Читать книгу Zu Hause ist anderswo - Monika Kunze - Страница 5
2. Mehr als zwei Seelen
ОглавлениеMartina fragte sich wieder und wieder: Ist das richtig, was wir hier tun? Kann es denn überhaupt richtig sein? Sollten sie nicht besser umkehren?
Heimkehr, dachte sie mit einem bitteren Geschmack im Mund, was denn für eine Heimkehr? Was hatte er sich nur bei seinem spontanen Vorschlag gedacht? Ihr Elternhaus – und vielleicht auch das der Großeltern – wollten sie suchen. Einfach so. Im Tschechischen!
„Das müsste doch für dich wie eine Heimkehr sein.“
Diese Vermutung, am Morgen beim Rasieren mitten aus dem Schaum gemurmelt, erschien ihm wohl über jeden Zweifel erhaben, denn er hatte Martina gleich darauf unternehmungslustig in die Seite geknufft und ihr Beifall heischend zugeblinzelt.
Sein typisches Lächeln, bei dem die Mundwinkel nur einmal kurz nach oben zuckten und die Oberlippe sich kaum merklich kräuselte, sein Blinzeln und, zugegeben, auch ein wenig ihre eigene Neugier, hatten schließlich ihre Bedenken zum Schweigen gebracht, bevor sie sie überhaupt aussprechen konnte. Also hatte sie zu ihrer eigenen Überraschung eingewilligt in diese Wahnsinnsidee.
Jetzt war es allerdings sowieso zu spät, nach der Richtigkeit ihres Vorhabens zu fragen, denn ihr Auto rollte schon unaufhaltsam jenem Ort entgegen, in dem das Unaussprechliche passiert war.
Zum Teufel mit dieser Kleinstadt im Tschechischen! Martina fühlte, wie ihr Blutdruck anstieg und ihr Herz ein paar unregelmäßige Hüpfer vollführte.
Du bist dort geboren worden!
Ja doch, das wusste sie selbst … Aber was tat das schon zur Sache? Ganze acht Monate hatte sie dort gelebt.
Du hast das alles auch mit ansehen müssen!
Mit einem Mal wusste Martina, woher sie jene Stimme kannte, die sie nun schon zum zweiten Mal zu hören glaubte. Die Worte ihrer Schwester Margot klangen so deutlich in ihren Ohren, als säße sie neben ihr. Die Bilder, die sich im Laufe der Jahre daraus immer dichter zusammengefügt hatten, ließen sich nicht mehr länger zurückdrängen.
Sie hob die Hände vors Gesicht, als könnte sie so das nackte Entsetzen besser abwehren, das die Schilderungen ihrer Schwester in ihr ausgelöst hatten.
Doch stimmten diese Bilder überhaupt? Und wenn ja, sollte man jetzt, mehr als 60 Jahre danach, nicht endlich alles auf sich beruhen lassen?
Es waren wieder einmal weit mehr als zwei Seelen, die sich in ihrer Brust stritten.
Martina fühlte sich diesem Streit ohnmächtig ausgeliefert und begann zu zittern. Schnell sah sie zu Klaus hinüber, aber er schien von ihrer Seelenpein bis jetzt noch nichts mitbekommen zu haben.
Er machte vielmehr einen ganz entspannten Eindruck, schmunzelte sogar ein wenig. Anscheinend gab es im Radio etwas Heiteres. Vielleicht sollte sie auch endlich einmal zuhören anstatt die Gespenster der Vergangenheit heraufzubeschwören.
Klaus stieß ein glucksendes Lachen aus, denn der "Kleine Nils" nahm wieder einmal mit seinem Anruf jemanden auf die Schippe.
Martina zuckte die Achseln. Wie hätte sie es ihrem Mann auch verdenken können, dass er sich amüsierte? Er konnte ja nicht wissen, wie sie sich gerade fühlte. Ja, nicht einmal ahnen konnte er etwas von ihren Ängsten und Zweifeln oder gar von dem, was im tschechischen Lom, das damals noch deutsch war und Bruch hieß, vorgefallen war.
Das, was damals vorgefallen war! Kaum hatte sie das gedacht, spürte sie auch schon einen ekligen, faden Geschmack im Mund. So also schmeckte Feigheit?
Sie hatte nicht einmal den Mut, die Dinge beim Namen zu nennen, nicht einmal in ihren Gedanken?
Martina, der man sonst durchaus eine gewisse Redseligkeit nachsagte, musste sich wieder einmal eingestehen, dass sie bis jetzt weder willens noch in der Lage gewesen war, mit einem anderen Menschen über jene Ereignisse zu sprechen. Auch nicht mit ihrem Mann. Mit ihm am allerwenigsten. Ihm gegenüber empfand sie immer noch eine gewisse Scheu, obwohl sie schon so lange zusammen waren.
Immer, wenn sie das Grauenhafte in ihren Albträumen wiederzuerkennen glaubte, hatte es ihr die Kehle zugeschnürt.
Bei Tageslicht stellten sich dann allerdings wieder Zweifel ein. Ihr stets voller Terminkalender hatte überdies jahrelang dafür gesorgt, dass ihre schlimmen Träume nicht die Oberhand gewannen.
So war sie mit der Zeit ein wahrer Meister in der Kunst des Verdrängens geworden.
Die Narben auf ihrer Seele waren trotzdem erkennbar geblieben, aber nur für jemanden, der ganz genau hinschaute. Doch über so etwas sprach man nicht mit anderen Menschen.
Martina sah Auguste, die Mutter ihrer Pflegemutter, wieder vor sich: klein, dünn, das schüttere Haar im Nacken zu einem Zopf geflochten und wie eine Schnecke zusammengerollt. Allein schon die Vorstellung von ihrem durchdringenden Blick, dem nichts verborgen blieb, ließ Martina erschauern.
Und dann diese wie in Stein gehauenen Auguste-Regeln! Wie oft hatte sie sich mit rot gewaschenen Fingern gegen die ausgemergelte Brust geklopft und ihre Lebensweisheit an ihre angenommene Enkelin weitergegeben: „Wie es hier drinnen aussieht, geht niemanden etwas an! Merk dir das!“
Mochten ihr auch jetzt die Worte der Großmutter sehr operettenhaft vorkommen, damals taten sie ihre Wirkung. Wenn Ermahnungen in der Kindheit nur oft und nachdrücklich genug wiederholt werden, tragen sie irgendwann Früchte. Diese werden im Laufe der Zeit so verinnerlicht, dass man sie auch als Erwachsene kaum abzustreifen vermag. Um das zu erkennen, brauchte sie keinen Psychologen, die Erfahrung war ihr Lehrmeister.
So hatte es sich Martina schon beizeiten abgewöhnt, ihr Herz auf der Zunge zu tragen.
Wenn andere das taten, bitte schön. Ihre Verschlossenheit bildete ihrer Meinung nach keinen Widerspruch zu ihrer Neigung, stets kontaktfreudig zu sein. Ihr Leben lang hatte sie sich gern mit anderen Menschen unterhalten und tat das immer noch. Wenn auch die „Unterhaltung“ bei ihr fast ausschließlich im Zuhören bestand. Zur Freude der anderen – und zum Leidwesen ihres Mannes. Martina verstand schon, dass es ihren Klaus nervte, denn es wurden ja tatsächlich immer mehr, die sich bei ihr ausheulten, wie er es wenig zimperlich zu nennen pflegte.
Klaus schaute jetzt fragend zu ihr herüber. Seine hochgezogenen Brauen sagten alles. Ihre Schweigsamkeit ging ihm gehörig gegen den Strich, denn er kannte sie eigentlich ganz anders: meistens fröhlich, unkompliziert und immer mal mit einem frechen Spruch auf der Lippe. So mochte er sie.
Martina wusste das, konnte aber heute seinen Erwartungen nicht entsprechen. Noch während sie nach ein paar unbefangenen Worten suchte, mit denen sie ihn (und sich selbst) etwas ablenken könnte, kam er ihr zuvor.
„Sag mal, wie war das denn eigentlich damals, als ihr rausmusstet?“, fragte er, als ginge es um etwas ganz Alltägliches.
Martina zuckte zusammen. Mit allem hatte sie gerechnet, aber nicht mit solch einer Frage aus seinem Mund! Wie auch? Bisher hatte er sich doch noch nie für ihre Vergangenheit interessiert.
Im selben Moment wusste sie, dass seine unverhoffte Frage eine Lawine ins Rollen bringen würde, die niemand mehr aufhalten konnte. Nicht einmal sie selbst.