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6. Bloß nicht heulen, Martina!

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„Du lieber Gott, das war ja ein richtiger Mord – oder eine Hinrichtung!“

Klaus konnte ein Stöhnen nicht verhindern, als Martina aufgehört hatte zu sprechen. Sie schnäuzte sich geräuschvoll und wischte sich hastig mit der Hand über die Augen. Klaus mochte es nicht, wenn sie weinte.

„Und das hat dir alles deine Schwester erzählt? Wann denn, ich denke, die ist ganz woanders aufgewachsen als du?“

Das hatte sie ganz am Anfang mal beiläufig erwähnt.

Ihm kam es in diesem Moment selbst ungewohnt vor, so viele Fragen zu stellen.

Martina schaute ihn von der Seite an und dachte bei sich, wenn du wüsstest, das ist ja noch längst nicht alles. Laut sagte sie: „Als ich noch nicht einmal zur Schule ging, hat mir meine Pflegemutter ohne Umschweife erklärt, dass mich meine leibliche Mutter nicht haben wollte und sie mich deshalb an Kindes statt angenommen hätte. Die Tragweite dieser Eröffnung wurde mir erst viel später bewusst, an jenem Tag war ich wohl noch in einem Alter, wo ich ihre Worte einfach so hingenommen habe. Es ist mir ja nicht einmal in den Sinn gekommen, irgendwie näher nach meiner leiblichen Mutter zu fragen. Für mich stand fest: Meine Mutter ist die, die mir die Nase putzte, die mich lehrte, eine Schleife zu binden, die mit mir abends im Bett sang. Also die Hilde – und niemand sonst.

Von Geschwistern war bei diesem ersten Gespräch überhaupt noch keine Rede gewesen. Davon hat sie mir erst viel später erzählt, als ich schon sechzehn war. Sie meinte dann, es könne ja nichts schaden, wenn ich mich mal nach ihnen erkundige. Das habe ich dann eben getan.“

So einfach ging das natürlich nicht vonstatten, dachte Martina. Sie hatte mir ja nicht einmal gesagt, wie ich das anstellen sollte. Das hat sie mir nie gesagt. Sie hat mir das Problem genannt, aber den Lösungsweg musste ich immer selbst herausbekommen.

Aber diese Überlegungen behielt sie besser für sich, sie hätten möglicherweise nach Selbstmitleid geklungen. Diesen Eindruck wollte sie auf jeden Fall vermeiden. Bloß nicht heulen jetzt!

Klaus wurde es sichtlich unbehaglich. Martina war ja selbst verwundert über ihre plötzlich so harte Stimme. Das habe ich dann eben getan, sagte sie. Wie lapidar das in seinen Ohren klingen musste. Seine Frage kam prompt.

„Wie denn, wie hast du es getan? Über das Deutsche Rote Kreuz, den Suchdienst oder wie?“

Er erschrak, wohl, weil er befürchtete, nun nicht mehr aufhören zu können mit der Fragerei. Wer weiß, was noch alles zum Vorschein kommen würde! Wäre er doch nur zu Hause geblieben und hätte sich an seinen Vorsatz gehalten, niemals in Martinas Vergangenheit herumzustochern.

Er nahm seinen Fuß vom Gaspedal, vorsichtshalber, wer sollte sich bei solchen Geschichten aufs Fahren konzentrieren!

„Nein, weder DRK noch Suchdienst“, Martina hatte immer noch diese kalte, ihr selbst fremde Stimme, „ich wusste ja nicht einmal ihre Namen. Meine Pflegemutter kannte auch nur den Namen meiner Mutter und den des letzten Ortes, wo der Brief hergekommen war.“

„Was für ein Brief?“

„Der mit der Abtrittserklärung.“

Verdutzter Blick. Intervallmäßiges Bremsen. Vorsichtshalber.

Klang ja auch wirklich merkwürdig dieses Wort, so beeilte sich Martina, ihm die Sache plausibel zu machen.

„Also: Ich hatte dir doch schon erzählt, dass mich meine Mutter im Krankenhaus abgegeben hatte. Drei Jahre lang hat der Chefarzt nach ihrem Aufenthaltsort geforscht, ehe er sie fand. Irgendjemand musste ja schließlich die Krankenhauskosten tragen. So diktierte er einen Brief, legte eine Rechnung bei – und eben diese Abtrittserklärung. Wenn Hella nicht bezahlen wollte oder konnte, sollte sie die Erklärung unterschreiben und zurückschicken. Er hätte schon jemanden in Aussicht, ließ er sie wissen, der mich gern an Kindes statt annehmen würde. Diese Abtrittserklärung, ich kann auch nichts dafür, wenn dieser Zettel so hieß, soll dann, zu jedermanns Überraschung, ganz schnell, nämlich schon nach einer Woche, unterschrieben zurückgeschickt worden sein. Damit war, sozusagen, mein Schicksal besiegelt, das heißt, ich wurde „abgetreten“, so etwas Ähnliches wie zur Adoption freigegeben. Und die Hilde, die damals in jenem Krankenhaus in Torgau tätig war, hat mich dann einfach an Kindes statt angenommen.“

Martina bemühte sich wirklich, kein Drama daraus zu machen. Sie versuchte sogar ein Lächeln und sprach, als beträfe sie das Ganze im Grunde genommen gar nicht selbst.

Klaus guckte trotzdem noch immer völlig irritiert.

„Adoptiert, hm?“

Irgendwann hatte sie das wohl tatsächlich schon mal beiläufig erwähnt gehabt, und er war froh gewesen, dass sie ihn seinerzeit nicht mit Einzelheiten bedrängt hatte.

„Nein, nicht adoptiert, einfach angenommen“, stellte Martina richtig. Es gelang ihr zunehmend besser, ganz sachlich, fast distanziert über diese Dinge zu reden.

„So hatte ich ziemlich oft einen anderen Namen, wer fragte denn in der Nachkriegszeit schon nach einer Geburtsurkunde?“

Fast wollte sie wieder ein Lachen probieren, aber dann erschien es ihr doch unangebracht und sie ließ es sein.

Klaus sah sie verständnislos an. Sie konnte sehen, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Doch davon unbeirrt, redete sie einfach weiter.

„Erst später, als ich einen Personalausweis beantragte, musste ich eine Geburtsurkunde vorlegen. Aber ich hatte natürlich keine. Hilde hat sich ausnahmsweise darum gekümmert, denn als Vierzehnjährige hätte ich bei der tschechischen Botschaft keine Chance gehabt, das Problem allein zu lösen. Von dort hat sie ein Duplikat der Geburtsurkunde besorgt. Erst ab diesem Zeitpunkt wusste ich eigentlich, wie ich in Wirklichkeit heiße und wer meine leiblichen Eltern waren.“

Martinas Gesichtszüge verrieten noch immer keinerlei Regung.

Klaus wirkte betroffen. Im Grunde waren ihm solche dramatischen Geschichten zuwider, aber nun ließ sich die Lawine wohl sowieso nicht mehr aufhalten. Deshalb fragte er beherzt, ob sie dann einfach an ihre leibliche Mutter geschrieben habe.

„Ach, ja“, seufzte Martina. Das habe sie zwei Jahre später getan, als sie das Gefühl gehabt habe, es sei nicht mehr zu vermeiden gewesen.

„Auf der einen Seite wollte ich eigentlich nichts mit dieser Frau zu tun haben, auf der anderen hatte ich sie ja schon einmal kennengelernt, ohne dass ich es wusste. Als ich später erfahren habe, dass es sich bei diesem unverhofften Besuch um meine leibliche Mutter gehandelt hatte, konnte ich sie auch nicht mehr so richtig vergessen.“

Und sie erzählte ihm in knappen Zügen von der ersten Begegnung mit ihrer leiblichen Mutter, die sich damals, offenbar um ihre Tochter nicht zu erschrecken, als Frau Ackermann ausgegeben hatte. Geschrieben habe sie sich später allerdings nur mit ihrer Schwester Christiane. Von der wiederum habe sie aber auch die Adressen von den anderen Geschwistern erhalten. Dann sei eines Tages auch noch ihr Bruder Kurt aufgetaucht. Er habe ihr zum ersten Mal jene Geschichte erzählt, von der Ermordung ihres Vaters, von der Verzweiflung ihrer Mutter und deren Versuch, sich selbst und ihre Kinder umzubringen.

Die Worte fielen hastig aus ihr heraus und setzten sich zu Bildern zusammen, allerdings wie im Zeitraffertempo. Nach ein paar Jahren habe sie sich dann aufgemacht mit ihrem ersten Mann und ihrem Sohn. Zur Mutter, nach Thüringen. Aber auch diese zweite Begegnung sei „gründlich danebengegangen“.

Anfangs, aus dem Munde ihres Bruders, habe Martina das alles nicht so richtig glauben können. Doch ihre Schwester Margot habe jede grausame Einzelheit bestätigt, sie sei schließlich eine glaubwürdige Zeugin, weil sie seinerzeit schon fast zwölf Jahre alt gewesen war. Außerdem habe Martina ihre Schwester an einem Tag nach diesen Ereignissen gefragt, der niemanden zum Scherzen veranlasst. An jenem Tag habe sie ihre Mutter sozusagen zum dritten Mal gesehen, aber dazu habe sie sich erst einen Sarg öffnen lassen müssen. „Angesichts des Todes denkt sich bestimmt niemand solche makabren Geschichten aus ...“ endete Martina abrupt.

„Mein Gott, nun mal langsam, nicht so hastig!“

Klaus hatte den Satz gebrüllt. Er war schon drauf und dran gewesen, sich abwehrend die Ohren zuzuhalten, aber dann besann er sich wohl darauf, dass er ein Auto lenkte und ließ die Hände am Steuer.

Das Gehörte war einfach zu viel für ihn. Was war das nur für eine haarsträubende Geschichte? Nicht alles konnte er in dieser Zeitraffergeschwindigkeit aufnehmen, aber eine Bemerkung war unweigerlich hängen geblieben. Die Hella wollte ihre Kinder und sich selbst umbringen? Mein Gott, wieso denn? Andererseits: angesichts des Vorgefallenen? Als er bedachte, was diese Frau alles mit ansehen musste, gestand er sich ein, dass er in einem Winkel seines Herzens sogar ein gewisses Verständnis für ihren gemeinschaftlichen Selbstmordversuch aufbringen konnte.

Trotzdem: Das ging ihm alles viel zu hastig, so schnell konnte er so etwas Unglaubliches gar nicht fassen.

Martina hatte ja auch kaum Luft geholt, hatte immer schneller ihre Worte heruntergerasselt, als befürchte sie, dass ihr Mann wieder sagen könnte: „Hör auf, lass sein, was früher war, interessiert mich nicht!“

Doch er sagte nichts dergleichen, räusperte sich vielmehr verlegen, weil er sehen konnte, wie sie verletzt schwieg, weil er ihr so heftig ins Wort gefallen war. Einlenkend fragte er deshalb, obwohl sie ja schon eine Menge angedeutet hatte: „Was für ein Rest? War das alles, die Ermordung deines Vaters und das ganze Drum und Dran mit dem Pferd, noch nicht genug?“

Den Suizidversuch ließ er absichtlich unerwähnt.

Martina verstand sehr wohl, dass solche anteilnehmenden Fragen für ihn schon eine Art der Entschuldigung bedeuteten und schüttelte leicht den Kopf. Gleich fiel ihr ein, dass er ja ihre Geste vielleicht nicht bemerkt haben könnte. Schließlich rollten sie noch immer in ihrem Mazda auf tschechischen Straßen. Wenn sie sich nicht irrte, hatten sie gerade den Ort Dubi, früher Eichwald, hinter sich gelassen.

Deshalb beeilte sie sich zu sagen: „Nein, Klaus, das war noch längst nicht alles.“

Ihre Stimme blieb auffallend ruhig, vielleicht wieder ein wenig zu kühl, sie wollte ihren Mann nicht merken lassen, wie aufgewühlt sie in Wahrheit war. Sie hatte es von klein auf lernen müssen, sich zu beherrschen, andere nicht mit den eigenen Angelegenheiten lästig zu fallen. Das klang alles recht positiv, aber im Grunde war es nichts als eine fragwürdige Anpassung, die abzulegen sie wohl nicht mehr fähig sein würde. Also: immer Beherrschung zeigen, ja nichts dramatisieren, immer so genau wie möglich an die Fakten halten – und bloß nicht heulen!

Eine Wolke hatte sich inzwischen vor die Sonne geschoben, es begann leicht zu nieseln. Die feinen Tröpfchen spritzten gegen die Windschutzscheibe. Durch den Fahrtwind sah es aus, als ob sie auf der Scheibe nach oben fließen und die toten Insekten abwaschen wollten.

Und wie ist es mit der Schuld, die wir mit uns herumtragen, ausgesprochen oder nicht? Kein Regen würde sie je abwaschen können.

„Soll ich das Radio wieder anmachen? Vielleicht kommen ja irgendwo die Beatles oder Elvis?“

Ein altbewährtes Ablenkungsmanöver.

Doch das vertraute Schmunzeln bei den Namen seiner Lieblingsinterpreten blieb dieses Mal aus.

„Nein, aber du kannst mal die Dachluke schließen, ich habe schon jede Menge Regentropfen abbekommen. Du nicht?“

Natürlich hatte er die paar Spritzer auf ihren nackten Armen auch längst entdeckt.

„Und dann kannst du weitererzählen.“

Wie bitte? Doch nicht etwa alles ganz ausführlich? Was dachte er sich dabei?

Martina kurbelte so lange, bis das Schiebedach fest geschlossen war. Dabei hatte sie sich ein wenig die Rippen verrenkt, deshalb klappte sie ihre Rückenlehne nach hinten und streckte sich lang aus. Als alles wieder auf dem rechten Fleck zu sein schien, stellte sie die Lehne wieder auf.

„Also, du bist sicher, dass du auch den Rest der Geschichte hören willst?“, fragte sie mit einem ihrer schnellen, sich vergewissernden Seitenblicke. Klaus nickte nur, scheinbar schon wieder völlig ungerührt und murmelte: „Na klar, was denkst du denn, jetzt, wo du schon mal angefangen hast ...“

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