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1. Fragwürdige Reise

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Martinas Hände fühlten sich kalt und feucht an. Hin und wieder spürte sie, wie Klaus sie forschend ansah.

Sie stieß einen tiefen Seufzer aus. Warum kam ihr heute kein Wort der Bewunderung für diese sanfte Hügellandschaft über die Lippen?

Sie wollte sich zusammennehmen und zwingen, den Bergketten des Czornebohs, des Kottmar oder des Bielebohs wenigstens einen anerkennenden Blick zu schenken. Es gelang nicht.

Gleich darauf nahm sich Martina vor, an die schönen Geschichten und Sagen aus der Oberlausitz zu denken. Meine Güte, wie oft hatte sie diese gelesen, Kindern daraus vorgelesen, manchmal beim Erzählen allerdings fast ungehörig abgewandelt. Zu ihrer eigenen und zur Freude der Kinder.

Klaus schaute wieder leicht verärgert in ihre Richtung, sagte aber selbst auch keinen Ton. Noch immer schien er es für besser zu halten, seine Frau in solchen Momenten, da sie alles um sich her vergessen zu haben schien, nicht anzusprechen. Wie wenig er sie doch kannte.

Martina konnte sich ausmalen, wie sehr ihr Gebaren ihn befremdete. Er war schließlich hier geboren. Die Oberlausitz war seine Heimat! Jedes Mal, wenn sie hier entlanggefahren waren, war sie ins Schwärmen geraten. Nie hatte sie einen Hehl daraus gemacht, wie gut ihr dieser Landstrich gefiel. Klaus war zwar nicht so euphorisch veranlagt, aber Martinas Schwärmerei für seine Heimat gefiel ihm. So hatten sie einander verstanden. Sonst. An normalen Tagen. Bei normalen Reisen …

Aber heute war kein solch normaler Tag. Und ihre Reise? Auch alles andere als normal. Jedenfalls für sie. Das wusste und fühlte sie. Und Klaus? Woher sollte ihr Mann das wissen, wenn sie nicht imstande war, mit ihm darüber zu sprechen?

Überhaupt hatte sie bisher mit niemandem über jene Zeit sprechen können.

Ihr ganzes Leben lang hatte sie geglaubt, Stillschweigen bewahren zu müssen. Das war ihr nicht einmal schwergefallen. Sie hielt nichts davon, alte Wunden aufzureißen.

Als ein flüchtiger Blick das Thermometer streifte, erschrak sie. Achtundzwanzig Grad? Wieso fror sie dann so entsetzlich?

Plötzlich fühlte sie wieder jene Angst, wie sie sich drohend in der Magengegend einnistete, die Haut zusammenzog, bis die blonden Härchen an den Unterarmen sich aufrichteten. Ein Gefühl, das sie seit ihrer Jugend kannte. Es kam ihr zwar so vor, als habe die Intensität mit den Jahren nachgelassen, als seien die Abstände zwischen den Attacken immer größer geworden. So war alles nach und nach immer mehr in Vergessenheit geraten. Manchmal hatte sie sogar geglaubt, es sei vorbei. Endlich und endgültig.

Und jetzt? Ihr Glaube, die Angst irgendwann ganz zu besiegen, war soeben wieder in seinen Grundfesten erschüttert worden.

Martina versuchte, dem unangenehmen Gefühl mit Vernunft beizukommen. Sie fragte sich, wovor sie Angst hatte. Was sollte ihr denn schon passieren? Schließlich war sie nicht allein, Klaus war bei ihr.

Das klang alles sehr vernünftig in ihren Gedanken. Doch kann der Verstand gegen so ein so starkes Gefühl überhaupt jemals etwas ausrichten?

Ganz unerwartet wurde ihr bewusst, dass sie plötzlich noch etwas anderes empfand: Einsamkeit. Kaum hatte sie das erkannt, schalt sie sich auch schon töricht. Wie konnte sie denn einsam sein, wenn ihr Mann nicht einmal einen halben Meter von ihr entfernt hinter dem Steuer saß? Sie brauchte ja nur den Arm auszustrecken, um ihn zu berühren.

Ihn anzufassen, davor scheute sie jedoch zurück. Warum auch immer. Doch sie schaute zu ihm hinüber und fand, dass er für sein Alter sehr gut aussah. Er hatte noch dichtes, volles Haar, auch wenn es schlohweiß war, eine normale Figur mit kleinem Bauchansatz, kräftige Arme und Hände, die zupacken konnten. Sein bisheriges Leben hatte so gut wie keine Spuren in seinem Gesicht hinterlassen. Das war schon erstaunlich, denn er hatte ja auch schon einiges durchmachen müssen, woran vielleicht manch anderer zerbrochen wäre.

Schon zu Beginn ihrer Reise hatte sie ihm seine Hemdsärmel bis über die Ellenbogen aufgekrempelt. Das tat sie immer, ein Mann wie er fror schließlich nicht bei achtundzwanzig Grad im Schatten. Der Beweis: Schweißperlen rannen ihm am Ohr entlang. Da sie nicht wollte, dass er die Hände vom Lenkrad nahm, tupfte sie ihm die kleinen Rinnsale vorsichtig ab.

Er dankte es ihr mit seinem ganz speziellen Lächeln.

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