Читать книгу Odenwälder Frauensagen - Miriam und Peter Seisler - Страница 6
ОглавлениеVon
weißen Frauen,
edlen Fräulein
und
Schatzhüterinnen
Überall im Odenwald tauchen an den unterschiedlichsten Orten weiße Frauen auf, manchmal als hilfreiche Geister, oft als Hüterinnen von gewaltigen Schätzen oder auch als Todesbotinnen. Handeln all diese Sagen lediglich von weiblichen Gespenstern, welche Kinder davon abhalten sollten, in der Dunkelheit das Haus zu verlassen?
Nein, die Sagengestalt der weißen Frau ist tief in unserer Kultur verwurzelt und ihre Geschichte führt uns weit in die Vergangenheit.
Vor langer Zeit gab es die eine große Muttergöttin. Jahrtausende lang wurde sie einzeln oder in Form von unzähligen weiblichen Gottheiten auf der ganzen Welt verehrt. Sie erschien als jungfräuliche Göttin, Muttergöttin oder die weise Alte, die Todesgöttin. Ihr waren die Farben Weiß, Rot und Schwarz zugeordnet.
Die Orte ihres Kultes lagen in der für unsere Vorfahren heiligen Landschaft. Oft sind es Quellen, Berge, Felsen oder Höhlen gewesen, an denen sich die Menschen ihr besonders nahe fühlten und sich an sie wandten. Vielleicht sind die vielen weißen Frauen unserer Sagen die guten Geister und Hüterinnen vorchristlicher Kultorte. So ist es auch nicht verwunderlich, dass wir sie nicht nur an Quellen und Bächen, sondern auch bei Burgen und Klöstern finden, die oft auf dem Boden älteren vorchristlichen Heiligtümer erbaut wurden.
Die Verehrung der Muttergöttin in ihrer dreifachen Erscheinung gab es nachweislich im Odenwald. Auch hier war der keltischrömischgermanische Matronenkult weit verbreitet. In der Kirche von Mümling-Grumbach ist zum Beispiel noch heute ein entsprechendes Relief erhalten. Einen Hinweis auf eine weiße Göttin gibt auch der im nahen Osterburken gefundene römische Gedenkstein für die Dea Candida Regina, die weiße göttliche Königin.
Die Erinnerung an die dreifache Göttin und ihre Erscheinungsformen als gütige, hilfreiche Jungfrau, als fruchtbare Segen und Reichtum spendende Mutter und als Göttin des Totenreiches, welche die Seelen ins Jenseits geleitet, findet ihren Widerhall im Sagenkreis der weißen Frau. Dieser hat sich im Lauf der Jahrhunderte gewandelt. In den älteren Mythen sind diese weiblichen Sagengestalten noch gütig, hilfreich und schön und tragen göttliche Züge. In den jüngeren, schon christlich geprägten Überlieferungen werden die Erscheinungen dann oft als bösartig dargestellt und müssen für schreckliche Taten bestraft oder erlöst werden.