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VIER

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Am Kiosk am Bahnhof Rotkreuz kaufte sich Tom ein Notizheft, die Augustausgabe von «Unser Schweizer Heimtier» und die Zuger Zeitung. Er blätterte die Zeitung durch. In der gedruckten Ausgabe war der Einbruch bei Rivoli nicht erwähnt, in der Onlineausgabe hatte er aber bereits darüber gelesen. Der brutale Überfall machte in den Medien rasch die Runde.

Tom war gleich nach dem Gespräch mit Tamara hierhergefahren. Natürlich hatte er Sara nicht darüber informiert. Er glaubte, seine Chancen wären besser, etwas herauszufinden, wenn er Linn De Luca unter vier Augen treffen konnte. Ihre Adresse zu finden, war leicht gewesen. Sie wohnte in einer kleinen Einliegerwohnung in Risch, direkt am See. Er hatte Glück und traf sie zu Hause in ihrer Wohnung an. Sie beäugte ihn misstrauisch, hielt die Wohnungstür nur einen Spalt offen. Tom war unfähig, den Blick von ihr zu lösen. Es war mittlerweile später Nachmittag. Linn De Lucas azurblaue Augen starrten ihn hypnotisch an. Sie war Mitte zwanzig. Ihr kastanienfarbenes Haar schien aus einer Shampoowerbung zu entstammen. Das Gesicht war zart und fast mädchenhaft. Tom gab sich als Journalist aus, der über den Einbruch bei Rivoli schreiben wollte und die Meinung einer Tierschützerin für seinen Bericht brauchte. Er hielt Zeitung und Zeitschrift hoch.

«Ich lasse keine Fremden in meine Wohnung», sagte sie, ihre Stimme klang erstaunlich tief und herrisch.

«Nicht nötig», sagte Tom und setzte sein bestes Lächeln auf. Er wusste um die Wirkung seiner Grübchen in den Wangen. Rasch zog er den Notizblock aus seiner Hosentasche, den er vorhin mit den Schuhen entsprechend bearbeitet hatte, damit er abgenutzt und gebraucht wirkte. «Ich will nur wissen, wie eine Tierschutzorganisation darüber denkt, dass Tiere aus einem Versuchslabor befreit werden. Billigen Sie die Aktion?»

«Sie wollen wissen, ob Wild ’n Free Animal Rescue es getan hat?»

Tom grinste und lehnte sich lässig an den Türrahmen. «Ich denke, das waren Profis und keine Tierschützer. Mich interessiert Ihre Meinung. Sie setzen sich für Versuchstiere ein.»

Ohne Vorwarnung schlug sie Tom die Tür vor der Nase zu.

Hatte er sich zu weit vorgewagt? Er wollte erneut den Klingelknopf drücken, als sie die Tür wieder aufriss. Eine grosse Tasche hing Linn De Luca um die Schulter. «Gehen wir.»

Schweigend führte sie Tom hinunter an den See. Es war unmöglich, ihre Gedanken zu entschlüsseln. Weder lächelte sie, noch blickte sie mürrisch oder verschreckt. Sie wirkte ruhig und gefasst. Kaum waren sie am Ufer unter sich und ausser Hörweite von anderen Spaziergängern, explodierte sie wie eine gezündete Rakete. Schweigend hörte sich Tom die emotionalste und leidenschaftlichste Rede über Tierschutz und den Schwerverbrecher Mensch an, die er je gehört hatte. Selbst ihre äussersten Haarspitzen wogen mit jeder Welle der Entrüstung, die aus ihrem Mund kam. Das Blau ihrer Augen bekam einen satten Unterton und schimmerte tiefer und hypnotisierender als zuvor. Sie packte Tom unvermittelt am Arm. Ihr Griff war fest, an der Grenze zu schmerzhaft. «Das sind Bestien ohne Gewissen. Sie quälen aus Lust, aus Profitgier. Erinnern Sie sich an den Fall mit dem Labor bei Hamburg? Es war überall in den Medien. Wenn Versuche hier in der Schweiz nicht durchgeführt werden dürfen, lagert man sie einfach ins Ausland aus. Kommt die Sache dann ans Licht, gibt man sich unschuldig. Als hätte man nicht davon gewusst. Diesen Geiern geht es nicht um Medikamente, um Menschenleben zu retten, ihnen geht es um Experimente, um die hohen Medikamentenpreise zu rechtfertigen. Sie verkaufen Tierversuche mit geschickten Marketinginstrumenten, erzählen Lügenmärchen von wegen zwingend notwendig. Zivilisiert? Ha! Wir nennen uns zivilisiert? In den Tausenden von Jahren, in denen es Menschen gibt, haben wir nie so grausam und unnötig Millionen von Tierleben verschwendet, nur um unsere Neugier zu befriedigen.»

Tom wagte nicht, gegen Linn das Wort zu ergreifen. Bei ihrem Temperament hätte er seine Chance schnell verspielt. Er versuchte, das Thema zu wechseln. «Rivoli, was wissen Sie über dieses Labor?»

Sie zuckte mit den Schultern, etwas zu gespielt, wie Tom fand. Dann zeigte sie mit der Hand hinüber zum Schloss Buonas, das auf einer Halbinsel lag. Hinter ihm konnte Tom die Skyline der Stadt Zug sehen, wenn man der so sagen wollte. «Bereits seit bald tausend Jahren steht das Schloss dort. Nicht dieses, aber eines seiner vielen Vorgänger. Wissen Sie, dass es heute in Privatbesitz ist? Ein grosser Chemiekonzern nutzt es als Ausbildungszentrum. Dreimal im Jahr ist der Park für uns Einheimische geöffnet. Ist das nicht ein Witz? In unserem kleinen Kanton regieren die Unternehmen, die Firmen und die Scheinfirmen. Einige der weltgrössten Konzerne haben hier ihren Sitz. Wir Bürger können kaum die horrenden Wohnungsmieten bezahlen. Wer profitiert von den tiefen Steuern? Diejenigen, die eh genug Geld haben und kein echtes Bedürfnis, sich um die Armen und Schwachen unter uns zu kümmern. Tierschutz und Wohltätigkeitsveranstaltungen sind reine Werbeveranstaltungen, um den Schein vom Gutmenschen unter den Reichen zu wahren.»

Tom musste an Natalie denken, an ihre schlaflose Nacht. Nicht alle, die Geld hatten, waren deshalb böse und machtgierig. Vorurteile gegenüber den Reichen waren genauso schlimm wie Vorurteile gegenüber anderen Gruppierungen oder Menschen. Linns Ideale waren nicht ungefährlich. Sie meinte es gut, doch Tom verabscheute Extremismus in jeglicher Art.

«Wow», sagte er gespielt bewundernd. Auch wenn Linn nicht direkt etwas mit dem Einbruch zu tun hatte, so könnte sie dennoch hilfreich sein, eine heisse Spur zu finden. Er musste sich auf ihre Seite schlagen. «Selten habe ich eine Frau getroffen, die so überzeugend reden kann. Schon mal überlegt, in die Politik zu gehen?»

«Ich bin Tierarzthelferin und habe in der Politik nichts verloren. Pah, das sind alles verlogene Heuchler, die vor den Pharmafirmen und Grosskonzernen hier in Zug kuschen.»

Tom strahlte sie an. «Es ist Samstag. Darf ich dich zum Abendessen einladen? Ich würde gern mehr über deinen Tierschutzverein erfahren.»

«Etwas früh für ein Essen, nicht? Und das Du habe ich dir nicht angeboten.»

«Magst du Italienisch? Pizza?»

«Du bist hartnäckig, echt. Aber kein Interesse. Ich habe einen festen Freund.»

Tom war erleichtert. Er wusste, dass er kein Flirttalent besass, und die Schauspielerei war nicht sein Ding. In der Ferne sah er, wie eine Frau auf sie zukam. Der energische Schritt verriet sie, bevor er ihre Gesichtszüge erkennen konnte. Woher zum Kuckuck wusste sie, dass er mit Linn hier am See war? Mit zwei explosiven Frauen wollte er es nicht aufnehmen. «Sorry, wenn ich zu aufdringlich war. Ich werde gehen und meinen Bericht tippen. Du hast mir weitergeholfen. Danke.» Er tippte sich kurz an die Stirn und machte sich schleunigst davon, ging direkt auf Sara zu. Ohne dass Linn es sehen konnte, hielt er sich den Zeigefinger vor die Lippen und gab Sara ein Zeichen, an ihm vorbeizugehen. Sie verstand seinen Wink, hielt sich aber nicht zurück, ihm einen bitterbösen Blick zuzuwerfen. Tom griff nach dem Handy und rief Musa an. «Hey, Kumpel, ist Natalie wach?»

«Steht neben mir.»

«Tom?» Er konnte fühlen, dass sie Musa das Telefon regelrecht aus der Hand riss. «Wie geht es Paps? Hast du ihn gesehen? Sie lassen mich nicht zu ihm.»

«Keine Sorge, der Drache geht im Moment gerade auf eine weitere Verdächtige los.» Tom blickte über die Schulter zurück, ohne stehen zu bleiben, und sah, wie Sara Linn ihren Polizeiausweis unter die Nase hielt. Linn trat defensiv einen Schritt zurück. Gut möglich, dass Tom sich täuschte, aber sein Bauchgefühl sagte ihm, dass Linn wichtig sein konnte.

«Was hast du vor?», fragte Natalie am Telefon.

Tom grinste und ging zurück zu seinem Wagen. «Du könntest mich zum Essen ins Papiliorama einladen. Ich verhungere.»

Er hörte, wie Natalie kurz durchatmete. «Alexandra hat Früchtewähe gebacken. Ich stell dir ein Stück beiseite.»

***

Natalie starrte auf den blauen Schmetterling, der auf ihrer Hand sass und die prachtvollen Flügel ausbreitete. Sie wagte es nicht, in Toms Augen zu blicken. Ihr Herz würde platzen. Blöde Göre, dachte sie. Du weisst genau, dass er nichts von dir will. Der Mistkerl ist zu alt und nicht interessiert an einem Flirt mit einem verkrüppelten Mädchen wie mir. Sie wusste genau, dass er sie wie eine seiner Töchter ansah. Na ja, fast so.

«Ich habe vorhin mit Rebecca telefoniert», sagte Tom, «und sie informiert. Sie ist auf dem Rückweg und sollte in einer guten Stunde hier sein.»

Natalie nickte erleichtert.

«Du bist ungewohnt still», sagte Tom und verschlang den letzten Bissen von Alexandras Kirschwähe. «Alles okay? Mach dich nicht verrückt wegen deines Vaters. Er schlägt sich gut. Diese Linn De Luca steht bei mir auf der Verdächtigenliste ganz oben. Ist ein Anfang.»

Der Schmetterling flog von Natalies Hand. Sie sass mit Tom im Papiliorama, in ihrem gläsernen Käfig, wie sie ihn nannte. Das runde Glashaus war üppig mit tropischen Pflanzen bepflanzt. In der Mitte stand ein kleiner schmiedeeiserner Tisch mit zwei Stühlen und an der Seite ein Schlafsofa. Im Sommer verbrachte Natalie die Nächte oft hier. Tagsüber war es ihr zu warm. Ihrer Haut tat die Hitze nicht gut. Die Schmetterlinge und Insekten, die hier lebten, waren ihre Haustiere. Es gab auch zwei Madagaskar-Taggeckos und ein paar Kronengeckos im Papiliorama, aber die bekam Natalie nur mit Glück zu Gesicht. Seit diesem Frühling lebte hier auch ein Paar Unzertrennliche. Die kleinen Liebespapageien waren Natalies neue Lieblinge. Harri hatte ihr Hunde oder Katzen nicht erlaubt. Zu gefährlich für ein zartes Schmetterlingskind. Das war natürlich Bullshit, aber so war Harri. Natalie konzentrierte sich wieder auf das, was Tom ihr bisher erzählt hatte. «Diese Tierschützerin hat ein Motiv, aber weshalb Paps mit reinziehen? Wie könnte sie an seinen Badge und den Sicherheitscode gekommen sein? Und die Viren in unserem Haus? Die Sache stinkt zum Himmel.»

«Waren Angestellte von Rivoli kürzlich bei euch zu Besuch?»

«Letzten Monat. Fast die ganze Belegschaft war hier. Paps gab eine kleine Cocktailparty zu seinem Abschied.»

«Könnte ihm jemand bei dem Anlass die Viren untergejubelt haben?»

«Möglich. Sein Arbeitszimmer ist nie abgeschlossen.»

«Ich brauche eine Liste von allen, die hier waren.»

«Kriegst du.»

«Hatte Harri Probleme mit jemandem von Rivoli?»

«Er und Günter, der Direktor, waren keine besten Freunde, aber sie respektierten sich. Sonst wüsste ich niemanden, mit dem er nicht auskam.» Natalie fühlte, dass Tom sie anstarrte. «Was?»

«Versprichst du mir etwas? Keine Recherchen auf eigene Faust. Keine gefährlichen Alleingänge. Und keine Lügen. Ich will nicht, dass sich das Drama vom letzten Sommer wiederholt.»

«Da durfte ich die Heldin spielen.»

«Du wirst immer meine Heldin bleiben.»

«Tatsächlich?» Sie spielte mit ihrem silbernen Armband.

«Du trägst es?»

«Du hast es mir geschenkt.»

«Ja, das habe ich.»

«Tom?»

«Hm?»

Schweigen.

Alexandra klopfte an die Glastür und trat ein. «Ihr habt Besuch. Die Frau Kripochefin wartet drinnen. Sie hat miese Laune.»

Natalie würgte bei den Worten. Die Psychobitch konnte ihr gestohlen bleiben. «Schick sie weg, Alex.»

Zu spät. Sara Jung stand bereits vor dem Papiliorama. «Keine Sorge, Frau Krieger, Sie will ich nicht behelligen. Aber Ihrem hinterhältigen Bodyguard werde ich die Leviten lesen. Tom, wir müssen reden. Unter vier Augen.»

Natalie schaute ihn herausfordernd an. Er sollte es nicht wagen, sie aus dem Spiel zu nehmen.

Tom stand auf. «Hat dich Linn De Luca mit ihren hypnotischen Augen überzeugt?»

«Du hast dich als Journalist ausgegeben?»

«Sie sollte mich unvoreingenommen kennenlernen. Ich dachte, mit einem Journalisten würde sie offener sprechen als mit einem Privatschnüffler. Wie hast du uns gefunden?»

«Tamara Hansen hat mir von der Tierschützerin erzählt. Ich habe ihr Mobiltelefon orten lassen.» Sara nickte Natalie zu. «Du arbeitest wieder für das Fräulein Tochter, wie ich sehe?»

«Behandeln Sie mich nicht wie ein dummes Kind. Ich will meinen Vater zurück. Sie können ihn nicht festhalten.»

«Im Moment schon. Frau De Luca hat ein wasserfestes Alibi, das der Herr Journalist nicht überprüft hat. Sie war letzte Nacht bei ihrem Freund. Er gehört nicht der Tierschutzorganisation an und arbeitet für den Kanton Zug im Amt für Wald und Wild. Seine Aussage ist glaubwürdig.»

«Mist!», sagte Tom. Die Enttäuschung war ihm anzusehen.

«Andere Frage: Wo warst du letzte Nacht?» Sara verschränkte die Arme vor der Brust.

Natalie schaute Tom überrascht an. «Weshalb will sie das wissen? Ist das relevant?»

«Ja, ist es», antwortete Sara.

«Ich war aus», sagte Tom. «In der Stadt.»

«Welche Zeit?»

«So ab neun. Zurück war ich gegen zwei.»

«Mit wem warst du aus?», fragte Sara.

Tom schaute Natalie an. «Mit Musa.»

«Mit Musa?» Natalie holte tief Luft. «Seid ihr zwei jetzt beste Kumpel und feiert die Nächte durch? Mich hast du das letzte Mal nach Weihnachten besucht.»

«Von dem kindischen Eifersuchtsdrama will ich nichts wissen», sagte Sara harsch. «Tom, ich brauche dein Alibi schriftlich auf Papier. Komm morgen bei uns vorbei.» Sara machte wortlos auf dem Absatz kehrt, und weg war sie.

Alexandra schloss leise die Glastür zum Papiliorama und ging rasch zurück ins Haus.

Innerlich kämpfte Natalie gegen die Tränen an. «Du holst Musa hier ab, gehst mit ihm aus und hältst es nicht für nötig, mir kurz Hallo zu sagen? Ich dachte, wir seien Freunde.»

Tom trat einen Schritt zurück. Er ging auf Distanz. Wie hatte sie so blöd sein können, zu denken, er könnte etwas für sie empfinden?

«Sorry», sagte er. Das war alles.

«Geh einfach und lass mich in Ruhe.»

«Natalie.»

«Hau ab!»

***

Ausgelaugt betrat Sara ihre kleine Wohnung. Dieser Fall ging ihr unter die Haut. Sie mochte Harri Krieger und traute ihm den Einbruch und Totschlag nicht zu. Es ergab keinen Sinn. Er wollte sein eigenes Labor eröffnen. Weshalb sollte er Rivoli zerstören und die Versuchstiere befreien? Wäre es möglich, dass er geheime Unterlagen mitgehen liess und mit der Aktion dies vertuschen wollte? Nein, so dreist konnte Harri nicht sein.

Sara seufzte, als sie die Unordnung in der Küche sah. Im Kühlschrank herrschte Giftalarm und Gefahrenstufe fünf: Vergammeltes Gemüse, schimmliger Käse und pilzbefallene Nudeln rotteten vor sich hin. Rasch schloss Sara die Kühlschranktür. Sie griff zum Telefon und wählte die Nummer des Pizzakuriers. Ihr Lebensstil würde sie eines Tages umbringen. Doch Mörder hatten Vorrang vor der leidigen Hausarbeit. Es war Samstagabend, der letzte im August. Die Putzfrau würde erst am Mittwoch vorbeikommen. Sara ging in ihr Schlafzimmer und öffnete den Schrank. An den Kleiderbügeln hingen die weissen Blusen, auf dem Regal darüber lagen fein säuberlich gefaltet die schwarzen Hosen. Ihre Putzfrau holte die Wäsche jeden Mittwoch aus der Kleiderreinigung ab. Auf dem obersten Regal lagen einige T-Shirts und Trainingskleider. Sara zog sich aus und gönnte sich eine kühle Dusche. Das kalte Wasser tat gut. Sie war aufgewühlt. Sara hatte Tom lange nicht gesehen. Er sah gut aus, auch wenn sie seine Grübchen in den Wangen heute nicht zu sehen bekommen hatte. Sie musste wieder an das Essen bei ihm zu Hause mit seinem dementen Vater denken. Diese familiäre Atmosphäre hatte sie seither nicht mehr erlebt. Familie, das war für sie ein absolutes Fremdwort. Sara fasste sich an den Bauch. Ein eiskalter Schauer überkam sie, und sie stellte die Temperatur des Wassers auf heiss. Meine Güte, nahm das nie ein Ende?

Nach der Dusche schlüpfte sie in Trainingshosen und T-Shirt. Es klingelte an der Tür. Der Pizzakurier brachte das Abendessen. Sie setzte sich mit der Pizza und einem Glas billigen Rotweins aufs Sofa und schaltete den Fernseher ein. Ein amerikanischer Blockbuster flimmerte über den Bildschirm, doch Sara war mit den Gedanken weit weg.

Ein leises Kratzen am Fenster ihrer Parterrewohnung holte sie in die Realität zurück. Draussen war es bereits dunkel. Der Herr Geheimrat war spät dran. Sie schaute auf die Uhr, es war kurz vor elf. So spät klopfte er sonst nie bei ihr an. Keine Ahnung, was der alte Kerl draussen auf der Strasse getrieben hatte. Junge Damen beglückt, vermutete Sara. Wenigstens er hatte Spass.

Sie stand auf und schlurfte zum Fenster. Kaum öffnete sie es einen Spalt, sprang er in die Wohnung und rannte direkt in die Küche. Herr Geheimrat musste hungrig sein. Kein Wunder. Sie folgte ihm. Er wartete vor dem Kühlschrank und starrte sie an. Eine üble Kratzwunde zierte seine Nase. Einmal mehr hatte er sein Revier verteidigt. Er konnte es nicht lassen. Sara holte eine Dose Katzenfutter aus dem Schrank und füllte den Fressnapf des roten Katers. Er war ein beachtliches Tier, die grösste Katze im Quartier. Herr Geheimrat liess sich nichts vorschreiben und lebte sein eigenes Leben. Doch nachts schlich er sich nach wie vor gern in Saras Bett. Auch rebellische Kater und Einzelgänger brauchten zwischendurch das Gefühl von Wärme und Geborgenheit. «Du warst zwei Tage weg. Was hast du bloss wieder angestellt?» Sie strich ihm über das Fell, das sich fast rau und borstig anfühlte. Er stank. «Hast du wieder im Müll gefischt? Morgen gibt’s ein Bad. So kommst du mir heute nicht ins Bett.»

Sie räumte die Pizzaschachtel vom Sofa und stellte den Fernseher ab. Als sie sich ins Bett legte, stand die Schlafzimmertür einen Spalt offen. Etwas Wärme und Geborgenheit konnte nicht schaden, auch wenn sie stanken wie ein Müllcontainer.

Wildspitz

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