Читать книгу Zu Hause ist anderswo - Monika Kunze - Страница 8
5. Ein Mord und Margots Hölle
ОглавлениеMargot, die ältere von Hellas beiden Stieftöchtern, war ganz aufgeregt.
„Geht zum Spielen hinters Haus, an den Bach“, rief sie ihren jüngeren Geschwistern zu.
„Und du, Mathilde, pass auf die Kleinen auf!“
Sie hatte Angst, ohne eigentlich richtig zu wissen, warum. Auf die Schüsse hatte keiner von den Kindern geachtet. Margot hatte jedoch Klaras Worte überdeutlich gehört. Sie mussten also wieder auf der Hut sein. Wie vor einigen Monaten, als es noch Fliegeralarm gab, dachte sie.
Ohne Widerrede waren die drei losgetrottet. Selbst Mathilde, nur ein Jahr jünger als Margot, die sich sonst eigentlich von ihrer Schwester, die zwar älter, aber mindestens zehn Zentimeter kleiner war als sie, überhaupt nichts sagen ließ.
Doch Margot hatte keine Zeit, sich lange über Mathildes Fügsamkeit zu wundern, denn ihre Gedanken kreisten um Tante Klara und deren Worte. Die hat bestimmt Recht, dachte sie, es wäre ganz sicher besser, wenn sie sich alle für eine Weile verstecken würden. Aber auch Margot wusste, dass da bei Hella nichts zu machen war: Wenn ihre Stiefmutter hierbleiben wollte, dann würde sie das tun – um jeden Preis. Das Mädchen war noch nicht einmal ganz zwölf Jahre alt, aber mit Hellas Unnachgiebigkeit hatte sie schon öfter, als ihr lieb gewesen wäre, Bekanntschaft machen müssen.
Sie fand es klüger, sich in diesem Fall nicht in die Angelegenheiten der Erwachsenen einzumischen. Gegen ihre umsichtige Hilfe würde aber die Stiefmutter bestimmt nichts einzuwenden haben. So griff sie unaufgefordert nach der inzwischen leeren Emailleschüssel. Mit einem schnellen Blick vergewisserte sie sich, ob ihr Vorhaben auch Zustimmung fände und trug dann, als sie in Hellas Gesicht nichts Gegenteiliges entdecken konnte, die Schüssel eifrig ins Waschhaus. Dabei ging sie kerzengerade, Kopf hoch, Kinn nach vorn gereckt, Bauch rein, Brust raus. Von ihrer Angst, ausgelöst durch die Worte der Nachbarin, wollte sie sich auf gar keinen Fall etwas anmerken lassen. Heulen bringt nix, das wusste sie längst.
In der Waschküche hing noch der Dunst von der Kochwäsche. Margot mochte diesen Geruch nach Sauberkeit und sog ihn mit aufgeblähten Nasenflügeln ganz tief in sich ein, bis sie niesen musste.
Als sie sich bückte, um die Schüssel unter die lange, von der Feuchtigkeit schon an manchen Stellen schwarzfleckige, Holzbank zu schieben, ließ ein schwaches, scharrendes Geräusch sie herumfahren.
„Vater!“
Sie wollte schreien, aber sie brachte nur ein Flüstern zustande. Der magere Mann, der hinten in der Ecke, neben dem Waschkessel, hockte, bedeutete ihr mit einer stummen Geste, um Himmels willen still zu sein. Die Tochter erschrak, als sie sah, wie knochig der Zeigefinger auf dem schmalen Mund des Vaters aussah, wie eingefallen seine Wangen wirkten.
„Hol Mutter!“, flüsterte er ihr nun fast tonlos, aber dennoch mit Nachdruck zu, und Margot rannte sofort los.
„Mutti, Mutti, komm schnell!“, rief sie aufgeregt über den ganzen Hof. Die Gebärden ihrer Stiefmutter, die sie zum Schweigen bringen sollten, übersah sie einfach, und sie konnte auch nicht verhindern, dass es weiter aus ihr heraussprudelte: „Vati ist da, er ist wohl ausgerissen aus dem Lager, und er ist so furchtbar dünn ...“
Weiter kam sie nicht. Drei fremde Männer standen plötzlich, wie aus dem Boden gestampft, neben ihr, stießen sie brutal beiseite, sodass sie taumelte und zu Boden stürzte. Schnell waren sie im Waschhaus angelangt, zerrten den Vater an seinen zerlumpten Sachen heraus und schlugen sofort auf ihn ein, mit Fäusten, mit Knüppeln, mit einem Gewehrkolben. Dabei stießen sie ein unmenschliches, unartikuliertes Gebrüll aus.
Das muss tschechisch sein, konstatierte Margot automatisch. Sie hatte in den letzten Wochen schon recht viele Wörter dieser Sprache gelernt.
„So“, hatte ihre tschechische Freundin Helena gesagt, „wir mussten die ganze Zeit Deutsch lernen, jetzt lernt ihr tschechisch!“
Trotzdem konnte Margot nicht verstehen, was diese Ungeheuer brüllten.
Als sie sich wieder hochgerappelt hatte, sah sie mit Entsetzen und Scham, dass ihr Vater viel zu schwach war, um sich zu wehren. Sie konnte aber ihren Blick auch nicht abwenden, sah deshalb im nächsten Moment, wie Hella ihrem Mann zu Hilfe eilte, im nächsten Moment selbst von den harten Fäusten getroffen wurde und lang hinschlug. Ihr durchdringendes Jammern und die furchtbare Schlägerei jagten Margot so viel Angst ein, dass sie instinktiv losrannte, nur fort von diesem Anblick. Hinter dem Holunderstrauch, links neben dem Waschhaus, am Zaun, suchte sie Zuflucht, aber auch die dichten Holunderblätter konnten nicht ganz verbergen, wie die dunkelhaarigen, bärtigen Männer den Vater immer wieder mit dem Kopf gegen die Wand schlugen. Der andere, ein Russe offenbar, denn er hatte eine Uniform an, die sie eigentlich in angenehmerer Erinnerung hatte, stand dabei. Von einem Soldaten in so einer Uniform hatte sie vorige Woche erst eine ganze Kanne voll Milch bekommen. Jetzt stand so einer da, das Bajonett drohend im Anschlag, als müsse er das ganze Grauen überwachen. Die beiden Bärtigen schrien immer noch wild durcheinander. Margot schloss die Augen, sie wünschte sich sehnlichst ihre Schulfreundin Helena her, damit sie ihr das Geschrei übersetze, aber keine Menschenseele ließ sich blicken.
So müssen wilde Flüche klingen, grübelte Margot und schämte sich für diese Männer, denn Großmutter hatte ihr beigebracht, dass es sich nicht gehört zu fluchen.
Schnell ballte das Mädchen eine Hand zur Faust, drückte diese mit aller Kraft gegen den Mund und nahm auch noch die andere Hand zu Hilfe, um nicht schreien zu müssen – oder, was auch sehr schlimm gewesen wäre, womöglich selbst noch zu fluchen. Ein, zwei Flüche hatte sie durchaus auch in deutscher Sprache schon gehört, davon durfte Großmutter allerdings auf keinen Fall etwas erfahren.
Als Margot die Augen wieder öffnete, bot sich ihr ein entsetzliches Bild. Alles war voller Blut: der Rasen, die Wand und selbst die frisch gewaschene Wäsche. Aufhören! Aufhören, schrie es in ihr, aber sie brachte kein Wort heraus. Ihr schauderte bei den klatschenden Geräuschen, die es machte, wenn der ausgemergelte Körper des Vaters wieder gegen die Wand oder den Wäschepfahl geschleudert wurde. Ihr schauderte es beim rauen Klang der fremden Stimmen, die immer lauter und drohender wurden. Ihr schauderte es bei dem Stöhnen, das sich aus der Brust des Vaters quälte und letztlich schauderte es ihr bei diesem unbegreiflichen Geruch. Er schien aus Schwefel und Blut zu bestehen, so musste es in der Hölle riechen, vermischt jedoch mit etwas ganz Vertrautem. Sommerblumen?
War es der Goldlack, der mit seinem betäubenden Duft alles andere Lügen strafen wollte? Wie konnte der Goldlack blühen in so einer Hölle, empörte sich Margot. Dann hörte sie ein Knacken, Splittern und Bersten, ein Geräusch, als bisse ein Hund in einen großen Knochen. Angstvoll schloss das Mädchen wieder die Augen, obwohl sie schon ahnte, dass es (wie das Heulen) nichts nützen würde. Erst viele Jahre später erkannte sie: Es hilft nichts, die Augen zu schließen – oder zu verschließen –, wenn sich die Bilder schon so unauslöschlich in die Seele eingebrannt hatten.
Doch als Kind hatte sie damals gebetet und gehofft.
„Lieber Gott, lass es nicht wahr sein, was ich da mit ansehen muss! Mach diesen Albtraum bitte, bitte ungeschehen!“
Plötzlich trat eine derart sonderbare Stille ein, dass das Mädchen schon glaubte, ihr Stoßgebet sei erhört worden. Sie lauschte weiter angestrengt.
Nichts.
Nur Stille.
Selbst von den beiden bärtigen Männern war kein Laut mehr zu hören. Sie schwiegen so abrupt, als seien ihre Stimmen lediglich aus einem Volksempfänger gekommen, den nun jemand abgestellt hatte – wie es der Großvater jedes Mal getan hatte, sobald die Nachrichten von Radio London vorbei waren.
Margot öffnete langsam ihre zusammengekniffenen Augen.
Doch als sie sich zögernd umsah, fühlte sie mehr als dass sie es wusste: Es handelte sich durchaus nicht um einen schrecklichen Traum.
Niemand hatte also ihr inniges Stoßgebet erhört.
Mit schmerzhaft klopfendem Herzen versuchte sie ihre Gefühle zu ordnen und in Worte zu fassen: Das alles, irgendetwas in ihr weigerte sich energisch, „das alles“ genauer zu benennen, war wohl doch grausame Wirklichkeit?
Was sollte sie nur tun?
Vor dem Waschhaus, in dessen Kessel die Russen noch im Mai ihren Gulasch gekocht hatten, begannen die kleineren Geschwister zu greinen. Das Getöse hatte sie ängstlich zurück auf den Hof getrieben. Mathilde war nicht imstande, die Kleinen zu besänftigen. Ein paar Meter weiter rappelte sich die Mutter hoch und stammelte immer wieder dieselben Worte.
„Tot? Ist er tot? Sie haben ihn einfach totgeschlagen!“
Mit einer unglaublich hilflos wirkenden Geste raufte sie sich die Haare und schlug die Hände vors Gesicht.
Margot konnte sich nicht vom Fleck rühren, sie sah die Stiefmutter, ihre Geschwister, das Haus mit dem Holzgitter am Giebel, den Hof mit dem Wäscheplatz wie durch einen Schleier, hörte alle Geräusche aus der Nähe und aus der Ferne wie durch eine dicke Schicht Watte. Sie fühlte das lähmende Entsetzen in sich aufsteigen, ohne auch nur das Geringste dagegen tun zu können. Aber sie wollte doch unbedingt etwas sagen oder etwas tun, aber sie wusste nicht was. Sie schämte sich ihrer Hilfslosigkeit, kam sich klein und überflüssig vor.
Wohin sollte sie zuerst? Zu den weinenden Geschwistern? Zu der verzweifelten Frau, die seit ein paar Jahren ihre Mutter sein sollte? Ihre Pein wurde so groß, dass sie etwas dagegen unternehmen musste.
Wie unter einem plötzlichen Zwang entschied sich Margot schließlich für die Mutter. Doch als sie die krampfhaft zuckende Gestalt umarmen wollte, wurde sie einfach abgeschüttelt.
Entmutigt ließ sie die Arme sinken und wandte sich seufzend ab.
Inzwischen hatten die Männer den leblosen, blutüberströmten Körper des Vaters draußen vor dem offenen Tor an das Zaumzeug eines braunen Ackergauls gebunden, dessen heller, zotteliger Schwanz nervös nach den unzähligen Fliegen schlug, die auf dem zuckenden Fell umherkrochen.
Die Männer verrichteten ihre makabre Arbeit hastig und schweigsam, doch wie es schien, äußerst gründlich, denn kein einziger Knoten wurde nachgezogen. Der Uniformierte mit dem Bajonett half ihnen nicht, aber er hinderte sie auch nicht an ihrem Tun.
Margot kam es vor, als hätten die schnurrbärtigen Männer in den schäbigen Stoffhosen und den karierten Hemden jeden Handgriff in Gedanken schon oft geübt. Sie erschrak, als einer der Kerle jetzt aufreizend mit der Zunge schnalzte und kräftig mit der Peitsche knallte. Auch das schweißglänzende Tier war zusammengezuckt, zuckte mit dem Kopf und dem Hinterteil, als wolle es seine unliebsame Last abstreifen, setzte sich dann aber doch gehorsam in Bewegung.
„Bloß gut, dass Vater nichts mehr merkt“, hatte Margot in jenem Moment laut gedacht und sich noch Jahre später wegen ihrer scheinbar herzlosen Worte geschämt.