Читать книгу Zu Hause ist anderswo - Monika Kunze - Страница 6
3. Leben ohne Vergangenheit?
ОглавлениеKlaus konnte absolut nicht verstehen, warum seine Frau nun schon seit Stunden so schweigsam und in sich gekehrt war, wo er ihr doch mit der Reise ins Tschechische eine Freude bereiten wollte. Aber ein Blick in ihr Gesicht verriet, dass seine Idee von ihr wohl doch nicht so freudig aufgenommen worden war.
Du meine Güte, was war denn in sie gefahren? Irgendwie musste er sie ja mal aus ihrer schweigsamen Reserve locken. Ganz schwach erinnerte er sich, dass sie irgendwann einmal etwas von „Vertreibung“ erwähnt hatte. Das war aber mehr als zehn Jahre her. Und ihm fiel ein, dass er seinerzeit sehr erstaunt war über dieses Wort aus ihrem Mund, denn in den vierzig Jahren DDR hatte es dafür lediglich die Bezeichnung Umsiedlung gegeben, humane Umsiedlung.
Als er sie damals darauf aufmerksam gemacht und sie gefragt hatte, ob sie das etwa schon vergessen habe, war er unangenehm berührt gewesen über ihre karge, aber unmissverständliche Antwort.
„Humane Umsiedlung? Das war eine Lüge, wie so vieles andere auch!“
Sie schien ihm damals selbst fast noch erschrockener als er gewesen zu sein über ihren bitteren Unterton und hatte sofort angefangen, über etwas Belangloses zu plappern.
Seit jenem Tag hatten sie das Thema gemieden wie der Teufel das Weihwasser.
War das vielleicht sogar der Tag gewesen, als er ihr zu erklären versucht hatte, dass sie ihm nichts aus ihrer Vergangenheit erzählen müsse? Er war sich aber nicht sicher, wie sie seine Worte aufgefasst haben könnte: „Für mich hat mit dir ein ganz neues Leben angefangen, dein Leben vor meiner Zeit gehört dir! Es interessiert mich nicht.“
Auf der anderen Seite war es ihm wichtig, dass auch sie keine allzu große Neugier bekundete, wenn es um seine eigene Vergangenheit ging. Er war froh, dass sie das so schnell gelernt hatte, was er sich wünschte. Ihre anfänglich munter hervorsprudelnden Fragen waren jedenfalls schnell versickert gewesen.
Er fuhr jetzt ziemlich forsch an einen grünen Skoda heran, blinkte kurz, um ihn gleich darauf zu überholen.
Martina war ganz blass geworden. Sie hatte sich wohl von seiner beiläufigen Frage noch immer nicht erholt. Doch ihm kam es so vor, als bemühe sie sich um Contenance. Sie schaute angestrengt geradeaus, tat so, als interessiere sie nichts mehr als sein Überholmanöver.
Dabei überschlugen sich die Fragen in Martinas Kopf. Woher kam plötzlich dieses Interesse? Was, um alles in der Welt, sollte sie ihm antworten?
Seit so vielen Jahren waren sie nun schon zusammen, doch bisher hatte er sich jedes Mal dagegen verwahrt, sobald sie etwas aus ihrer Vergangenheit erzählen wollte. Im Hinblick auf die Geschehnisse in ihrer Geburtsstadt war ihr das zwar gerade recht gewesen. Aber im Hinblick auf ihr sonstiges Leben hätte sie sich manchmal schon etwas mehr Interesse gewünscht.
Seine Worte klangen ihr noch im Ohr.
„Für uns hat jetzt ein neues Leben angefangen!“
Sie solle ihm bloß nicht mit irgendwelchen alten Geschichten kommen …
Dabei hatte er seine Meinung stets so nachdrücklich vertreten, dass niemand es gewagt hätte, dem eine anders lautende entgegenzusetzen. Und Martina, die jeder als konfliktscheu kannte, schon gar nicht.
Mit der Zeit hatte sie es aufgegeben, ihm von sich, ihrer gescheiterten Ehe oder den Konflikten mit ihrem Sohn erzählen zu wollen. Schließlich erzählte Klaus auch kaum etwas von sich, seinem Leben mit seiner Frau, die so jung gestorben war. Ebenso nebulös blieb auch das Bild von seinen Kindern. Seine Tochter lebte in Bayern, sein Sohn in Schleswig-Holstein. Sie schienen keinen Wert auf Kontakte zu legen, ebenso wenig wie ihr Vater seinerseits.
Martina wagte es dann bald nicht mehr, nach dem Warum zu fragen, nachdem er sie wegen ihrer neugierigen Fragerei in die Schranken verwiesen hatte.
Es hatte sie nicht zu interessieren, was früher war …
Da sie, wenn auch widerstrebend, sich an seine aufgestellte Regel hielt, glaubte er wohl, dass seine Frau seine diesbezüglichen Prinzipien ebenfalls verinnerlicht habe. Manchmal war sie schon drauf und dran gewesen, es selbst zu glauben. Immerhin: Es war ihr mit der Zeit immer besser gelungen, ihr Interesse für sein Leben (und vor allem das seiner Familie) nicht zu offenkundig zu äußern.
Sie hatte ja auch irgendwie ihre Prinzipien. Eines davon war, andere Menschen nicht umzuerziehen oder mit den eigenen Auffassungen zu bedrängen. So gelang es ihr, seine Ansichten zu akzeptieren, ohne sie jedoch in jedem Falle zu teilen.
Zu all dem wollte die eben gehörte Frage einfach nicht passen.
Woher kam der plötzliche Sinneswandel? An seinem Gesichtsausdruck konnte sie keinen Grund ablesen.
Vielleicht hatte ihr Mann seine Frage auch schon längst wieder vergessen?
Sein Blick war ruhig nach vorn gerichtet, seine Hände jedoch umschlossen so fest das Lenkrad, dass die Knöchel weiß hervortraten. Das verriet ihn.
Sie bemerkte, wie wieder winzige Schweißperlen auf seiner Stirn glänzten, über die Schläfe rannen, dicht am grauen Haaransatz vorbei. Diesmal hütete sie sich davor, ihm den Schweiß abzutupfen, hielt ihm stattdessen ein Papiertaschentuch hin. Für einen Moment musste er eine Hand vom Lenkrad lösen, um sich den Schweiß abzuwischen.
Martina fielen die weiß hervorgetretenen Knöchel wieder ein und sie glaubte nun zu wissen, dass er trotz seiner zur Schau getragenen Gelassenheit noch immer gespannt auf ihre Antwort wartete. Oder war hierbei nur ihr eigener Wunsch der Vater des Gedankens?
Seine Frage gar noch einmal zu wiederholen, würde ihm sowieso nicht in den Sinn kommen. Soweit kannte sie ihn.
Plötzlich hörte sie sich zu ihrer eigenen Überraschung sagen: „Klaus, ich weiß das alles doch selbst nicht so genau, ich war ja noch ein Baby, als wir dort wegmussten.“
Es hatte sie einige Anstrengung gekostet, ihre Stimme so gleichmütig wie möglich klingen zu lassen, denn ihm waren solche melodramatischen Geschichten, als die er die ihre ganz bestimmt bezeichnen würde, schon immer ein Gräuel gewesen.
Martina kurbelte das Schiebedach zurück. Nun spürte auch sie die Hitze, die langsam unerträglich zu werden begann.
Ob er wohl gemerkt hatte, wie viel Kraft sie aufbringen musste, um bei ihm einen glaubhaften Eindruck von Gelassenheit zu erwecken?
Ob er wohl ahnte, dass ihr „weiß nicht so genau“ eigentlich einen Schutzschild darstellte, um nicht über die Einzelheiten des Geschehens reden zu müssen, über dieses grelle, bizarre, schmerzhafte Mosaik?
Und wenn? Würde sie es überhaupt fertigbringen, mit ihm über dieses dunkle Kapitel im Leben ihrer Familie zu reden?
Sie wusste nicht, ob die Unsicherheit oder ihr Unwille stärker war. Bisher war er doch schließlich auch mit ihren knappen Informationen, dass sie kurz nach dem Krieg wie ein Paket in einem Krankenhaus abgegeben, aber nie wieder abgeholt worden und bei einer Pflegemutter aufgewachsen war, durchaus zufrieden gewesen.
Wieso genügte ihm das plötzlich nicht mehr?
Ihre Kehle war wie ausgedörrt. Sie griff hinter ihren Sitz, fischte nach der Wasserflasche, fand sie aber nicht.
Sie wollte Zeit gewinnen und dehnte das Kramen aus.
Zeit?
Wofür?
Klaus schien ihr vergebliches Bemühen, die Wasserflasche zu finden, wenig amüsiert aus den Augenwinkeln zu beobachten, aber er sagte nichts dazu. Nur die Musik aus dem Radio und die Geräusche des Fahrtwindes zerteilten die Stille.
Martina begann langsam an der Realität ihrer Wahrnehmungen zu zweifeln. Hatte ihr Mann tatsächlich nach jenen Ereignissen nach Kriegsende gefragt oder hatte die Angst ihr etwa wieder einen Streich gespielt? Würde das denn niemals aufhören?
Klaus wirkte jetzt so nervös, so angespannt.
Martina fühlte sich in die Enge getrieben, wusste aber nicht einmal mehr genau, ob sie seine Fragen wirklich so sehr fürchtete. Vielleicht sehnte sie sie ja sogar herbei, wollte es sich nur nicht eingestehen?
Ungeduldig hantierte Klaus nun an den Knöpfen und Tasten des Autoradios. Musikfetzen wechselten sich ab mit zerstückelten Nachrichten. Er suchte offenbar nach Musik, die seinem Geschmack entsprach. Vergeblich, wie es schien.
Missmutig brummte er so etwas wie „wieder keine Beatles in diesem Kasten“.
Vielleicht hatte er ja seine Frage tatsächlich schon vergessen? Fast wollte sich Erleichterung bei Martina einstellen.
Da endlich rollte die lauwarme Plastikflasche in ihre Hände.
„Willst du auch einen Schluck?“
Schon ärgerte sie sich über ihre überflüssige Frage, sie wusste schließlich, dass er lauwarme Selters verabscheute, andererseits hielt sie eine solch belanglose Frage für eine unverfängliche Möglichkeit, das inzwischen wohl für beide bedrückende Schweigen zu durchbrechen.
Prompt schüttelte Klaus den Kopf. Martina setzte, ohne sich weiter um ihn zu kümmern, die Flasche an die Lippen, ließ das lauwarme Wasser die Kehle hinunter rinnen, schluckte angewidert. Mit Erfrischung hatte das wahrlich nichts zu tun.
Sie war ihrem Mann jetzt fast dankbar, dass er nichts weiter fragte, denn je mehr Zeit verstrich, desto spürbarer wich dieser unangenehme Druck von ihr. Sie lehnte sich im Sitz zurück und atmete tief durch. Beiläufig bemerkte sie wieder einmal, dass die Kopfstütze für sie viel zu hoch angebracht war. Trotzdem lehnte sie sich an und schloss die Augen, vielleicht würde es ihr ja gelingen, sich irgendwie zu entspannen. Sie wollte an etwas Schönes denken, an die Wiesen voller blutroter Mohnblumen zum Beispiel, denen sie heute nicht die gebührende Beachtung geschenkt hatten …
Doch mit einem Mal kamen die Mosaiksteinchen zurück, purzelten durcheinander, verschoben sich in Farbe und Form, bis sich die Bilder schließlich, irgendeinem rätselhaften Gesetz folgend, in rasanter Geschwindigkeit zusammenfügten. Das schien leicht, viel zu leicht, fast tänzerisch. Aber das Bild mit den schreiend grellen Farben, auch blutrot, wie Mohn, war darunter, legte sich wie eine schwere Last auf ihre Brust. Sie konnte ein Aufstöhnen nicht mehr zurückhalten, und plötzlich wusste sie, dass sie gar nicht mehr imstande sein würde, diese Last noch länger allein zu tragen.
„Es muss so ein Tag gewesen sein wie heute“, begann sie leise und war selbst überrascht vom heiseren Klang ihrer Stimme. „Heiß und schwül. Es war der 26. Juli. Hochsommer.
Unser Vater soll in einem Lager gewesen sein, wie Tausende andere auch in dieser Zeit. Warum weiß ich nicht so genau. Meine Geschwister meinten später, dass die Tschechen wohl damals alle deutschen Männer sicherheitshalber erst einmal eingesperrt haben, auch solche wie meinen Vater, den Ofensetzer, der nie im Krieg war und sich auch nichts hatte zuschulden kommen lassen.“
Klaus zeigte zunächst keinerlei Überraschung, als sie nun doch zu erzählen begann. Aber beim letzten Satz kam schon sein erster Einwand.
„Na, ich weiß ja nicht, so ohne Weiteres werden die ihn doch auch nicht eingesperrt haben ...“
Klaus sah zwar nur ganz kurz zu ihr herüber, aber seine hochgezogenen Augenbrauen zeigten ihr mehr als jedes weitere Wort, wie zweifelhaft ihm die Sache vorkam. Auch Martina war bei seinem Blick fast geneigt, seine Skepsis zu teilen. Aber andererseits: Warum sollte ihr Vater nicht unschuldig eingesperrt gewesen sein? So etwas soll es doch schließlich, wie ihre späteren Nachforschungen ergeben hatten, damals – wie zu anderen Zeiten und an anderen Orten auch – tausendfach gegeben haben. Deshalb quittierte sie seinen Einwand lediglich mit einem Achselzucken.
„Mutter soll gerade beim Wäscheaufhängen gewesen sein, als plötzlich wieder Schüsse fielen, wie so oft in diesen Tagen. Von friedlicher Nachkriegsstille habe damals wirklich keine Rede sein können, hat meine Schwester erzählt“, fuhr Martina unbeirrt fort. Der Stein war nun einmal ins Rollen gekommen.
Hinter den Autoscheiben rauschten Bäume und Sträucher vorbei. Vor ihrem satten Grün flanierten die Bordsteinschwalben, Fräuleins, wie es ein Kollege von Martina jedes Mal vornehm zu umschreiben pflegte, um das Wort Nutten nicht in den Mund nehmen zu müssen. Zierlich die einen, extrem vollbusig die anderen, grell geschminkt fast alle.
Klaus schenkte den Fräuleins keinerlei Beachtung.
Sie hatten inzwischen schon den einstigen Grenzübergang passiert.
Vor einem der typisch holprigen Bahnübergänge nahm er das Gas zurück. So langsam und vorsichtig fuhr er in Deutschland schon seit Langem nicht mehr über die Gleise.
Martina berührte leicht seinen braun gebrannten Arm und lächelte ihn dankbar an. Sie war auch im Sitzen viel kleiner als er, deshalb konnte er wohl ihren wieder wenig exakten Scheitel in dem dunklen Haar wahrnehmen. Dieser Anblick hatte ihn immer berührt, und auch jetzt huschte für einen Moment wieder sein sprödes Lächeln übers Gesicht. Ob er versuchte, sich vorzustellen, wie sie wohl im zarten Alter von acht Monaten ausgesehen haben mochte? Womöglich als dickes Baby mit großen Augen und dunklem, mittels Zuckerwasser steif nach oben gekämmten Haarschopf?
Ach was, damals, kurz nach dem Krieg, waren die meisten Leute zwangsläufig mager. Auch die Kinder. Das wüsste doch ihr Mann besser als sie.
Klaus hatte seinen Blick schnell wieder von ihrem Zick-Zack-Scheitel gelöst, schaltete das Radio aus und brummte: „Was denn eigentlich für Schüsse? Ich denke, der Krieg war schon seit Monaten aus und vorbei?“
Sie hörte seine Stimme und konnte sich nicht erklären, wieso sie ihm mit einem Mal dankbar war für sein Interesse, dafür, dass er ihr offensichtlich das Erzählen erleichtern wollte.
Die Zweifel blieben trotzdem. Sie fragte sich, mit welchem Recht sie ihm denn eigentlich einen Teil ihrer eigenen Last aufbürden durfte.
Anderseits war es war wohl gerade die Aussicht, einen Teil ihrer Last loszuwerden, die sie zögernd weiter sprechen ließ.
„Hm, das schon, der Krieg war vorbei, aber dort wurde eben auch im Sommer noch geschossen, sie führten wohl nach den furchtbaren Erlebnissen des Krieges noch ihren eigenen Feldzug. Noch viele Monate.“
Jenen vom damaligen und aus dem englischen Exil zurückgekehrten Präsidenten Bene? angeregten und für recht befundenen Rachefeldzug ... aber das behielt sie für sich.
„Jedenfalls soll meiner Mutter bei den Schüssen vor Schreck ein Wäschestück aus der Hand gefallen sein ...“