Читать книгу SMALLTOWN GIRLS II - Bis ihr nicht gestorben seid - Miriam Sachs - Страница 5
1.
ОглавлениеGuess who's living here
with the great undead
this paint by number's life
is fucking with my head
EELS
Jakob lebt. Hinter der Ulme, also da wo unser Grundstück endet, am Kiesweg, neben dem Vogelbeerbaum, wo ich immer entlang schleiche, wenn ich zu spät nach Hause komme, und Charlie und ich mal einen Schatz vergraben wollten und auf eine halbverweste Ratte gestoßen sind, genau da steht Jakob.
Sein Anblick verschlägt mir den Atem. Wie geht das? Halluzinationen? Vielleicht bin ich immer noch auf Drogen! Wäre ja durchaus möglich. Mein erstes Mal auf Pilzen, wer weiß, wann man wieder runter ist von dem Zeug!
Aber dazu sieht die Welt eigentlich schon zu klar aus. Regelrecht ausgenüchtert. Nur dieser Morgennebel ... -
Ich bin misstrauisch, jeder meiner Schritte erschüttert das Bild – Jakob am Baum – ist das Raureif? Im Sommer? Habe ich Tränenschleier vor Augen, träum ich, wach ich ... spinn ich?
Aber als ich näher komme durch das feuchte Gras und jeden Moment erwarte, dass mein Hirn das Bild irgendwie korrigiert, hebt Jakob langsam und lässig seine Hand, spreizt die Finger, führt sie zum Mund und pfeift. Das ist Jakob, das ist unser Pfiff! Es wird mir heiß und mein Herz klopft wie ein Dampfhammer. Ich renne ihm entgegen - barfuß wie ich bin, trete in eine Nacktschnecke und bin glücklich darüber, weil es eine wahrhaftig eklige Nacktschnecke ist, die beweist, dass ich wach bin. Mein Bruder mit rasiertem Kopf. Ohne die leicht gelockten, braunen, fast immer leicht fettigen Haare wirkt er fremd - aber er ist es. Er lächelt ein etwas schuldbewusstes Lächeln, schiebt den Kopf nach vorne, verlegen, als wollte er sich dafür entschuldigen, soviel Umstände gemacht zu haben. Das ist so typisch! Jetzt kommt er mir entgegen. Prompt bleibe ich stehen. Er ruft mir mit gedämpfter Stimme etwas zu, das ich nicht genau verstehe, seinem Blick nach muss es was sein zwischen „Es ist nicht, wie du denkst! und „Dreh nicht durch!“
„?!“
Es ist wirklich Jakob. Er lebt und ich soll nicht durchdrehen!
Ich fang schon wieder an zu heulen, wie nach dem Trip eben. Ich löse mich auf in Tränen. Oder heul ich schon die ganze Nacht? Ein Gefühl zu zerfließen, nur die Füße stehen noch fest. Jakob sieht mich an, und blickt dann verlegen weg.
„Wie siehst du denn aus, Lu!"
„Und du? Müsstest du nicht ... bist du nicht ...“
„Und du?“ Er fällt mir ins Wort, eh ich „tot“ sagen kann. „Wieso hast du nur Unterwäsche an? Wenn Papa dich so sieht, flippt er aus!" Er lebt! Er ist nicht tot - aber meckert hier rum? Erst als ich an mir runter sehe, verstehe ich, was er meint. Ich hab wirklich nur Unterwäsche an. Filmriss. Morgen nach dem ersten Trip. Wo hab ich doch gleich meine Klamotten gelassen? Ich erinnere mich nur an heiße Gefühle, die ich meinen Füßen entgegengebracht habe, ich erinnere mich, dass Charlie nicht davon abzubringen war, einen Baum zu bespringen.
„Papa flippt nicht aus, dem ist alles komplett egal seit..." Seit du tot bist. Du bist tot. Du bist hier. Wieso bist du hier? Wieso warst du die ganze Zeit nicht da? In meinem Hirn fahren die Gedanken Achterbahn.
„Es tut mir so leid, Lu, ich hab dich echt sitzen lassen. Das hab ich nicht gewollt so."
„Wir müssen jetzt nicht über mich reden! Wie kommst Du hierher? Und wieso ...?“
Jetzt bin ich ihm so nah, dass ich seinen Atem sehen kann, sogar riechen, den vertrauten Duft - ein bisschen rauchig, ein bisschen Seife und irgendwas wie Wald. Es ist Jakob, er lebt. Die Achterbahn endet im freien Fall, da wo mein Herz schlägt. Wild. Das einzig Tote ist die Schnecke zwischen meinen nackten Zehen. Meine Füße sind eiskalt.
„Du solltest Dir Schuhe anziehen", sagt Jakob.
***
„Schuhe anziehen? Hast du sie noch alle? Ist doch völlig egal! Du lebst!“
„Lu, stopp!“
Er lebt, er steht vor mir und redet ... was auch immer er da redet! Wo kommst du her, wo warst du, wie konntest du... alles will gleichzeitig raus und nix krieg ich über meine Lippen und verrückterweise ist das erste, was mir dann rausrutscht: „Wenn ich das Charlie sage - die flippt aus!“ Der Morgenwind trifft mich und verpasst mir eine leichte Gänsehaut. Warum guckt er so? Jakob sieht mich ernst an, sein Blick ...- Oh Gott, Schau nicht so! Bitte! Aber sein Blick sagt alles.
„Nein Lu, es tut mir leid...“ - Sag es nicht! Nicht!
„... Ich bin tot.“ - Aber er ist doch da! „Das ist nicht mehr zu ändern. Und es tut mir so leid für dich, aber es war ...“
„Ja?“
„Es ist jetzt so.“
Er sieht mich an, mein Bruder, mein toter Bruder, mit so einer Wärme und gleichzeitig Bedauern, ich zerschmelze gleich! Was für Wahnsinns-Gefühle! Zum Greifen nah! Sein Anblick ist die reinste Erlösung! Ich versteh's nicht, aber ich platz gleich vor Glückseligkeit. Überseligkeit! Da bist du! Egal warum.
Er ist da - und lässt die Arme hängen. Seine Augen glänzen wie dunkle Perlen. Bei seinem Blick bleibt mir die Luft weg. Ich gehe einen Schritt auf ihn zu.
„Lu, komm nicht näher. Hier ist die Grenze.“
Mein Bruder steht vor mir, seine Hand wehrt ab, meine Beine zittern im Gras, der Grund unter meinen Füßen wird kälter, der Rest von mir verglüht. Wenn ich näher komme ... „Sterbe ich?“
Es ist so kalt, dass mein heißer Atem zu sichtbarem Dunst vor meinen Augen wird. - Jakob kratzt sich an der Nase, das macht er immer, wenn was Unangenehmes kommt. Das letzte Mal hab ich das gesehen, als er mir schonend beigebracht hat, dass ich ihn in den Ferien nicht in Berlin besuchen könne. Zu viel zu tun. Ich nehm dich nächstes Mal mit. Nächstes Mal! Wann? Ist jetzt nächstes Mal? Jakob räuspert sich:
„Das liegt bei Dir, Lu.“ Wie kann eine raue Stimme so zart sein? Er haucht es fast: „Du willst doch nicht sterben?“
Meine Knie werden weich. „natürlich nicht!“ - Sind das Tränen, die ihm über das Gesicht laufen und glänzen? - Und auf meiner eigenen Wange brennen? - Ist das ne Fangfrage? Das ist ne Fangfrage, oder?! „Kommst du hier als Todesengel, oder was?“
„Es ist deine Entscheidung, Lu! Willst du leben?“
„Ich will bei dir sein, alles andere ist mir egal!“
Er atmet tief und langsam, als wäre da ein Schmerz.
Tut es weh? Wie bist du gestorben? Ich weiß nur: Autounfall. Genickbruch. Aber wie? Tut es weh? Tut es immer noch weh? Wird es weh tun? Aber nichts davon bring ich raus. Erst nach ner Weile stammle ich: „Jeder will doch leben, oder? Natürlich will ich leben!“
„Das ist gut, Lu! Aber dann musst du jetzt kämpfen!“
- Und ich will bei meinem Bruder sein! Nicht verlassen werden! Die Tränen fließen immer stärker.
„Ich will mein altes Leben wieder, mit dir, ich will zurück!“
„Das geht nicht. Es gibt kein Zurück.“ Er steht da, eine Hand am Baum, mit der anderen fährt er sich über seinen Kopf. „Es gibt kein Zurück, Lu. Es gibt nur den Augenblick, den du dir bewusst machen musst. Es ist alles eine Frage des Bewusstseins. Das ist nicht leicht. Verstehst Du ...!“ Da steht mein toter großer Bruder am Vogelbeerbaum und redet wie ein Selbsthilfebuch. Ich hab kein Wort verstanden, aber das Gefühl, alles zu wissen. Ich lache.
„Lu! Hörst Du mir überhaupt zu?“
„Ja... Ich höre dich... ich weiß. Ich soll ...?
„Hast du verstanden?“
Hab ich nicht. Aber wie kann ich das überhaupt alles fassen! „Das ist zu viel, Jakob. Ich versteh ja nicht mal, wie du hier sein kannst.“ Was hat er gesagt? Es gibt kein Zurück. Siedendheiß läuft mit jetzt der Schweiß den Nacken runter. An „Zurück“ haben wir lange nicht gedacht. Unser Problem ist die Zukunft. Ich gehe einen Schritt auf ihn zu: „Aber vorwärts geht, ja? Sprünge in brennende Horrorvisionen! Was passiert mit uns, Jakob? Ist dir das auch so gegangen? Wird das geschehen?“
„Das hängt von dir ab, Lu, das habe ich dir doch gerade erklärt.“
Verdammt.
„Genau das meine ich: Hör zu, Lu, sei wach. Tu was! Charlie reißt sich den Arsch auf, um dich wachzurütteln, seit Wochen.“
„Jakob, bitte ...“ Meine Stimme wird piepsig; „... es ist also wahr?“ Man schickt uns ne beschissene Prophezeiung und das wird dann so einfach Wirklichkeit?
„Das ist doch irre,“ schrei ich, „wegen dir habe ich die ganze Zeit über stur behauptet, dass das ein Scheiß war, das mit der Vision!“
„Lu! Was glaubst du denn, was ich bin?“
„Aber - du bist doch ... hier!“
„Ich bin hier“, sagt er leise, tippt sich an die Stirn und zeigt mir einen Vogel.
Er steht regungslos am Baum. „Es liegt bei dir, was Wirklichkeit wird. Aber es gibt kein Zurück!“, sagt er leise. Seine Stimme ist kaum mehr als ein Hauch. Mein Fuß berührt das Gras. Noch ein Schritt...
„Nicht Lu. Die Grenze ist hier!“
„Geh nicht!“ Nur ein Schritt! „Ich will das nicht. Die Welt soll normal sein!“ „Wenn ihr wieder eine normale Welt wollt, müsst ihr euch eine schaffen.“
Mein Bruder steht vor mir, keine zwei Schritte von mir, und wenn ich zu ihm gehe ... sterbe ich. Und er sagt, ich soll mir ne neue Welt bauen. Spinnt er?
„Was glaubst du, wie viele Welten es gibt? Und wie viele davon normal sind!“
„Was?“
„Lu, ich muss wieder gehen!“
„Nein, nicht!“ Hitze, Kälte. „Bleib!“ ich will ihm nach, ihn festhalten. Augen zu und durch! Es dauert lange, bis ich sie wieder öffne. Aber als ich es tue...
… umklammere ich den Stamm der Vogelbeere. Der Widerhall meines Pulses haut mich fast um. Und die Leere der Wiese. Ein blasses enttäuschendes Morgenrot liegt in der Luft. Und ein bisschen Seife, ein bisschen rauchig und der Stamm der Vogelbeere. Das bin ich - und der Baum.
Er ist nicht da. Er hat mich verlassen. Ich lebe. Er ist tot.
Mein Kopf tut weh. Und mein Herz ...-
es ist mein Herz, das schlägt. Ich sacke am Boden zusammen.