Читать книгу Wildspitz - Monika Mansour - Страница 10
DREI
Оглавление«Wo ist Rösli?»
«Ach Paps, sie kommt sicher bald zurück.» Tom blickte auf das Foto an der Wand. Erinnerungen an glücklichere Tage, als seine Mutter noch lebte.
Lucy brachte die frischen Gipfeli ins Wohnzimmer. «Der Tisch ist voll überladen! Opi, du brauchst einen grösseren Esstisch.»
«Für uns vier reicht er», sagte Tom und wuschelte seiner Jüngsten, Alicia, die neben ihm am Tisch sass, durch die blonden Haare.
«Pa! Meine Frisur, lass das.»
Die zierliche Alicia war auf einem Mode- und Beautytrip, der Tom Sorgen machte. Benahmen sich elfjährige Mädchen heute so? Er hätte ihr liebend gern die Präsenzzeit im Internet limitiert, aber seine Ex fand es ja toll, wenn sich die Mädchen diese albernen Blogs und Vlogs und Beautyvideos reinzogen. Wenigstens war die ältere Lucy in dieser Beziehung vernünftiger. Sie trainierte hart für ihre Tenniskarriere, was gut war, Toms magerem Portemonnaie aber den letzten Rappen entzog. Er hätte Tennislehrer werden sollen.
«Ihr habt Rösli keinen Platz frei gehalten», beschwerte sich sein Vater. Er drehte sich zu Lucy um. «Ähm – äh – L…»
«Lucy», half sie ihm auf die Sprünge.
«Lucy, hol – ähm.» Er hatte bereits vergessen, was er sagen wollte, und schaute beschämt auf den Teller. «Wo ist Rösli?»
Tom seufzte. Die Demenz wurde schlimmer. Sein Vater musste bereits rund um die Uhr betreut werden.
Lucy setzte sich an den Tisch. «Für wen ist das Geschenk, das in der Küche liegt?», fragte sie und löffelte grosszügig Ovomaltine in die warme Milch. «Mit extragrosser rosafarbener Schleife. Oh, oh. Kennen wir sie?»
«Nein, tut ihr nicht. Das Geschenk ist nicht für eine neue, sondern für eine gute alte Freundin, die ich seit vielen Jahren kenne. Aber ich habe ihren Geburtstag vergessen, also hole ich das nach. Zufrieden?»
«Wann triffst du sie?»
«Keine Ahnung. Vielleicht schicke ich das Geschenk per Post zu ihr.»
«Was ist drin?», fragte Alicia.
«Eine Uhr.»
«Und wie alt ist deine alte Freundin?», fragte Lucy.
«Mitte zwanzig. Mehr verrate ich nicht.»
«Pa, du bist viel zu alt für sie!», rief Alicia aus.
«Hey, werd nicht frech! Ich bin erst neununddreissig.»
Alicia grinste. «Chill your face, Pa. Wenn sie nett ist, darf sie ruhig jünger sein. Ist bei den Stars auch so. Bruce Willis hat eine Freundin, die ist vierundzwanzig Jahre jünger. Und Heidi Klum und Tom Kaulitz –»
«Ich sage es ein letztes Mal. Wir sind nur Freunde und nicht zusammen. Schluss jetzt.»
Lucy mischte sich ein und lehnte sich über den Tisch. «Ist das auch keine Ausrede, Dad? Wann hat Natalie Geburtstag?»
Tom blickte demonstrativ auf seine Armbanduhr. «Wann holt euch eure Mutter ab?»
«Du weichst der Frage aus.» Lucy genoss das Spiel.
«Rösli!», rief sein Vater lautstark und liess vor Schreck alle am Tisch zusammenfahren. «Wo bleibst du mit dem Kaffee?»
Tom seufzte. «Du darfst keinen Kaffee trinken, Paps. Der ist nicht gut für dein Herz. Deine Teetasse ist voll.»
Sein Vater fuhr sich angewidert mit der Zunge über die trockenen Lippen. «Phä, Tee. Bittere Brühe. Wollt ihr mich vergiften?» Er starrte Tom an und verharrte einen Moment regungslos. «Wer sind Sie? Was machen Sie in meiner Wohnung?»
Eine halbe Stunde später schlief sein Vater auf dem Sofa ein. Lucy und Alicia erledigten den Abwasch. Es kam viel zu selten vor, dass Tom mit seiner Familie am Tisch sass. Er schaute auf die Uhr. Bald Mittag. Karo würde jeden Moment Sturm läuten, um die Mädchen abzuholen, obwohl das Gericht ihm das ganze Wochenende zugesprochen hatte. Karo wollte natürlich ausgerechnet an seinem Wochenende mit den Töchtern auf die Geburtstagsfeier der Mutter ihres neuen Kerls. Der schleimige Anwalt wusste genau, wie er es anstellen konnte, Tom von seinen Töchtern zu trennen.
Er wollte in die Küche gehen und den Mädchen helfen, als sein Handy klingelte. Tom zögerte, ehe er den Anruf entgegennahm. «Hallo, Natalie.»
«Tom.»
Schweigen.
«Wie geht es dir?», fragte er vorsichtig.
«Das ist eine Frage, die du mir nicht stellen solltest.»
«Ich tu’s trotzdem.»
«Scheisse.»
«So schlimm?» Tom zog sich ins Schlafzimmer zurück und schloss die Tür. «Was ist los?»
«Sara Jung …»
«Was ist mit ihr?»
«Sie hat meinen Paps mitgenommen. Einbruch, Diebstahl und Totschlag. Sieht nicht gut aus. Die Bullen stellen gerade unsere Villa auf den Kopf.»
Eine Stunde später fuhr Tom in Walchwil vom See her die Strasse hoch zu der Villa der Kriegers. Sein roter Peugeot 106 röchelte bedenklich. Lange würde der Wagen nicht mehr durchhalten. Die Scheidung und der Streit um das Sorgerecht seiner Töchter hatten Toms letzte Reserven verzehrt. Vor dem schmiedeeisernen Einfahrtstor tippte er den Code in die Sicherheitsanlage. Es war die gleiche Zahlenkombination, die er vor gut einem Jahr eingerichtet hatte. Die Kriegers sollten vorsichtiger sein und den Code häufiger wechseln. Als er auf den Kiesplatz vor dem Haupteingang fuhr, versuchte Tom, den Neid zu unterdrücken, der schon bei seinem ersten Besuch an ihm genagt hatte: grandiose Aussicht auf den Zugersee, prachtvolle, zweistöckige Villa, hufeisenförmig angelegt und mit blühenden Blumenbeeten geschmückt. Nach hinten versetzt das Pförtnerhaus, wo Musa wohnte, auf der anderen Seite des grosszügigen Grundstücks die Garage mit den vier Wagen. Auch wenn Tom von seinem Standpunkt den Swimmingpool und das Papiliorama nicht sehen konnte, die auf der Seeseite der Villa lagen, so konnte er sich nur zu gut an die paar schönen Stunden erinnern, die er dort verbracht hatte. Tom hatte keinen Monat für Natalie als Personenschützer gearbeitet, aber irgendwie fühlte es sich an wie heimkommen. Er hatte die Kriegers seither nur einmal besucht, das war kurz nach Weihnachten gewesen.
Bevor er klingeln konnte, riss Alexandra bereits die Tür auf. «Tom! Gut, dass du da bist.»
«Hallo, Alex. Wie geht es ihr?»
«Du kennst sie. Sie spielt die Starke, aber sie ist aufgewühlt.»
Tom warf einen Blick ins Entrée. «Sind sie weg?»
«Ja, sie haben einzig das Chaos hinterlassen. Sind vor einer Viertelstunde abgezogen.»
«Musa?»
«Ist oben bei Natalie. Er hat darauf bestanden, dass sie sich hinlegt. Sie hatte letzte Nacht eine ihrer geheimen Operationen und nicht geschlafen. Ich mache mir echt Sorgen um sie.»
«Ist Rebecca nicht hier?»
«Mit Imani bei ihren Eltern in Davos.»
Tom setzte sich zuerst mit Alexandra in die Küche und liess sich von ihr über die Situation aufklären. Dass Harri so ein Ding abzog, konnte sich Tom unmöglich vorstellen. Was war nur in Sara gefahren, ihn zu verhaften, schliesslich kannte sie die Kriegers?
Musa kam in die Küche. «Sie weiss, dass du hier bist. Besser, du gehst hoch, oder sie springt mir gleich wieder aus dem Bett. Beruhige sie, sing ihr ein Schlaflied vor, erzähl eine Geschichte, egal was, aber bring sie dazu, wenigstens ein paar Stunden zu schlafen.»
«Ich bin nicht ihre Nanny», antwortete Tom, stand auf und klopfte Musa zur Begrüssung auf die Schulter. Sie waren mittlerweile dicke Kumpel geworden.
«Du bist alles für sie», sagte Musa, «Nanny, Bodyguard, bester Freund, und ich vermute noch mehr. Natalie gefällt mir nicht. Sie muss besser auf sich achtgeben.»
«Ist gut, ich rede ihr ins Gewissen.»
Als Tom in Natalies Zimmer trat, fand er sie in Gedanken versunken am Fenster vor. Sie trug einen weichen Trainingsanzug in Rosa. Ein ungewohnter Anblick. Tom kannte sie fast nur in afrikanischen Gewändern. «Wow, mein Mädchen trägt eine schicke Kurzhaarfrisur.»
Sie drehte sich um. Ihr besorgter Gesichtsausdruck wich einem ehrlichen Lächeln. «Echt? Mein Bodyguard ist zurück. Lange nicht gesehen.»
Tom musterte sie einen Augenblick. Die Frisur stand ihr gut, im Gesicht konnte er keine Verletzungen erkennen, aber die dunklen Ringe um die Augen gefielen ihm nicht. Sie war dünner geworden, seit er sie vor bald acht Monaten das letzte Mal gesehen hatte. «Musa sagt, du gehörst ins Bett. Wir können uns unterhalten, während du in den Federn liegst.»
«Aus deinem Mund klingt das echt unromantisch.»
«Ist es nicht. Das ist ein Befehl. Du schläfst nicht, isst nicht und arbeitest zu viel.»
«Deswegen habe ich dich nicht angerufen. Die Bullen haben Paps verhaftet.»
«Alexandra hat mich aufgeklärt.» Tom hielt ihr die Decke auf, und sie kroch ins Bett. Behutsam deckte er sie zu. «Es muss ein Irrtum sein, der sich aufklären wird.»
«Sie haben gefährliche Viren versteckt in Paps’ Arbeitszimmer gefunden.»
Das war leider eine Tatsache. Tom setzte sich auf die Bettkante. «Was sagt Rebecca dazu?»
«Ich habe nicht den Mut, sie anzurufen.»
Tom nickte. «Ich übernehme das. Du schläfst dich aus, und ich fahre auf die Polizeizentrale und spreche mit Sara.»
«Sie ist ein eiskaltes Biest. Ich hasse sie.»
«Weiss ich.» Tom konnte den Reflex, Natalie über den Kopf zu streichen, so wie er es bei seinen Töchtern tat, nur schwer unterdrücken. Er durfte ihr keine falschen Hoffnungen machen. Sie war verletzlich und würde seine Geste falsch deuten. «Schlaf jetzt. Ich hole die Informationen ein, und am Abend setzen wir uns alle gemeinsam an den Küchentisch und überlegen uns einen Schlachtplan, Deal?»
«Deal.»
Tom stand auf, zog die Vorhänge zu und verliess Natalies Zimmer.
Die Fahrt an diesem Samstagnachmittag von Walchwil dem See entlang nach Zug hinein dauerte keine fünfzehn Minuten. Er parkierte den Peugeot im Parkhaus Neustadtplatz und marschierte auf direktem Weg zur Polizeizentrale. Am Empfang verlangte er nach Sara Jung und blieb hartnäckig, bis der junge Polizist endlich nach ihr rufen liess. Während Tom auf sie wartete, musste er an den Fall im letzten Sommer zurückdenken, an die verschwundenen Blutdiamanten und die Höllgrotten. Klar, Sara hatte sich meist kalt, berechnend und emotionslos verhalten, mit wenig Feingefühl gegenüber ihren Mitmenschen. Tom wusste, dass sie kein schlechter Mensch war, nur eine Frau, die Gefühle nicht zulassen wollte. Nach dem Drama in den Höhlen, das fast tödlich geendet hatte, hatte sie ihm und Natalie beigestanden. Das rechnete er ihr hoch an. Auch wenn es ihr an menschlichen Qualitäten mangelte, sie war eine gute Polizistin mit dem richtigen Instinkt.
«Hat das Fräulein Tochter gleich ihren Bluthund von der Leine gelassen?»
Tom drehte sich zu der Stimme um. Sara stand hinter ihm, die Hände in die Hüften gestützt. Sie trug wie gewohnt schwarze Hosen und eine weisse Bluse. Er grinste breit. «Hallo, Sara.»
«Oh, spar dir deinen falschen Charme. Was willst du? Ich habe zu tun, und über laufende Ermittlungen plaudere ich bestimmt nicht mit dir bei einem Kaffeekränzchen. Ausserdem ist Harri Kriegers Anwalt bereits bei ihm. Wir legen ihn nicht auf die Streckbank, die Zeiten sind vorbei, aber wir sind mitten im Verhör, und du kannst nicht zu ihm.»
Tom trat vor sie. «Ich bin hier, um dir meine Hilfe anzubieten.»
«Kein Interesse.»
«Ich könnte nach dem entführten Hund suchen. Für den hast du bestimmt keine Ermittler zur Verfügung.»
«Du hältst dich für besonders clever, was? Bolander ist an dem Hund dran.»
«Und wo steht der auf dessen Prioritätenliste? Ganz unten? Komm schon, du weisst, dass ich gut bin. Ich habe als Sicherheitsmann auch eine Ausbildung als Hundeführer. Du kannst mich als externen Berater dazuziehen. Wir wissen beide, dass Harri niemals in sein ehemaliges Labor einbrechen würde. Das ist Blödsinn. Und ganz bestimmt ist er kein Mörder. Er kannte den Nachtwächter.»
«Tom, ich kann dich nicht in den Fall mit einbeziehen. Du stehst der Familie Krieger zu nahe.»
«Sara!» Ein uniformierter Kollege trat heran. «Frau Hansen ist hier.»
«Gut. Sie muss sich gedulden. Sie soll im Wartezimmer Platz nehmen.» Sara drehte sich zu Tom um. «Ich muss weitermachen. Es …» Sie schaute ihn mit tiefgezogenen Augenbrauen an. «Es geht nicht, dass ich dich mit dem Fall vertraut mache. Aber ich werde dich später informieren, was mit Herrn Krieger geschieht. Warte hier.»
«Ich soll warten?»
«Ja. Setz dich.»
Der Kollege führte eine junge Frau herein. Ihre Augen waren gerötet. Sara ging auf sie zu. «Frau Hansen, ich hoffe, Sie haben sich von dem ersten Schock erholt. Nochmals mein herzliches Beileid zu dem Verlust Ihres Arbeitskollegen. Wir werden alles daransetzen, um den Mörder von Herrn Ramirez zu finden.»
«Danke.»
«Und wir lassen nach seinem Hund suchen. Haben Sie Geduld. Wir werden Sie holen lassen, wenn wir für Ihre Zeugenaussage bereit sind. Einen Moment dauert es noch.»
«Ist gut.»
«Tom, wir gehen den Fall später gemeinsam durch. Ich verlasse mich auf dich.» Mit diesen Worten liess sie ihn stehen.
Tom setzte sich ins Wartezimmer. «Hallo», sagte er zu der jungen Frau. «Ich hatte auch einen Hund, Marshall hiess er, ein Schäfermix. Toller Kerl, aber ist ständig ausgebüxt.»
***
Harri Krieger war ein guter Mann. Sara war das bewusst. Es gab Momente, da hasste sie ihre Arbeit, und heute war einer dieser Tage, wo sich ihre Menschenkenntnis nicht mit den belastenden Beweisen vereinbaren liess. Sie war auf dem Weg zurück zum Einvernehmungsraum. Sie zweifelte bereits an ihrem mehr als spontanen Schachzug, Tom und Tamara Hansen zusammenzubringen. Lind würde das nicht gefallen. Egal, es ging ja nur um einen Hund.
Sara ging erst in ihr Büro und holte zwei A4-Fotos, die auf ihrem Tisch lagen. Bisher hatten sie Harri Krieger nur mit dem Einbruch und Totschlag von letzter Nacht konfrontiert. Er leugnete konsequent, etwas damit zu tun zu haben. Sara wollte ihm gern glauben, gäbe es nicht diese beiden Bilder. Es wurde Zeit, Krieger damit aus der Reserve zu locken. Seine Ausrede musste oscarreif sein, wollte er sich davon distanzieren. Vor dem Einvernahmeraum hörte sie die Männer aufgebracht diskutieren. Ohne anzuklopfen, trat sie ein. «Und, bereits gestanden, Herr Krieger?»
«Ich kann nichts gestehen, das ich nicht begangen habe», sagte Harri und starrte Sara direkt in die Augen.
Sie setzte sich neben Bolander. «Ihr Badge und Ihr persönlicher Code wurden benutzt, um die Türen zu öffnen.»
«Den Badge habe ich im Büro der Personalabteilung abgegeben.»
«Es war aber niemand dort, der ihn entgegengenommen hat.»
«Ich habe ihn auf den Tisch gelegt.» Harri wechselte einen Blick mit seinem Anwalt, der neben ihm sass und fleissig Notizen machte.
«Ihren Badge hat niemand auf dem Tisch gefunden. Haben Sie ihn nicht zufällig doch mitgenommen?»
«Nein.»
«Wer war noch im Labor, als Sie es verliessen?»
«Viele. Wir haben im Büro von Günter auf meinen letzten Arbeitstag angestossen. Fast alle waren dort. Auch Rosanna von der Personalabteilung. Ich sagte ihr, dass der Badge in ihrem Büro liegt.»
«Ja, haben wir überprüft», sagte Bolander. «Sie weiss nichts von dem Badge.»
«Dann lügt sie! Das –»
Sara brachte ihn mit einer Handbewegung zum Schweigen. «Neue Frage: Sie behaupten, Sie haben letzte Nacht zur Tatzeit in Ihrem Bett geschlafen, richtig? Allein. Es war ruhig in der Villa, und Ihnen ist nichts Verdächtiges aufgefallen?»
«So ist es.»
«Ihre Villa ist mit einer Alarmanlage gesichert?»
«Ja.»
Sie legte die beiden Fotos mit der Bildseite nach unten auf den Tisch. «Was würde geschehen, wenn ein Einbrecher ins Haus wollte?»
Der Anwalt schaltete sich ein. Martin Fetsch war ein gut genährter Mittvierziger, eine ruhige Person, was Sara in diesem Fall begrüsste. «Weshalb ist diese Frage relevant? Es wurde nicht in die Villa der Kriegers eingebrochen.»
«Hm.» Sara tippte auf die Bilder. «Sie ist äusserst relevant. Bitte beantworten Sie meine Frage, Herr Krieger.»
«Das Eingangstor ist gesichert, ohne Code kommt niemand rein. Der Einbrecher müsste über den Zaun klettern, was kein grosses Problem sein dürfte. Das Grundstück ist mit Bewegungsmeldern ausgestattet. Das Flutlicht geht an, wenn sich jemand draussen herumtreibt. Gleichzeitig schalten die Überwachungskameras ein. Die Türen am Haupteingang und auf der Terrasse sind ebenfalls gesichert. Die Fenster nicht. Er könnte eines einschlagen.»
«Wir haben die Aufnahmen der Überwachungskameras durchgesehen. Um zehn nach neun hat Musa Achebe das Grundstück zu Fuss verlassen. Ein Freund hat ihn mit seinem Wagen abgeholt. Um zwei Uhr kam er zurück und ging direkt ins Pförtnerhaus. Dazwischen ist nichts. Alles dunkel.»
«Bei uns wurde nicht eingebrochen», sagte Harri, die Verwirrung stand ihm ins Gesicht geschrieben.
«Wenn sich jemand mit Ihrem Alarmsystem auskennt, könnte er unbemerkt einbrechen, ohne von den Kameras erfasst zu werden?»
«Ja, theoretisch ist das möglich. Wir haben keine Hochsicherheitsanlage installiert. Es gibt einige tote Winkel, die nicht von den Kameras erfasst werden.»
«Das heisst, jemand könnte unbemerkt rein und raus?»
«Ja. Wenn er sich gut auskennt.»
Sara lehnte sich im Stuhl zurück und verschränkte die Arme. «Wenn das so ist, könnte auch jemand unbemerkt raus und wieder rein.»
Fetsch schnaufte leise. «Das ist eine haltlose Unterstellung.»
Bolander beugte sich über den Tisch. «Keinesfalls. Wir halten Ihren Mandanten nicht zum Vergnügen hier fest.»
«Wir haben zwei Dinge in Ihrer Villa gefunden, die uns ernsthaft Sorgen bereiten», sagte Sara. «Ich bin keine Biologin, und mein Latein ist eine Katastrophe, deshalb können Sie bestimmt für mich übersetzen, Herr Krieger. Was ist ein Humanes Papillomavirus?»
«Das HPV? Es befällt die Haut oder Schleimhäute und ist krebserregend. Gebärmutterhalskrebs kann durch dieses Virus ausgelöst werden.»
«Aha. Und was löst das Parapoxvirus aus?»
«Parapoxviren? Die kommen bei Säugetieren vor. Sie gehören der Familie der Pockenviren an. Was sollen diese Fragen?»
Sara hob den Zeigefinger. «Moment, ich habe noch eines, das ich nicht kenne: Lyssavirus?»
«Tollwut.»
«Klingt nicht gut», sagte Bolander.
Sara fuhr fort: «Ich habe weiter das Influenza-A-Virus, das Humane Herpesvirus und das Humane Coronavirus auf der Liste. Ich denke, diese Namen müssen Sie mir nicht übersetzen.»
«Was ist damit?», fragte Fetsch. «Wurden diese Viren aus dem Labor gestohlen?»
«Nicht nur das», erklärte Bolander. «Diese Viren haben wir versteckt in Herrn Kriegers Büro gefunden.»
Fetsch starrte Harri an, der mit offener Kinnlade auf seinem Stuhl sass.
«Gegen ein Aspirin oder Panadol in Ihrem Haus habe ich nichts einzuwenden», sagte Sara. «Ich würde auch über ein bisschen Gras hinwegsehen. Aber dieses Zeugs hier?» Sie drehte das erste Foto um. Es zeigte die Styroporbox mit den sechs Ampullen. «Damit will niemand in Berührung kommen, nicht ausserhalb eines Sicherheitslabors.»
«Ich weiss nichts von diesen Viren», sagte Harri. Auf seiner Stirn bildeten sich Schweisstropfen. Er war nervös. Sehr nervös.
«Verstehen Sie jetzt meine Frage, ob jemand bei Ihnen eingebrochen haben könnte? Ich würde ja gern glauben, dass ein Einbrecher Ihnen die Viren untergejubelt hat, denn leider ist das nicht alles. Wir haben in Ihrem Garten unter einem Strauch ein weiteres Beweisstück gefunden. Sie stehen definitiv mit dem Einbruch in Verbindung.» Sara drehte das zweite Bild um. Es zeigte eine schwarze Hundemaske. «So eine Maske haben die Täter getragen.»
«Die kann jeder im Internet bestellen», warf Fetsch ein.
«Die Maske schon», sagte Bolander. «Aber dann gäbe es im Innern der Maske keine Haare von Herrn Krieger. Zudem haben unsere Techniker an der äusseren Seite der Maske Spuren von Blut gefunden. Tierblut. Und ein Hundehaar. Wetten, es passt zu Cocos DNA? Wir werden es beweisen, sobald wir den Hund gefunden haben.»
***
«Entführt», sagte Tamara und setzte sich Tom gegenüber. «Die Polizei sagt, die Mörder, die meinen Arbeitskollegen Ramirez auf dem Gewissen haben, hätten auch Coco mitgenommen.»
«Ramirez war ein Kollege? Mein Beileid.»
Sie biss sich auf die schmalen Lippen. «Ständig muss ich daran denken, dass es mich hätte treffen können. Bin ich ein schlechter Mensch, weil ich dankbar bin, noch zu leben?»
Tom lehnte sich vor. «Das ist nur logisch. Jeder, der etwas anderes behaupten würde, wäre ein Lügner. Wollen Sie darüber reden?»
«Mit einem Fremden?»
«Sorry. Ich bin Tom Engels. Sicherheitsberater und Ausbildner. Ich habe lange als Personenschützer gearbeitet, und manchmal helfe ich der Polizei bei einem Fall.»
«Dann sind wir Berufskollegen», sagte Tamara und atmete fast erleichtert durch, bevor sie zu sprechen begann. Tom erfuhr, was in der letzten Nacht tatsächlich vorgefallen war. Übel war das. Klar hatte die Polizei Harri in Gewahrsam genommen. Die Beweislage war fatal für Natalies Vater.
Tamara wischte sich rasch eine Träne von der Wange. «Wo ist er jetzt?», fragte sie.
«Wer?»
«Marshall.»
«Im Hundehimmel. Schlief friedlich ein.» Tom fuhr sich mit einem schlechten Gewissen durchs kurze blonde Haar. Zu lange hatte er nicht mehr an Marshall gedacht. Er war ein toller Wachhund gewesen, eine Strassenkreuzung, ein Zigeuner. Er erinnerte sich gut, wie sein Freund Rico ihn damals vorbeigebracht hatte. «Entweder du adoptierst ihn, oder er wird ersäuft», hatte er gedroht. Natürlich wusste Tom, dass Rico dem Streuner niemals etwas angetan hätte. Der grobschlächtige Mistkerl hatte ein Herz, weich wie warme Butter. «Haben Sie einen Verdacht, wer die Täter sein könnten?»
«Ich würde spontan auf extreme Tierschützer tippen», sagte Tamara. «Rivoli erhielt in letzter Zeit viele Drohbriefe, Anrufe, und mehr als einmal war die Fassade des Gebäudes mit üblen Beschimpfungen beschmiert.»
«Einen bestimmten Verdacht?»
«Linn De Luca.»
Tom hob überrascht die Augenbrauen. Mit einem Namen hatte er nicht gerechnet.
«Nach der Flut von Drohbriefen habe ich heimlich Nachforschungen angestellt», erklärte Tamara. «Safetron interessiert es nicht, solange die Briefe keine konkrete Drohung aussprechen. Der Inhalt war oberflächlich gehalten. Ihr Mörder! Ihr quält Tiere zu Tode. Wie könnt ihr nachts schlafen? So Sachen halt. In Zug fand ich drei Tierschutzorganisationen, die in Frage kamen. Ich habe dort angerufen, Interesse gezeigt und wollte wissen, was sie unternehmen, um Tiere besser zu schützen. Zwei Organisationen wollten vor allem auf politischer Ebene ansetzen und erreichen, dass zum Beispiel die Massentierhaltung eingeschränkt wird, das Schreddern von Küken verboten wird und Tiertransporte strengeren Gesetzen unterliegen. Sie gingen vor allem auf die Nutztierhaltung ein. Die dritte Organisation nennt sich Wild ’n Free Animal Rescue. Linn De Luca ist die Präsidentin. Der Verein zählt etwa dreissig aktive Mitglieder. Er wurde erst vor zwei Jahren gegründet und steht noch am Anfang. Am Telefon erklärte mir Linn, dass sie sich gegen Tierversuche einsetzen. Sie hielt mir einen emotionalen Vortrag darüber. Nutztiere erwähnte sie mit keinem Wort. Ich weiss, das ist kein Beweis, aber wenn eine Tierschutzorganisation dahintersteckt, würde ich auf ‹Wild ’n Free› tippen.»
«Haben Sie diese Linn De Luca persönlich getroffen?»
«Nein.»
Es war möglich, dachte Tom, dass so eine Organisation hinter dem Einbruch stecken könnte, allerdings machte ihn die Brutalität und Zerstörungswut nachdenklich. War der Totschlag des Nachtwächters wirklich Notwehr gewesen? Und weshalb diese Verwüstung? Damit verloren sie wertvolle Zeit und steigerten das Risiko, gefasst zu werden. Das Szenario ergab keinen Sinn. Etwas war faul an der Sache. Tom entschloss sich, dem Hinweis von Tamara gleich nachzugehen.