Читать книгу SMALLTOWN GIRLS II - Bis ihr nicht gestorben seid - Miriam Sachs - Страница 6

2.

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Ich weiß nicht wie lange ich hier gelegen bin.

Ich bin in einem Meer von Grashalmen, der Morgentau verdampft. Was für ein Chaos in meinem Kopf! Alles in meinem Kopf? Die Drogen. Eine Vision. Halluzinationen.

Jakob hat mal gesagt, ein Zeichen dafür, dass die Zeit vergeht ist, dass die Unordnung zunimmt. Und Mama hat mit einem Blick auf mein Zimmer gesagt, dann würde mir jetzt eine Zeitreise in die Vergangenheit bevorstehen. Mit anderen Worten: Räum endlich auf. Aber es ist hoffnungslos. Das Chaos nimmt zu. Je mehr ich mich anstrenge, desto wirrer wird alles.

Ich lieg am Boden, im Gras zwischen den Käfern. In dieser komischen wimmelnden Welt und die ist so verworren wie der ganze Rest.

Hab ich wirklich gerade gesagt, dass ich leben will? Toll. Bin ich also hier. Hinterblieben nennt man das. Das ist das beschissenste Wort der Welt. Hinterblieben. Allein. Zurück.

Und seitdem ist Ausnahmezustand! Jakobs Tod, dann Charlies und mein Erlebnis im Zug. Eine Ohnmacht, ein Todeskampf, den ich nicht begreife, an einem fremden Ort in einer fremden Zeit. Und ich weiß immer noch nicht warum. Mein Hirn ist eindeutig überlastet. Kein Wunder, dass ich Jakob vor mir sehe.

Aber es kann mir jetzt keiner erzählen, dass es nichts zu bedeuten hatte! Weil ... was ich fühle ist real. Und real tut weh.

Was soll ich jetzt tun? Kämpfen? Gegen wen oder was? Ich habe niemandem was getan. Auf dem Grashalm vor meiner Nase läuft ein roter Käfer, irgendein mir unbekanntes Ziel vor Augen. Alles ein rätselhaftes Gewimmel. Wo ist der Zusammenhang? Warum sollte mich jemand in ein Feuer treiben und verbrennen lassen? Und wenn es so sein wird, wie kann ich es verhindern?

Eine Amsel singt inbrünstig. Dann dieses Quietschen. Oh nein, bitte nicht!

***

Lisbeth kommt aus dem Gemeindehaus, nicht dem Neubau, sondern der alten Remise, in der sie wohnt; ich hab's schon am Geräusch der aufkreischenden Tür gehört: Sorgen-Lisbeth, die Küsterin. Ich würde jetzt echt gerne gehen, niemanden sprechen, und vor allem ist es echt scheiße, dass ich hier in Unterwäsche liege. Einen kurzen Moment schließe ich die Augen, diese bescheuerte Hoffnung, dass sie mich nicht sieht, wenn ich sie nicht sehe. Wie alt bin ich? Vier? Dann wäre es nicht ganz so schlimm, hier halbnackt herum zu liegen.

„Luise?"

Ich blinzle. Der nölige Wortschwall bleibt aus. Lisbeth steht vor mir und sagt: „Zieh dir was an und komm rein!" Sie schmeißt mir ein Ungetüm von Wolljacke über, ich habe das Gefühl, mir wirft jemand ein ganzes Schaf ins Gesicht. Ein kratziges Schaf, das nach Lavendel-Weichspüler riecht - und Schweißflecken. Ich lasse das über mich ergehen. Das ist mein Leben. Is so!

Lisbeth sagt nichts. Seltsam. Ich sitze in ihrer Jacke in ihrem elektrischen Massagesessel und warte auf eine Tasse Tee. Widerstand ist zwecklos. Und ich hab auch keine Kraft mehr. Ich kann nur hoffen, dass es schnell geht, dann komme ich vielleicht noch rechtzeitig ins Bett, bevor meine Eltern wach sind. In 20 Minuten klingelt Papas Wecker.

"Also Luise, ich werde dir keine Standpauke halten... " sagt sie, und das Kamillenteeglas knallt samt Untertasse auf den geblümten Beistelltisch. Und natürlich kommt jetzt doch eine.

Lisbeth hat Asthma und nach jedem Satz schnappt sie nach Luft, sie klingt wie Darth Vader und sie trägt auch fast die gleichen Klamotten wie er.

„Du, als Pfarrerstochter! Ein Mädchen muss sich die Unschuld bewahren wie einen Schatz!" - Schatz! Ich muss an die verweste Ratte im Garten denken. Und an Jakob.

„Und ein Mädchen läuft nicht halbnackt in Unterwäsche auf der Gemeindewiese rum!"

„Aber das ist ja gar keine Unterwäsche, das ist ... Bademode!!!"

Lisbeth wird still. Sie schaut, als hätte ich jetzt echt ihre Intelligenz beleidigt, schüttet dann aber doch Zucker in meinen Tee. Viel zu viel.

„Danke, reicht!“ Der Tee schmeckt wie Katzenpisse.

Ich trinke einen Schluck, die Tasse ist nicht richtig abgespült, auch egal. Ich starre benommen vor mich hin.

An Lisbeths Wand hängt ein Bild von Jesus. Ich hab's schon hundertmal gesehen, handelt vom ungläubigen Thomas. Es ist echt krass gemalt: Thomas, wie er Jesus seine Wunde anglotzt, als Beweis für seine Auferstehung, er schaut richtig rein, wie durch ein Schlüsselloch. Und Jesus hat die Hand von Thomas genommen und führt sie in die Wunde. Ich fand das Bild schon immer toll. Aber heute berührt es mich seltsam. Der kann’s nicht fassen, dass sein Jesus wieder da ist, dass er doch nicht allein zurückgelassen worden ist. Weil er's nicht fassen kann, fasst er in die Wunde. Logisch.

„Trink deinen Tee!“

Ich trinke meinen Tee.

Eigentlich war Thomas ja nur ungläubig, weil er als einziger nicht dabei war, als Jesus kurz nach seinem Tod zum ersten Mal wieder erschien. Weil er halt nicht mit den anderen zusammen getrauert hat. Kann ich total verstehen. Vielleicht saß er lieber allein im Dunkeln rum und hat Gitarre gespielt, und dann kamen sie plötzlich alle an: Hey, du hast was verpasst! Sensation, ER war da!

Klar, dass man das dann nicht glaubt und sagt: Das glaub ich erst, wenn ich's mit eigenen Augen sehe. „Zeig mir deine Wunde! Und ich leg meinen Finger rein. Und dann glaub ich's!“

Vielleicht hatten die anderen auch alle gemeinsam die gleiche Vision. Und Thomas saß allein, zwei Abteile weiter, und war bekifft.

„Lisbeth? Wäre es nicht eigentlich viel irrer gewesen, wenn Jesus nicht in echt mit Wunde und so zurück gekommen wäre, sondern alle gemeinsam eine Vision gehabt hätten? Das ist doch fast genauso sensationell, oder?“

Ihr Blick durchbohrt mich förmlich. „Schleimst du jetzt rum?“, sagt sie harsch.

„Nein! Dass etwas nur eine Vision ist, heißt doch nicht, dass sie nicht auch wahr ist – oder wird, oder?“

Ihre Stirnfalten glätten sich, sie nickt. “Ja,“ sagt sie, „für den, der glaubt, ist beides Wirklichkeit.“

„Vorhin da am Baum hab ich ...“

„Jetzt trink deinen Tee!“ Lisbeth seufzt. „Ich will nicht wissen, was du da gemacht hast!“

„Aber ich! Ich wünschte, ich wüsste...!“

„Selig sind, die nicht sehen und doch glauben“, sagt Lisbeth, „...sagt Christus.“ Ihre eisblauen Augen durchbohren mich förmlich. Dann blitzen sie auf, ihr schildkrötiger Hals schiebt sich mitsamt dem kleinen Kopf nach vorne. „Ich sag dir was, was kaum einer weiß ...“ Ihre flüsternde Stimme kriecht mir ins Ohr. Was kann sie wissen? „...wenn man genau liest, steht da noch nicht mal, ob Thomas wirklich die Hand in der Wunde hatte. Man hat es ihm angeboten. Aber hat er’s getan? Oder hat es ihm gereicht, dass Jesus ihm das angeboten hat.“

Lisbeth hat ne Art das zu erzählen, als moderierte sie Galileo Mystery. Ich hab gedacht, sie verrät mir sonst was, und dann hat sie nur das Kleingedruckte in der Bibel entdeckt. Trotzdem ist das ein seltsamer Augenblick. Die Sonne durchflutet die winzige Stube, Staubpartikel tanzen, die Uhr tickt leise und das Gefühl von vorhin ist immer noch da. Jakob am Baum. Jesus. Ich. Thomas.

Und nie is wirklich was klar. Die wesentlichen Dinge erfährst du nicht. Is so! War Jesus jetzt echt da oder war er ne Vision und hat nur gepokert, und Thomas is drauf reingefallen. Oder doch den Finger in die Wunde? Hat er sich vorher die Hände gewaschen. Hätte er heute sein Handy gezückt und die Wundmale des Herren auf youtube gestellt? Und hätte man ihn, als er auf den Auslöser drückte, allein am Baum stehen lassen? -

„So. Bibelstunde beendet. Na, geh schon", sagt Lisbeth sanft. Okay, also Freispruch. Ich drück die quietschende alte Türklinke herunter, die Jacke kratzt – egal. Gleich bin ich hier raus! -

"Luise!" - Zu früh gefreut. "Aber doch nicht barfuß!"

Gerade, wenn man sich in Sicherheit glaubt. Total der Horrorfilm!

„Eisfüße!" Die Hand, die mich packt, ist nicht weniger von Eis. „Du hast ja Eisfüße!“

„Ich bin doch gleich drüben! Die paar Meter!", sag ich.

„Nix!", sagt sie. „Nix da!“ Und ihr schrumpliges Gesicht, dessen dünner Mund sonst immer ein gerader Strich ist, gerinnt plötzlich fast zärtlich zu einem Lächeln. Das ist zu viel. Ich ergebe mich.

Ich hab die Wahl zwischen Birkenstockschuhen und halbvergammelten Geriatrie-Gurken mit immerhin Luftlöchern. Ist das eklig! Zum Glück beides viel zu klein für meine 39er Füße.

„Mit so großen Füßen kriegst Du nie einen Mann" knurrt Lisbeth.

Ich sitze auf der Schwelle, in mein Schicksal ergeben und denke, wen juckt das noch! Ich lege meinen Kopf in den Nacken. Der Himmel ist seidenblau, ein paar Wolken sind am Horizont, bei uns im Haus klingelt der Radio-Wecker: Cat Stevens singt "Morning has broken", während Lisbeth mir irgendwelche neuen Abscheulichkeiten über die Füße stülpt. Bitte sehr.

Als ich den Kopf wieder sinken lasse, trifft mich fast der Schlag: Gummistiefel. Laubfroschgrüne Dinger mit orangefarbenen Blumen drauf.

"Wie angegossen!", jubelt Lisbeth. „Kindchen, die behältst du am besten, für mich sind die eh zu bunt.“

Eine Welle von Hitze überrollt mich, breitet sich in meinem Körper aus und endet in den Zehenspitzen. Und schlagartig ist alles wieder da, die Erinnerung, der Traum, das Feuer, alles: Ich krieg keine Luft, ich habe Angst, ich bin geliefert. Ich versuche mir die Dinger von den Füßen zu zerren.

"Nix!", schnauft Lisbeth.

Die Schuhe brennen mir an den Füßen wie die Schuhe der bösen Hexe in Schneewittchen, die sich damit zu Tode tanzen muss. Ich laufe wie auf glühenden Kohlen in Richtung Haus, in eben den Schuhen, in denen ich vor drei Wochen im Feuer verbrannt bin. Im Traum! In Wirklichkeit! Verbrennen werde! Die Schuhe jedenfalls sind absolut real.

Kaum hat Lisbeth die Tür hinter sich geschlossen, mache ich kehrt. Drüben weht der Wind durch die Zweige der Bäume. Nichts deutet darauf hin, dass Jakob hier gewesen ist. Das Gras ist verbrannt und gelb, war es vorhin nicht viel saftiger und feucht unter den Füßen?

Ich stecke in fremden Schuhen fest, die mich daran erinnern, wie es ist zu verbrennen.

Jakob hat gesagt: wenn ich Leben will, muss ich kämpfen. Diesmal werde ich kämpfen!

***

Scheiße! Wie kann ich kämpfen?!

Ich steh da, in Lisbeths Schafspelz und den Stiefeln, in denen ich sterben werde. Gestorben sein werde. Ich weiß ja immer noch nichts! Ich hab nur ein Stück Realität an den Füßen, verdammt enge Wirklichkeit! Ich muss zu Charlie, ihr all das sagen und zwar sofort! Wo ist mein Rad? Zu Fuß brauche ich ewig! Ich kann’s nicht finden und zerre schließlich mein altes Rad von vor drei Jahren aus dem Schuppen. Zu klein, ich muss strampeln wie blöd und mit jedem Tritt in die Pedale meines Fahrrads spüre ich die schrecklichen Dinger an meinen Füßen.

Visionen und Flashs sind das eine. Da kann man spekulieren, sich die Ohren zuhalten oder sich im Kreis drehen. Aber die Wirklichkeit ist greifbar, mit Händen und Füßen. Ich fasse es nicht, aber … jetzt glaub ich's.

Alles ist plötzlich anders: ein Teil der Zukunft ist aufgetaucht und ich stecke darin fest. Wir! Wir stecken fest. Ich wünschte ich hätte es schon vorher kapiert. Volle Kanne rein in die Wunde! Scheiße. Meine Beine stecken fest wie in 'nem Fangeisen. Okay, ich will nicht sterben. Hab ich doch gesagt! Niemand darf mehr sterben, klar?!

Noch ist die Welt da - und so unverschämt intakt. Um mich herum ist alles so normal. Ich radle in völlig absurdem Outfit durch die Stadt, den Bürgermeister-Bußjäger-Weg runter, vor der Venezia-Eisdiele steht das ausgeblichene Schild, das „Aller beste Speise-Eise - Super-Preise“ verspricht. Die Bäckerei Krapp ist schon offen, Frau Krapp dekoriert die Auslage mit dem Hefegebäck von gestern. Wie können sie das tun? Und ich soll demnächst nicht mehr dazugehören? Jetzt erst, in diesem Moment verstehe ich wirklich, wie sich Charlie drei Wochen lang gefühlt haben muss, während ich in anderen Sphären nach Trost gesucht habe.

Tod, Schmerz, Trauer - davon kann ich ein Lied singen... - Aber: das ist alles Bockmist, wenn man wirklich ... dran glauben muss!

Ich muss Charlie sofort sagen, dass sie recht hatte! Wie unglaublich bescheuert, vernagelt und blöd war ich die ganze Zeit und jetzt stecken wir schon mitten drin in der Gefahr.

Es ist kurz nach sieben, als ich atemlos vor ihrem Haus stehe und Sturm klingle. Mein Herz rast und schlägt bis zum Hals. Bitte sei da! Ich steh und starre auf das Klingelbrett, und seh mich selbst im blank geputzten Messing. Eine verzerrte Fratze. Das Gefühl, allein auf der Welt zu sein. Klar, natürlich schläft sie nur! Wach auf! Schnell! Wach auf! Erst als sich völlig verschlafen ein „Werisnda?“ aus der Gegensprechanlage quält, merke ich, dass ich hier völlig planlos stehe und Charlie nix zu bieten habe als Panik. Ich haste die Treppen hoch zu ihrer Dachzimmerwohnung - schon beginnen meine Knie zu zittern, jeder Schritt wird schwerer. Ich habe sie aus dem Schlaf gerissen, und jetzt geb ich ihr den Rest. Als sie die Tür öffnet, finde ich keine Worte und starre sie nur an. Warum bin ich nicht zu Sunshine gefahren? Erstmal überlegen, Lösungen finden, runterkommen. Wie Charlie da in der Tür steht, mit zerzaustem Haar, noch ganz benommen und Schlaf in den Augen, aber mich besorgt anstarrt, verschlägt es mir die Sprache. Ich wünsche mir einen Rettungsring, den ich ihr überwerfen kann, damit das alles nicht passieren muss. Stattdessen steh ich zitternd vor ihr. Ich bin keine Hilfe. Mir steht das Wasser selbst bis zum Hals, und in den Augen; ich bin hier, ich hab mich für das Leben entschieden, aber ich habe nicht den geringsten Schimmer, wie ich ne Hilfe sein kann. „Es geht los!“, stammle ich. Sie versteht nicht, ich hebe den rechten Fuß, der ist schwer wie Blei. Ihr Blick fällt auf die Stiefel, ihr Gesicht, eben noch müde entgleist. Es tut mir so leid! Du hattest recht! Und „Was um alles in der Welt sollen wir jetzt tun?“

Ich könnte mich ohrfeigen für die Frage.

SMALLTOWN GIRLS II - Bis ihr nicht gestorben seid

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