkette, die die Nacktheit des Rückens betonte.
„Hier!“, rief Monsieur Milhaud und warf seiner Haushälterin Mantel und Hut zu, die sie gerade noch mit Mühe auffing.
„Also wirklich, Maurice!“ Véronique Milhaud warf ihrem Mann einen sorgenvollen Blick zu. „Was wird Madame Boneasse von uns denken?“
„Nur Gutes, meine Liebe, nur Gutes. Sie mag ein strenges Gesicht aufsetzen, aber in Wirklichkeit hat sie ein Herz aus Gold.“ Maurice Milhaud zwickte der alten Frau in die Wange, was sie prompt erröten ließ. „Nicht wahr, Sie Engel?“
„Aber, Monsieur …“
„Schon gut.“ Er lachte freundlich. „Wir gehen jetzt in die Bibliothek und genehmigen uns noch einen kleinen Schlummertrunk.“
„Wollen wir nicht lieber gleich zu Bett gehen, Liebling?“, entgegnete seine Frau. „Der Abend war überaus anstrengend.“
Monsieur Milhaud hob in gespieltem Erstaunen die Augenbrauen. „Ich bin geschockt, meine Liebe. Muss ich mir Sorgen machen?“
Angesichts seines komischen Gesichtsausdrucks entfuhr ihr ein kleines Lachen. „Mitnichten. Aber lass mich vorher die Schuhe ausziehen, ja? Sie bringen mich noch um.“
„ Nur zu! Du weißt, ich liebe deine kleinen Zehen“, antwortete Monsieur Milhaud gut gelaunt, bevor er sich wieder Madame Boneasse zuwandte. „Machen Sie einfach da weiter, wo Sie gerade aufgehört haben, meine Gute! Was immer es war.“ Diesmal klang sein Tonfall eine Spur unanständig. „Wir kommen schon allein zurecht.“
„Ganz wie Sie wünschen.“ Insgeheim war die Haushälterin froh, nicht mehr gebraucht zu werden. In ihrem Alter ertrug sie diese Art von Übermut nicht mehr. „Gute Nacht, Madame. Gute Nacht, Monsieur.“
„Gute Nacht“, erklang es unisono zurück.
Als das glamouröse Paar hinter der Holztür der Bibliothek verschwand, wurde es im Vestibül augenblicklich schattiger. Madame Boneasse raffte ihre Röcke und stieg die ausladende Treppe hoch, um nachzusehen, ob Jeanne das Schlafzimmer ordnungsgemäß hergerichtet hatte. Das freimütige Gelächter, das von unten durch die Wände perlte, brachte sie kurz aus dem Tritt. Mürrisch schüttelte sie den Kopf. Wie sich doch die Zeiten geändert hatten!
„Madame Boneasse!“
Schlaftrunken drückte die alte Frau den Kopf tiefer ins Kissen.
„Wachen Sie auf, Madame Boneasse!“
„Was ist?“
„Ich glaube, mit den Herrschaften stimmt etwas nicht.“
Die Haushälterin stützte sich auf und kniff die Augen zusammen. Jeanne stand im Nachthemd an ihrem Bett, eine Kerze in der Hand. Ihr Gesicht wirkte geisterhaft, die Panik in ihrer Stimme jagte der alten Frau einen kalten Schauer über den Rücken.
„Hör auf, mir Angst zu machen, Kind!“, maulte sie. „Was ist los?“
„Ich weiß es nicht genau“. Das Dienstmädchen zitterte wie Espenlaub. „Ich glaube, ich habe Madame um Hilfe rufen hören.“
Jetzt war die Haushälterin hellwach. „Warum hast du nicht nachgesehen?“
„Ich habe mich nicht getraut“, kam es kleinlaut zurück.
„ Was hattest du überhaupt außerhalb deiner Kammer zu suchen?“
„Ich konnte nicht schlafen und bin an der Treppe auf und ab gegangen.“
Madame Boneasse seufzte. Viel wahrscheinlicher war es, dass sich Jeanne in die Bibliothek hatte schleichen wollen, um aus der Bar etwas Cognac zu stibitzen, und währenddessen etwas gehört hatte.
„Und du bist dir sicher, dass es kein Traum war?“
„ Ganz sicher, Madame.“
„In Ordnung.“ Schwerfällig hievte sich die Haushälterin aus dem Bett, suchte mit den nackten Füßen nach ihren Pantoffeln, dann stand sie auf.
„Mach das Ding aus“, sagte sie und zeigte auf die Kerze. „Wir haben Elektrizität.“
„Ja, Madame.“
„Bleib hier. Wenn ich dich brauche, rufe ich dich.“
„Ja, Madame.“
Beim Hinausgehen streifte sich die alte Frau einen Morgenmantel über, dann durchquerte sie das Vestibül und ging schnaufend die Treppe hoch. Sie hätte es niemals laut ausgesprochen, doch für einen dieser modischen Aufzüge hätte sie in dem Moment ihren rechten Arm hergegeben. Das Schlafzimmer der Herrschaften befand sich rechts am Ende des Gangs. Leise trat sie auf die Tür zu und lauschte. Abgesehen von ihrem eigenen Keuchen war es totenstill. Vielleicht hat sich Jeanne alles nur eingebildet, dachte sie, und wartete einen Augenblick. Immer noch nichts. Gerade als sie sich abwenden wollte, hörte sie ein Wimmern. Im höchsten Maße beunruhigt beugte sie sich nach vorn. Erneutes Wimmern. Sie holte tief Luft und klopfte an. Das Geräusch hinter der Tür brach jäh ab.
„Madame?“, fragte sie leise. „Alles in Ordnung?“
Statt einer Antwort setzte das Wimmern wieder ein, diesmal lauter, und eine eisige Faust griff nach Madame Boneasses Herz. Monsieur Milhaud würde seiner jungen Frau doch nichts antun? Sie diente ihm seit siebzehn Jahren und hatte noch nie erlebt, dass er die Hand gegen einen anderen Menschen erhoben hätte. Andererseits gab es immer ein erstes Mal.
„Kann ich hereinkommen, Madame?“
„Ach, meine Gute …“
Vor Entsetzen fasste sich die Haushälterin an die Kehle. Die Stimme auf der anderen Seite gehörte nicht Madame, sondern Monsieur Milhaud! Eine gefühlte Ewigkeit stand die alte Frau vor der Tür, doch letztlich gewann ihr Pflichtbewusstsein die Oberhand, und sie drückte die Klinke hinunter. Im Zimmer brannte eine einzelne Nachttischlampe, deren mattes Licht alles jenseits des Bettes schemenhaft erscheinen ließ. Dennoch kam Madame Boneasse nicht umhin zu bemerken, dass sich der Raum in Unordnung befand. Kleider lagen achtlos hingeworfen auf dem Boden, die zerknüllte Tagesdecke lugte unterm Bett hervor, und Madames Spitzenunterwäsche zierte in unschicklicher Weise die dickbäuchige Mingvase neben der Tür. In der Luft lag etwas, das nicht zu diesem fröhlichen Durcheinander passte. Madame Boneasse konnte nicht sagen, was es war, aber es drohte, ihr die Luft abzuschnüren.
„Ich knipse die Stehlampe an“, murmelte sie.
„Nein.“ Die Stimme, die aus der Richtung des Bettes kam, klang brüchig. „Bitte nicht.“
Die Haushälterin machte sich aufs Schlimmste gefasst, als sie dem Klang der Stimme folgte. Im letzten Krieg hatte sie ungeachtet ihres Alters in einem Lazarett gedient und mehr als einmal der Hölle ins menschliche Antlitz geschaut. Der Anblick jedoch, der sich ihr bot, kaum, dass sie am Fuß des Bettes angekommen war, hatte nichts mit Verätzungen, Schuss- oder Brandwunden zu tun.
„Jesus, Maria und Josef!“ Die alte Frau bekreuzigte sich, während ihr Körper Halt am Bettpfosten suchte. „Was ist passiert?“
„Ich weiß es nicht.“ Der sonore Bass von Monsieur Milhaud klang hohl. Beinahe geisterhaft.
Madame Boneasse holte tief Luft, bevor sie nähertrat und sich über ihre Herrin beugte. Ein Lufthauch traf ihre Wange. Der runzlige Mund unter ihr bewegte sich, offenbar versuchte sie etwas zu sagen.
„Monsieur, sie spricht.“
Maurice Milhauds Augen schwammen in Tränen. „Ich weiß, aber ich kann sie nicht verstehen.“ Er schluchzte. „Ich kann es nicht.“
Die alte Frau richtete sich wieder auf. „Ich werde den Doktor anrufen, und in der Zwischenzeit quartieren wir Sie ...“
„Ich verlasse meine Frau nicht.“
„Aber Monsieur!“ Die Haushälterin rang hilflos mit den Händen. „Vielleicht ist es ansteckend.“
„Nein!“ Der Ton in der Stimme duldete keinen Widerspruch. Ein letztes Aufbäumen.
„Wie Sie meinen“, stammelte die honorable Madame Boneasse, bevor sie endgültig die Fassung verlor und aus dem Zimmer stürzte, als wäre der Teufel hinter ihr her.
Als der Arzt eine Stunde später eintraf, war Véronique Milhaud bereits tot. Sie war an Altersschwäche gestorben – im Alter von nur zweiundzwanzig Jahren.