Читать книгу SMALLTOWN GIRLS II - Bis ihr nicht gestorben seid - Miriam Sachs - Страница 7
3.
ОглавлениеCharlie ist meine älteste Freundin, vor dreizehn Jahren hat sie mir im Sandkasten mit der Schippe auf den Kopf gehauen und ich hab sie daraufhin in den Arm gebissen (aber die Narbe ist echt kaum noch zu sehen!). Seitdem sind wir beste Freundinnen. Manchmal beiß ich sie immer noch, aber im Spaß; sie ist einer der wenigen Menschen, deren Zahnbürste ich ohne zu überlegen benutzen würde, und die mein Tagebuch lesen darf. Ich würde mir ein Bein ausreißen, damit es ihr gut geht, aber wer will schon mein ausgerissenes Bein.
Es ist mittlerweile fast neun, wir haben Sunshine her telefoniert, ich sitze wie benebelt auf Charlies Bett und mein Hirn fühlt sich an wie in Watte gepackt.
Sunshine wuselt ins Bad und will mir irgendwas holen. „Lass doch!“ Ich heul gleich, weil sie alles tun, um mir zu helfen, dabei wollte ich doch was tun. Kämpfen. Retten. Stattdessen krieg ich Streicheleinheiten - und prompt fließen die Tränen.
Weil sie für mich da ist. Weil sie überhaupt noch da ist! Und ich die ganze letzte Zeit so sensibel war wie ein Klotz. Bremsklotz! Und als beste Freundin habe ich in der letzten Zeit nämlich eher versagt: Ich weiß nicht, ob sich das jemand vorstellen kann, wie es ist, wenn die älteste, einzigste Freundin Schlaftabletten nimmt. Und zwar, weil Du selber nicht raffst, wie wichtig du ihr eigentlich bist und wie sehr sie dich gebraucht hätte. Jetzt weiß ich's.
Und Fakt ist, dass ich sie überhaupt erst in die Verzweiflung getrieben hab.
Okay, sie mich auch. Mir war das alles zu viel: Zugfahrt, krasses Todeserlebnis, wo doch mein ganzes Zuhause wie ne persönliche Aussegnungshalle ist.
Das schlimmste in meinem Leben ist und bleibt, dass Jakob weg ist. Ich habe versucht, ihn irgendwie zu bewahren, so wie er für mich war. Und dann kommt meine beste Freundin und reibt mir einen Jakob unter die Nase, den ich nicht kenne. Und der genauso was durchgemacht haben soll wie es uns bevorsteht? Ist hier alles kaputt und krank? Das ist echt zu viel: Autounfall, Feuertod. Ein böser Feind wird uns töten.
Was für ein Feind, bitte? Ich hab keinen Feind. Ich bin nett! Ich hab niemand was getan.
Außer Charlie weh.
Dass sie jetzt da ist! Dass sie mich jetzt einfach nur hält und nichts sagt, tut so gut. So groß ihr Schock war, kaum heul ich, wird sie zum Fels in der Brandung. Ihr Haar riecht nach Apfelshampoo und bettet mich in eine blonde Wolke; erst in diesem Moment löst sich das Schuldgefühl, dafür heule ich aber Rotz und Wasser. Ich habe keine Angst vor dem Tod! Das weiß ich seit heute früh. Aber so ausgeliefert zu sein! dass das mit uns passiert, nicht nur mir, sondern auch Charlie und Sunshine! Und wir wissen nicht was wir tun können, und wie es genau ausgeht, das macht mich fertig.
Charlie hält mich. Der Rotz bleibt in ihrem Haar kleben. „Das wollte ich nicht!“, schluchze ich und wische in ihrem Haar herum.
„Das ist doch nicht schlimm!“
„Doch!“ Weil, ich mein ja nicht nur den glibberigen Faden in ihrer Frisur. Alles, meine ich. Die letzten drei Wochen.
„Natürlich war das nicht bloß ein zufälliger Traum!“
Jetzt ist es raus. Charlie nickt langsam.
Da kommt Sunshine aus dem Bad mit einer riesigen Klopapierfahne, die sie mir vor die Nase hält. Es fehlt nicht viel und sie schnäuzt mir die Nase. Mich schüttelt es immer noch, aber jetzt muss ich doch lachen.
„Als erstes ziehst du diese Dinger aus!“, sagt Sunshine und zeigt auf die Stiefel an meinen Füßen. Ich verschluck mich zwischen Weinen und Lachen. Irgendwie kommt's mir vor, als ob mir alle Welt dauernd sagt, dass ich meine Schuhe entweder aus oder anziehen soll.
„Lachst du oder weinst du?“, fragt Sunshine.
Ich weiß nicht, was gerade besser ist: Charlies Apfelshampoo-Wolke, die vertraute Nähe, oder Sunshine, die mir die Stiefel von den Füßen reißt. Das Bein bleibt dann irgendwie doch noch dran. Es macht Plopp und mein total schwitziger Fuß ist frei. Sunshine zögert nicht lang und schmeißt, ohne auch nur nach unten zu schauen, Lisbeths Gummistiefel aus dem Fenster. "So, weg damit!" Ist das so einfach?
Charlie springt auf und starrt zum Fenster. „So einfach ist das nicht!“
„Doch!“, sagt Sunshine. „So scheiße sich das anfühlen mag, es ist das Beste, was seit langem passiert ist. Ist doch ein Anfang! Die ganze Zeit nur Vorahnungen und Panik! Jetzt haben wir was in der Hand. Das erste Puzzleteil einer beschissenen Wirklichkeit – und jetzt kann man es entsorgen! Also wird diese Wirklichkeit nie mehr so eintreten können.“
Wir starren beide in Richtung Fenster. „Jedenfalls nicht mehr ganz genauso!“
„Na toll, und das war's jetzt?“, fragt Charlie. Ihre Stimme klingt auf einmal ganz dünn. Der Fels in der Brandung mutiert zu einer Lawine, die jeden Moment über uns hereinbricht.
„Nachher entsorgen wir sie richtig!“
Aber ich komm langsam wieder auf den Teppich. Ich sehe Sunshine am Fenster stehen und mein Mut kehrt zurück. Sie wirkt so klar. Fast erinnert sie mich an Jakob, der heute morgen in meinem matschigen Mushroom-Hirn dasselbe gesagt hat: dass wir kämpfen müssen. Leider hat er mir nicht gesagt wie. - Okay, vielleicht ist es das: Die Wirklichkeit verändern! Ich schnappe nochmal nach Luft, so ein Nachbeben, vom Heulen. Dann sage ich: „Ja. Genau das ist es: wir müssen etwas dagegen tun. Alles tun, damit die Wirklichkeit nicht so wird wie im Traum. Stiefel weg ist der erste Schritt!“ Und weil Charlie immer noch so verzweifelt in Richtung Fenster schaut, nehme ich alle Zuversicht zusammen, die ich habe. „Wir müssen kämpfen!“ Das hat Jakob gesagt. Wachsam sein und kämpfen, oder?
Sunshine dreht sich eine Zigarette. Sie ist ganz bei der Sache. Das ist sie eigentlich immer, mit allem was sie macht. Jetzt lässt sie ihr Feuerzeug aufschnappen.
Den ersten Zug bläst sie zum Fenster raus. Sehr cool. Ich sehe aber, dass sie nach unten schielt, wo die Stiefel jetzt wohl liegen. „Die kommen nachher in die gelbe Tonne und übermorgen sind sie Tetrapacks!“
Eklige Vorstellung, aus Lisbeths Schuhen seine Frühstücksmilch zu trinken.
Sunshine reicht mir die Zigarette rüber, aber ich will jetzt nicht rauchen. Es geht mir besser. Die Morgenluft, das Zimmer ohne Schuhe ...
„Ihr glaubt doch nicht, dass jetzt alles gut ist!“ Charlie sitzt auf ihrem Bett und klammert sich mit ihren Händen an einem Kissen fest.
„Aber ... wir sind uns endlich alle einig! Und wir werden was tun!“ Mein Mut ist zurück.
Charlie aber sieht aus wie ein böses Häufchen Elend. Kein Vergleich zu der Überzeugungskraft und der Zielstrebigkeit, mit der sie uns in den letzten Wochen Belege ihrer Prophezeiungstheorie um die Ohren gehauen hat.
„Charlie, du hast so lange nicht locker gelassen und ich hab dich manchmal echt auf den Mond gewünscht, weil ich das alles nicht hören wollte. Aber jetzt wird alles anders. Wir sind zu dritt! Das ändert doch einiges!“
Sie ist blass und sieht mich mit großen Augen an. „Nur weil die Stiefel jetzt da sind?“
„Nur?“ Sunshine schließt das Fenster. „Das ist der Hammer, Charlie. Es ist ein Anfang. Ein echtes Puzzleteil!“
„Soll ich mich jetzt freuen, dass es endlich losgeht?“
„Nee, freu dich mal, dass Lu endlich glaubt!“
Charlie greift nach der Klopapierfahne, die noch weitgehend unbenutzt auf ihrem Bett liegt und tupft sich die Augen ab. Sie ist der einzige Mensch weit und breit, der genauso schnell und viel weint wie ich. Alienartige Schluchzer brechen aus Charlie hervor. „Und wieso ... heult Lu dann nicht auch?“ Sie zerknüllt das Klopapier, und schmeißt es in meine Richtung.
„Weil ich nicht nur an die Vision glaube, ich glaube auch, dass wir was dagegen tun können.“
Okay. Es hilft nichts. Ich muss es ihr sagen. Das wird helfen:
„Jakob hat es mir gesagt.“
Das Schluchzen bleibt Charlie im Hals stecken. – Totenstille. Beide starren mich an.
„Also ... heute früh hatte ich noch ne ziemlich irre Drogennachwirkung ...“ Und dann erzähle ich von Jakob am Vogelbeerbaum, von der Frage, ob ich leben will, und dass ich leben will und wir kämpfen müssen. Und mit jedem Wort werde ich selber klarer. Es ist egal, ob Jakob ne Erscheinung war, ne Prophezeiung oder letztendlich nur ein persönlicher Fingerzeig. Ich weiß, dass die Botschaft uns weiterbringt, weil... „... na ja mein großer Bruder eigentlich immer recht hat. Selbst wenn er nur in meinem Durcheinander-Hirn herumspukt.“
Charlie ist sprachlos, ich seh Hoffnung in ihren Augen aufblitzen, dann aber schnappt sie nach Luft und platzt los: „Und? Und was hat er genau gesagt? Was können wir tun? Wer ist unser Feind und wie bekämpfen wir ihn?“
Ich komme ins Stottern. Verdammt, wie kann man so was auf den Punkt bringen? „Er hat gesagt, dass wir wachsam sein sollen und dass es viele Möglichkeiten gibt. Also glaube ich.“
„Welche?“
„Das hat er nicht gesagt. Dass wir glauben sollen und unser Bewusstsein soll wacher werden.“ Ich werde rot. Es klingt blöd, wenn man es nacherzählt. Über Charlies hoffnungsschmimmernden Augen runzeln sich die Augenbrauen. „Ist das alles?“
„Ich weiß nicht mehr alles im Detail, aber ...“ ich werde rot.
„Wie kann man denn da nicht richtig hinhören! Wir brauchen eine Botschaft!“
„Charlie, die Botschaft war erstmal, dass alles gut werden kann! Und das wird es, ich verspreche es. Ich bin da!“
Die Augenbrauen glätten sich.
„Aber du glaubst jetzt nicht an Engel oder so was, oder?“ Sunshine sieht mich so komisch an.
„Nein, sag ich doch, Halluzination. Aber es war etwas, das mich innerlich gestärkt hat. Nenn's wie du willst!“
„Schade eigentlich!“, sagt sie langsam. „Weil ich dir das echt gönnen würde, Lu, dass dein Bruder im Himmel ist und ab und zu mal vorbeischaut.“
Charlie starrt sie an. „Verarschst du uns jetzt?! Darüber macht man nämlich keine Witze!“
„Nein! Ich mein das ernst: es wäre schön. Ich glaub’s nicht, aber es wär der Hammer, wenn ich ausnahmsweise mal Unrecht hätte!“
Sie ist seltsam, aber ich bin mir sicher, sie hat gerade etwas Nettes sagen wollen.
Charlie murmelt „Lieber Engel als Pilze.“
Ich bin jetzt echt müde und leer; gestern die durchgemachte Drogen-Nacht, dann dieser seltsame Morgen, Jakob am Baum, ein persönlicher Fingerzeig von wo auch immer.
Wir liegen inzwischen alle drei auf dem Bett und ich kuschle mich an Charlie, während Sunshine mit verschränkten Armen auf dem Rücken liegt und die Raufasertapete anstarrt.
„Ich weiß jetzt, wie du dich gefühlt hast. Und es tut mir echt leid“ Ich hätte das längst sagen müssen, aber irgendwie ging's nicht.
Sie seufzt tief.
„Aber jetzt...“
„Ich weiß...“
„...jetzt geht alles!“
Das weiß ich noch: er hat gesagt, ich soll an das Gute denken, und dass alles möglich ist.
Ich schlafe auf Charlies Bett ein und als ich für einen Moment nochmal aufwache, liegt Charlies Arm über meiner Nase und Sunshines Knie piekst mich in den Rücken. Irgendwie getröstet schlafe ich ein. Gegen vier in der Nacht werde ich wach, weil Charlie vom Klo kommt. Sie hat sich ihren Schlafanzug angezogen und mit hochgebundenem Haar tappt sie in Richtung Bett. Das kenn ich von unseren Übernachtungen. Sie geistert rum. Und manchmal, wenn sie nicht schlafen konnte, wenn sie bei mir übernachtet hat ... –
„Hast du wirklich Jakob gesehen?“
… hat sie bei meinem Bruder vorbeigeschaut.
„Du hast oft mit ihm geredet in der Nacht, wenn du bei uns warst, oder?“
„Ich konnte nie schlafen. Und du hast geratzt wie mein Opa. - Ich hab mir immer einen großen Bruder gewünscht. Einzelkind is scheiße!“ Sie schlüpft ins Bett. Ihre Füße sind kalt. „Ich beneide dich darum“, sagt sie, “dass du Jakob gesehen hast. Ich hab von diesem ganzen Drogentrip nur Horrorbilder gespeichert und komme mir dämlich vor.“
„Eigentlich war ich schon wieder recht klar, als ich die Erscheinung hatte. Vielleicht dünnhäutiger ...“ Vielleicht müssen wir alle viel mehr auf die Stimmen in uns hören. Charlies Füße werden langsam warm. Sie flüstert. „Irgendwas in uns muss da doch sein, eine Fähigkeit, Bilder zu empfangen... Und Sunshine muss diese Fähigkeit auch haben. Sonst wäre sie nicht auch ... na ja … dort gewesen.“
Sunshine neben uns knurrt im Schlaf wie ein Jagdhund. Sie tritt sogar. Träumt sie? Eine Weile schweigen wir, draußen wird es schon ein bisschen hell. „Du willst aber nicht nochmal auf Pilze, oder?“, frage ich Charlie.
„Nein! Aber ich bräuchte dringend mal Antworten! Wie haben denn das diese ganzen Propheten gemacht?“
Ich muss lachen. „Du willst dich nicht 40 Tage in die Wüste setzen und meditieren, oder? Ohne Essen, ohne Badewanne, ohne Staubsauger!“
„Ganz sicher geh ich nicht in die Wüste – und ganz sicher nicht ohne Staubsauger!“ Charlie in der Wüste, saugt den ganzen verdammten Sand weg und legt ein Gemüsebeet an! Das würde ich jetzt gerne träumen. Oder von Jakob, und ihn nochmal fragen. Ich bin total müde. Und ich brauch endlich mal wieder einen schönen Traum. Ich streichle Charlies Nase und sage: „Wir überlegen uns was. Morgen. Aber wenn Du denkst, dass mein Bruder Sprechstunde für Einzelkinder abhält, dann träum weiter!“
Langsam dämmre ich dahin, rechtzeitig, bevor es draußen ganz hell wird, falle ich in Schlaf. Träumen tu ich nicht.