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ZWEI

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«Dir entgeht ein traumhafter Sonnenaufgang.» Musa, ihr Pfleger, trat in ihr Geheimzimmer. «Hier drinnen ist es dunkel wie in einer Grabkammer. Hast du die Nacht durchgearbeitet?» Er setzte sich neben Natalie an den Tisch und starrte auf die Monitore. «Du kannst die Welt nicht retten. Auch Superheldinnen stossen an ihre Grenzen.»

Natalie zeigte mit ihrer einbandagierten Hand auf den mittleren der drei Monitore. Die Bildqualität war schlecht, der Livestream kam über eine Handykamera. «José hat es fast geschafft. Eine letzte Tür und sie sind frei.»

«Wie viele diesmal?»

«Drei Frauen, zwei Mädchen, keine zwölf Jahre alt, die beiden.» Es rauschte durch die Lautsprecher. Zwei Hacker und Mitglieder ihrer Organisation waren ebenfalls zugeschaltet. Natascha hatte sich von Minsk aus in das als Konservenfabrik getarnte Unternehmen in Monterrey gehackt und kontrollierte die Aufnahmen der Aussenkamera. «Two minutes. José, get out. Now!»

«¡Qué mierda!», fluchte José in Mexiko. «¡Ándale!»

Natalie sah, wie er die fünf befreiten Opfer vor sich hertrieb. Eine Frau humpelte stark. Die Tür am Ende des dunklen Korridors war der Weg in die Freiheit.

Natalie fuchtelte mit der Hand vor dem Monitor hin und her, so als wollte sie die Flüchtigen antreiben. Ihr Blut pochte hart durch die Halsschlagader. «Wenn sie es nicht schaffen, sind die Frauen tot. Mensch, Musa, wenn die Menschenhändler José in die Finger kriegen, ist es vorbei. Die machen kurzen Prozess mit ihm. Da kann ihn auch sein korrupter Vater nicht rauskaufen.» Natalie schaltete das Mikrofon ein. «They need more time. Jimmy, do something.» Jimmy war der zweite Hacker, der sich zusammen mit Natascha ins System des Unternehmens in Mexiko gehackt hatte. Er war aus Detroit zugeschaltet.

«Damn, I’m working on it. Yeah, that’s it. I’m gonna fuck the bastards! Just keep watching. Three. Two. One. Party!»

Musa beugte sich vor, und auch Natalie starrte gebannt auf den Monitor. José und die Frauen waren fast an der Tür. Es war der Korridor auf der rechten Seite, der Natalie Sorgen machte. Sie wussten, dass die Wachmänner auf ihrer Runde in wenigen Sekunden um die Ecke biegen würden, direkt zwischen José und der rettenden Tür. Die Neonröhren, die den kahlen, unterirdischen Gang spärlich beleuchteten, flackerten. Durch das auf Lautsprecher gestellte Handy von José hörte Natalie einen ohrenbetäubenden Alarm. Die Sprinkleranlage sprang an. Jimmy hatte den Feueralarm ausgelöst. Natalie konnte nur hoffen, dass dieser die Wachmänner überzeugte, ihre Runde abzubrechen und zurück zur Zentrale zu laufen. «José», rief sie ins Mikrofon, «la puerta!» Er kam nicht dazu, zu antworten. Es wurde schwarz auf dem Bildschirm.

«Was ist los?», fragte Musa.

Das Wasser, ging es Natalie durch den Kopf. Josés Handy musste kaputtgegangen sein. Sie nahm Kontakt mit Natascha auf, auch diese bestätigte die Funkstille. «We have to wait.»

Draussen wartete der Fluchtwagen. Nacho sass am Steuer. Sie mussten warten, bis dieser sich meldete. Natalie atmete tief durch und lehnte sich im Stuhl zurück. Ihr linkes Bein schmerzte.

Musa legte ihr die Hand auf die Schulter. «Du tust dir und deinem Körper mit schlaflosen Nächten nichts Gutes.»

«Ha, ich bin bereits ein Wrack. Besser ein Wrack, das diesen Frauen das Leben rettet, als ein Wrack, das jammernd in weichen Daunen liegt.»

«Wenn sie draussen sind, loggst du dich aus dem Darknet aus, und wir gehen hoch ins Beautyzimmer. Ich muss mich um deine Wunden kümmern. Und du brauchst einen Beutel Powerfood. Besser zwei.»

Natalie fasste sich an den Bauch, dort, wo der Zugang zur Magensonde lag. «Ich muss erst mit Julien –»

«Nein. Julien kann warten.»

Natalie starrte Musa an. Er war wie der grosse Bruder, den sie nie hatte, obwohl sie äusserlich nicht unterschiedlicher hätten sein können. Musa war dunkel wie Milchschokolade, mit kurz rasierten schwarzen Haaren, braunen Augen und strahlend schöner Haut. Er trug ein schlichtes T-Shirt und weisse Shorts. Musa strotzte vor Energie, Natalie hingegen war ein Hauch bleiches Elend. Dünn und schwächlich, mit verkrüppelten Händen und Füssen, unzähligen Wunden auf ihrer Haut, die so zerbrechlich war wie die Flügel eines Schmetterlings. Man nannte sie Schmetterlingskinder, die unglücklichen Seelen, die mit dem Gendefekt EB, dem Epidermolysis bullosa, geboren wurden. Die Haut haftete nicht am Körper an und platzte bereits bei einem kleinen Stoss auf, was schmerzende, brandnarbenähnliche Wunden hinterliess. Natalie war erst vierundzwanzig, doch ihre Speiseröhre war bereits so sehr in Mitleidenschaft gezogen, dass sich eine teilweise Ernährung durch die Magensonde nicht mehr vermeiden liess.

«Amigos», rief eine Stimme durch die Lautsprecher.

«Das ist Nacho!» Natalie hörte, wie sich Jimmy mit ihm unterhielt. Geschafft. Die Frauen und José waren im Wagen. Nacho fuhr in diesem Moment auf die Autobahn. Natalie fiel Musa in die Arme und konnte nur schwer die Tränen zurückhalten.

«Kipekapeka bringt dich eines Tages um», flüsterte Musa in ihr Ohr.

Kipekapeka war die internationale Organisation, die Natalie vor einigen Jahren gegründet hatte und fast ausschliesslich im Darknet operierte. Freunde auf der ganzen Welt hatten sich angeschlossen. Junge, oft vermögende Frauen und Männer, die etwas bewirken wollten und Verbrechen an den Schwächsten auf dieser Welt nicht tolerierten. Die meisten Aktionen waren illegal und gefährlich. Sich mit Drogenkartellen, Menschenhändlern und korrupten Regierungen anzulegen, war gefährlich. Da Natalie körperlich nicht imstande war, an solchen Operationen teilzunehmen, zog sie im Hintergrund die Fäden, organisierte Befreiungsaktionen wie diese in Mexiko und versuchte, so vielen Menschen wie möglich zu helfen. «Ich bin gern bereit, für meine Überzeugung den Tod zu finden. Hilflos an meiner Krankheit zu sterben, ertrage ich nicht.»

«Tot hilfst du ihnen nicht. Deshalb gehen wir hoch und kümmern uns um deine malträtierte Hülle. Danach braucht dein Kopf Schlaf, um sich zu erholen.»

Natalie gab nach, loggte sich aus dem Darknet aus und stand mit Musas Hilfe vom Stuhl auf. Sie war zu lange gesessen.

«Du blutest», stellte Musa fest. «Die Wunde an deinem Bein ist aufgerissen.» Ein roter Fleck zeichnete sich an der Seite ihres weissen Baumwollnachthemdes ab.

«Ein paar Blutstropfen für sechs Menschenleben – ein guter Deal.»

«Ja, und dein Paps wird den Sklaven verprügeln lassen, weil er das zugelassen hat.»

«Genau deshalb habe ich dich in unsere Villa geholt, vergiss das nie, Sklave!»

Musa starrte sie mit einem Pokerface an. «Ich kann Verbände sorgfältig und nahezu schmerzfrei wechseln oder sie eiskalt runterrupfen. Was wäre Mylady lieber?»

Natalie hauchte Musa einen Kuss auf die Wange. «Hab dich lieb.»

Musa grinste. «Schon klar.»

Sie gingen zusammen hoch in die Küche. Alexandra bereitete das Frühstück vor. Es duftete herrlich nach frisch gebackenem Brot. Natalie schluckte schwer. Ihr Hals schmerzte an diesem Morgen zu sehr, als dass sie einen Bissen weichen Brotes hätte essen können, dennoch war für sie ein Platz am Tisch gedeckt.

«Guten Morgen.» Alexandra strahlte, die langen blonden Haare hatte sie zu einem Zopf geflochten. Sie war die Haushälterin und gute Seele des Hauses.

«Morgen. Schläft Paps?», fragte Natalie.

«Ja. Und wir lassen Harri schlafen. Es ist schliesslich sein erster freier Morgen, seit ich ihn kenne. Da Rebecca und die kleine Imani dieses Wochenende bei Rebeccas Eltern verbringen, gibt es keinen Grund, ihn zu wecken.»

Natalie vermisste ihre Stiefmutter bereits. Sie und Harri hatten im März geheiratet. Seit zwei Monaten war Imani nicht mehr nur ihr Pflegekind, sondern offiziell adoptiert und damit Natalies kleine Schwester. Sie war letzten Monat ein Jahr alt geworden, marschierte aber bereits selbstbewusst herum. Sie war eben eine echte Kämpferin, wie es ihre Mutter gewesen war. Wehmütig dachte Natalie an das Drama mit Emeline zurück. Sie hätte nicht sterben müssen …

Mit diesen Gedanken kamen die Erinnerungen an Tom wieder hoch, die sie meistens erfolgreich unterdrückte. Es war nicht so, dass sie sich aus den Augen verloren hätten. Tom hatte vorübergehend einen Job als Personenschützer für einen deutschen Politiker angenommen, bis er vor ein paar Monaten zurückkam, sich selbstständig machte und angehende Bodyguards ausbildete. Er meldete sich nur sporadisch bei ihr. War verständlich. Ich bin ein Freak, dachte sie und schaute an sich hinunter. «Na los, gehen wir uns schick machen für das Frühstück mit Paps», sagte sie zu Musa.

«Ich habe dir Khangatücher aufs Bett gelegt», sagte Alexandra, «aufs unbenutzte Bett.» Der Tadel war nicht zu überhören.

«Ich habe bereits Musa und Rebecca im Haus, die mich bevormunden, fang du bitte nicht auch damit an.»

Alexandra trat vor sie. «Khangas in Lila und Blau. Die Farben passen zu deinen Haaren. Ich mag deine neue Frisur.»

Natalie war gestern beim Coiffeur gewesen. Ihr erster Coiffeurbesuch seit zwei Jahren. Sie kämpfte in den letzten Jahren gegen Haarausfall, und zudem wollte eine üble Wunde auf dem Kopf nicht abheilen. Deshalb hatte sie die Haare millimeterkurz abrasiert und stattdessen bunte Kopftücher getragen, hochdrapiert, wie die Afrikanerinnen sie trugen. Während der letzten zwölf Monate hatte sie ihre hellblonden Haare wachsen lassen, und seit gestern zierte eine Kurzhaarfrisur ihren Kopf, mit seitlichem Pony und wuscheligem Hinterkopf.

«Wie lange habt ihr?», fragte Alexandra.

«Mindestens drei Stunden», antwortete Musa.

Natalie zeigte mit ihrer einbandagierten Hand auf ihren Pfleger. «Ich gebe dir eine Stunde, dann hol ich Paps aus den Federn, und wir frühstücken gemeinsam. Diesen Tag wollen wir feiern, da begnüge ich mich nicht mit Brei aus der Konserve. Alexandra, kochst du mir Dreiminuteneier und Porridge mit Bananen?»

Musa brauchte zwei Stunden, um sie zu duschen, all die Wunden zu versorgen und Verbände zu wechseln. Danach half er Natalie, sich die Khangatücher umzulegen. Die leichten, drapierten Stoffe waren im Sommer am bequemsten zu tragen. Welche Ironie, sie trug die Kleider von Afrikanerinnen, sah aber aus wie ein bleicher Eskimo. Sich in die Sonne zu legen, um Farbe anzunehmen, lag bei ihrer Krankheit nicht drin.

«Der Knöchel heilt gut», sagte Musa und stülpte ihr eine weiche Wollsocke über den einbandagierten Fuss.

Natalie seufzte. Ende August war nicht die Jahreszeit für Wollsocken. Sie kochte innerlich, obwohl der Beautysalon, wie sie ihr Krankenzimmer nannte, dank Klimaanlage gekühlt war.

Musa räumte das Verbandsmaterial zusammen, und Natalie humpelte hinunter in die Küche. Harri sass mit Alexandra am Tisch.

«Hey, mein Paps ist ein freier Mann!», begrüsste Natalie ihren Vater und schlang die Arme von hinten um ihn. «Na, wie fühlt sich ein Leben an, wenn man sein eigener Chef ist? Liegst du jetzt jeden Morgen bis neun Uhr im Bett?»

«Daran könnte ich mich gewöhnen», sagte Harri und rückte den Stuhl neben sich für Natalie zurecht. «Du hingegen hast die Nacht durchgearbeitet? Wem hast du diesmal geholfen und wo?»

«Mexiko. Drei Frauen und zwei Mädchen, welche als Sexsklavinnen hätten verkauft werden sollen. José hat sie rausgeholt.»

«Wonder Woman wäre neidisch auf dich», sagte Harri.

Natalie konnte den traurigen Unterton in seiner Stimme nicht überhören. «Und? Schon nervös wegen der Eröffnungsfeier eurer Papilio Labs GmbH nächste Woche?»

Ein Piepsen der Sicherheitsanlage kam Harris Antwort zuvor.

«Nanu», sagte Alexandra und blickte auf den Überwachungsmonitor in der Ecke. «Zwei Wagen stehen vor dem Einfahrtstor.»

«Der hintere ist ein Polizeiwagen», bemerkte Natalie.

Ihr Vater schaute sie an. «Was hast du letzte Nacht angestellt?»

«Ich war im Darknet unterwegs, da können mich die Bullen nicht aufspüren. Ausserdem haben wir in Mexiko operiert. Ich habe kein Schweizer Gesetz gebrochen.»

«Das gefällt mir nicht», sagte Harri, stand auf und drückte an der Schalttafel den Knopf für das elektrisch gesteuerte Aussentor. Über den Monitor konnten sie beobachten, wie die schmiedeeisernen Torflügel sich öffneten und die Wagen auf den Vorplatz der Villa fuhren. Aus dem Polizeiwagen stiegen zwei Beamte, aus der dunklen Limousine ein Mann und eine Frau in ziviler Kleidung. Die Frau trug eine weisse Bluse, schwarze Hosen und eine dunkle Pilotensonnenbrille. Ihre schwarzen Haare waren zu einem kinnlangen Bob geschnitten.

«Was will Sara Jung hier bei uns?» Natalie stand auf. «Ich nehme unsere liebe Kripochefin in Empfang.» Sie ging zur Tür, mit einem mulmigen Gefühl im Magen. Sara Jungs Besuch konnte nichts Gutes bedeuten. War etwas mit Tom?

Natalie öffnete die Tür, bevor Saras langhaariger Handlanger klingeln konnte. Wie hiess der italienische Macho noch gleich?

Sara hielt Natalie ihren Polizeiausweis unter die Nase. «Kriminalpolizei», sagte sie.

«Ist ja nichts Neues», entgegnete Natalie kühl. «Was wollen Sie? Wohl kaum einen frisch gebrühten Kaffee.»

«Ist Harri Krieger im Haus?»

Arrogante Schnepfe, dachte Natalie. Nach allem, was sie letztes Jahr zusammen durchgemacht hatten, könnte sie ruhig freundlicher sein. Doch das war im Augenblick Nebensache. «Was wollen Sie von Paps?» Natalie entging nicht, dass die uniformierten Männer hinter ihr nervös und in Alarmbereitschaft waren.

Harri trat neben sie. «Herrschaften, guten Morgen. Was ist passiert?»

Sara nickte einem der uniformierten Männer zu und wandte sich an Natalies Vater. «Harri Krieger, Sie werden des dringenden Tatverdachts wegen Einbruchs und Totschlages vorübergehend festgenommen. Bitte folgen Sie uns auf die Polizeizentrale.»

Der Uniformierte zog Handschellen aus seiner Tasche und packte Harri am Unterarm. Wenig zimperlich drehte er ihm die Hände auf den Rücken und liess die Handschellen zuschnappen. Er trug ihm monoton seine Rechte vor.

Natalie war sprachlos.

Alexandra und Musa eilten zu ihnen und sprachen hektisch auf die Polizisten ein. Natalie stand wie erstarrt neben der Tür und beobachtete, wie die Bullen Harri zum Polizeiwagen führten. «Stopp!», rief sie und rannte ihrem Vater hinterher. Die harten Kieselsteine auf dem Vorplatz drückten schmerzhaft durch den Verband und die Socken in ihre Fusssohlen. «Was soll das? Lassen Sie sofort meinen Paps frei!»

Sara trat vor sie. «Wir haben erschlagende Beweise, dass er Mitglied einer vierköpfigen Bande ist, die letzte Nacht in ein Labor eingebrochen ist und dabei den Nachtwächter tötete.»

«Blödsinn! Paps ist kein Einbrecher und Mörder schon gar nicht. Sie haben den Falschen.»

«Wir bleiben alle erst einmal ruhig», sagte Sara. «Wir sprechen mit Ihrem Vater, warten die Ergebnisse der Spurensicherung ab und werden sehen, was sich daraus ergibt.»

Zwei weitere Polizeiwagen fuhren auf den Vorplatz.

«Ihr spinnt ja!» Natalie fühlte ihr Herz rasen.

«Wir haben einen Durchsuchungsbefehl für die Villa. Lassen Sie meine Leute ihre Arbeit tun und warten Sie in der Küche. Mein Kollege, Herr Rizzo, wird gleich mit Ihnen sprechen wollen.»

«Welches?», fragte Natalie und starrte Sara böse an.

«Welches was?»

«In welches Labor wurde eingebrochen?»

«Rivoli Biotech Analytics.»

«Dort hatte Paps gestern seinen letzten Arbeitstag. Weshalb sollte er das tun?»

«Diese Fragen zu beantworten, ist mein Job.»

«Bullshit! Ihnen macht es Spass, auf Unschuldigen herumzutrampeln. Der Nachtwächter, wer …?»

«Pedro Ramirez. Kannten Sie ihn?»

«Mein Gott, Pedro? Nein, ich kannte ihn nicht persönlich. Paps hat von ihm erzählt. Von ihm und Coco, seinem Hund. Die beiden waren unzertrennlich. Letzten Monat, bei Paps’ Abschiedsfeier, war er auch hier, aber ich habe nicht mit ihm gesprochen.»

«Die Täter haben Coco mitgenommen. Der Hund ist nicht zufällig hier?»

«Nein. Für wie krank halten Sie uns? Paps ist unschuldig, da wette ich mein Leben drauf.»

«Tun Sie das nicht. Auf Wiedersehen, Frau Krieger. Wir werden uns später sprechen.»

Die Zicke stieg in ihre Limousine und folgte dem Polizeiwagen, der Harri auf die Zentrale fuhr.

Eine geschlagene Stunde liess Rizzo sie in der Küche ausharren, ehe er sich zu ihnen setzte. Wenigstens hatte Natalie inzwischen Harris Anwalt erreicht, der versprach, gleich zur Polizeizentrale zu fahren. Rebecca zu informieren, brachte sie bisher nicht übers Herz.

Alexandra kaute nervös an ihren Fingernägeln, während Musa den Ermittler finster anstarrte. Rizzo zog einen kleinen Notizblock aus der Hosentasche.

«Kaffee?», fragte Alexandra.

«Ähm, ja, gern. Einen Espresso, wenn das geht.»

«Das geht.» Alexandra schien froh, etwas zu tun zu haben. Rizzo wollte seine erste Frage stellen, als die laut ratternde Kaffeemaschine dazwischenkam. Er hielt mit der Frage zurück, bis die Bohnen gemahlen waren.

«Welche Beweise haben Sie gegen meinen Vater?» Natalie kam ihm zuvor.

«Über laufende Ermittlungen dürfen wir keine Auskunft geben. Wir suchen nach der Wahrheit. Sollte Ihr Vater unschuldig sein, wird sich das aufklären.»

Alexandra servierte Rizzo den Espresso. Ihre Hand zitterte leicht, sodass die Tasse auf dem Unterteller klapperte und etwas Kaffee überschwappte. «Oh, Ent… Entschuldigung.»

«Kein Problem», sagte Rizzo und schenkte Alexandra ein freundliches Lächeln.

«Wann soll denn Paps bei Rivoli eingebrochen sein?», fragte Natalie.

«Letzte Nacht um halb zwei.»

«Aber Harri war hier», sagte Alexandra. «Wir haben gestern gemeinsam einen Film geschaut.»

«Bis wann?»

«Bis kurz nach elf, dann ging ich schlafen.»

«Und Sie?» Rizzo schaute Musa an.

«Ich wohne drüben im Pförtnerhaus. Bis um neun war ich in der Villa, danach ging ich mit Freunden aus und kam gegen zwei Uhr zurück.»

«Harri Krieger haben Sie nicht gesehen?»

«Nein. Es brannte kein Licht mehr in der Villa.»

«Was ist mit den Wagen? Hat einer gefehlt?»

«Keine Ahnung. Mich hat ein Freund abgeholt und heimgebracht. Ich habe nicht in der Garage nachgesehen.»

Rizzo notierte die Informationen. «Was ist mit Ihnen, Frau Krieger?»

«Ich habe gearbeitet.» Die Polizei kannte ihr Geheimzimmer, und sie wussten, was Natalie mit Arbeit meinte.

«Woran genau haben Sie gearbeitet?», fragte Rizzo.

«Ich habe über einen Menschenhändlerring in Mexiko recherchiert. Reicht das?»

«Hm, Sie waren nicht im World Wide Web unterwegs, damit wir Ihre Aussage prüfen können?»

«Nein, ich war tiefer drin, in der dunklen Welt, wo Sie mich niemals aufspüren können, und das wissen Sie.»

«Okay, belassen wir das für den Moment.» Rizzo rührte in dem schwarzen Espresso und überlegte einen Augenblick. «Frau Rebecca Krieger ist nicht zu Hause?»

«Sie ist bei ihren Eltern in Davos», antwortete Alexandra.

Rizzo brachte ein kurzes Lachen auf seine Lippen. «Wie geht es der kleinen Imani?»

Alexandra strahlte. «Oh, der Schatz rennt bereits herum, etwas wackelig zwar, aber sie hält uns auf Trab. Ich kann mir dieses Haus ohne Imani überhaupt nicht mehr vorstellen.»

«Ja, Kinder sind toll», sagte Rizzo und bemerkte zu spät, dass er vom Thema abwich. «Zurück zu unserem Fall. Wenn wir richtig informiert sind, hatte Herr Krieger gestern seinen letzten Arbeitstag bei Rivoli, korrekt?»

«Ja.»

«Wie lange war er dort angestellt?»

«Fast zwanzig Jahre.»

«Worin genau bestand seine Arbeit?»

«Er war Abteilungsleiter der Zellkulturtechnik, hat im Auftrag von diversen Firmen an neuen Verfahren geforscht. Mehr Details kenne ich nicht. Paps durfte nicht über seine Arbeit sprechen, verstehen Sie? Schweigepflicht. In der Pharmabranche geht es um viel Geld, und die Entwicklung neuer Medikamente unterliegt der höchsten Geheimstufe.»

«Er hat nicht», Rizzo räusperte sich verlegen, «ich meine, er hat …»

«… nach einer Heilung für EB geforscht?», ergänzte Natalie den Satz. «Logo. Ausserhalb seiner Arbeitszeit durfte er das Labor für die private Forschung nutzen – unter gewissen Auflagen natürlich. Paps hat nie aufgegeben. Als ich fünf war, hat er den Job bei Rivoli angenommen. Er hat wegen mir auf sein eigenes Labor verzichtet. Was letzten Sommer passiert ist, hat uns allen die Augen geöffnet. Paps begriff endlich, dass er sich so darauf versteift hat, eine Heilung für meine Krankheit zu finden, dass er selbst kaum gelebt hat. Deshalb hat er zusammen mit Rebecca endlich seine Papilio Labs GmbH gegründet. Nächste Woche ist Eröffnung.» Natalie zeigte mit dem Finger auf Rizzo. «Paps wird dort sein. Ich lasse nicht zu, dass Sie ihn unschuldig im Kerker schmoren lassen. Ihre Kollegen werden in der Villa nichts finden.»

«Dann ist ja alles gut», sagte Rizzo und nickte in Richtung der Überwachungsbildschirme. «Wir brauchen die Aufzeichnungen von letzter Nacht.»

«Klar», sagte Musa. «Das Equipment steht unten im Keller. Ich hole Ihnen die Speicherkarte.»

Rizzo rief einen Kollegen der Spurensicherung in die Küche. «Begleiten Sie Herrn Achebe in den Keller und stellen Sie die Daten sicher.» Musa wollte gehen, als Rizzo ihn zurückrief. «Ich brauche die Adresse von Ihrem Freund, mit dem Sie gestern aus waren. Wir müssen Ihr Alibi überprüfen.»

«Das ist echt der Burner!», rief Natalie aus. «Sie verdächtigen Musa?»

«Ich erledige nur meine Arbeit.»

Natalie lehnte sich über den Tisch und starrte Rizzo böse an.

«Noch einen Espresso?», ging Alexandra dazwischen, um die Krise zu entschärfen.

Rizzo winkte ab. «Frau Krieger, darf ich Sie bitten, in den nächsten Tagen erreichbar zu sein und das Land nicht ohne unsere Absprache zu verlassen?»

«Denken Sie, ich fliege morgen in die Bahamas, um am Strand Cocktails zu schlürfen? Ich werde beweisen, dass Paps unschuldig ist.»

Natalie sah, wie Rizzo die Augen verdrehte. Sara hätte ihr die Leviten gelesen, Rizzo zog sich lieber zurück und verliess die Küche. Natalie beobachtete, wie er sich im Entrée mit einem Kollegen der Spurensicherung unterhielt.

Alexandra strich Natalie liebevoll über das kurze Haar. «Es wird sich alles klären. Das ist ein blödes Missverständnis.»

«Was tue ich jetzt, Alex?»

«Ruhe bewahren und abwarten. Schlimmer kann es nicht mehr werden.»

«Wie kommen die Bullen darauf, dass Paps in der Sache mit drinhängt? Der arme Pedro. Paps hat von ihm erzählt. Er war einer der Nachtwächter bei Rivoli und auch auf der Abschiedsparty hier. Stell dir vor, die Täter haben seinen Hund entführt.»

«Den Hund? Wieso das denn?»

Rizzo kam zurück in die Küche. Er legte eine Plastiktüte auf den Tisch. Darin befand sich eine handgrosse, offene Styroporbox mit sechs Ampullen. Sie waren mit Gefahrensymbolen versehen. «Weshalb hält Ihr Vater diese Ampullen zu Hause in seinem Arbeitszimmer versteckt?»

«Wo haben Sie die gefunden?» Natalie fühlte, wie ihr das Blut in den Kopf schoss. Paps nahm nie irgendwelche Gefahrenstoffe vom Labor nach Hause.

«Hinter seinen Arbeitsbüchern im Regal.»

Natalies Hände begannen zu zittern, als sie die Bezeichnungen der Ampullen las:

Humanes Coronavirus 229E HCoV-229E

Humanes Herpesvirus 6 HHV-6

Influenza-A-Virus A/canine/Florida/242/2003 (H3N8)

Lyssavirus Genotyp 1 RABV SAD B19

Humanes Papillomavirus 2 HPV-2

Parapoxvirus bovis 2 PCPV

Das war der reine Alptraum, auch wenn Natalie nur die Hälfte der Bezeichnungen verstand. «Das ergibt keinen Sinn. Paps hat nicht mit Viren geforscht. Er hat sich mit Zellen beschäftigt, deren Wachstum und Zerstörung. Keine Viren. Sein Forschungsgebiet bei Rivoli waren Erbkrankheiten, nicht Seuchen.»

Rizzo stützte sich auf dem Tisch ab und beugte sich vor. «Mein Mann vom KTD hat mich gewarnt. Das hier ist nicht harmlos. Viren der Risikogruppe zwei, die in ein Labor mit erhöhter Sicherheitsstufe gehören. In ein BSL-2-Labor. Rivoli Biotech Analytics ist ein BSL-2-Labor. Die Gefrierschränke wurden aufgebrochen. Wir gehen stark davon aus, dass diese Ampullen fehlen werden. Ich befürchte, Ihr Vater wird für die nächsten Tage unser Gast bleiben. Meine Männer haben hier einige Stunden zu tun. Ich hoffe, Sie kooperieren mit uns.» Rizzo legte seine Karte auf den Tisch. «Wir werden uns bei Ihnen melden. Sollte Ihnen noch etwas einfallen, rufen Sie mich an. Pedro Ramirez war ein guter Mann, erst zweiundvierzig. Diesen Tod hat er nicht verdient.»

Natalies Körper schien zu brennen. Sie wusste nicht, ob der physische oder psychische Schmerz schlimmer war. Sie stand vom Tisch auf. «Ich bin auf meinem Zimmer.» Sie nickte Rizzo zu und verliess die Küche.

Ein halbes Dutzend Männer vom KTD stellten die Villa bereits auf den Kopf, rückten Möbel zur Seite, schauten hinter jedes Regal und in jede Ecke, durchstöberten Schubladen und Bücherregale. Selbst die Pflanzentöpfe im Entrée blieben nicht verschont.

Natalie humpelte die Treppe hoch und versuchte, das Chaos zu ignorieren. Das war ein gemeiner Angriff auf ihre Privatsphäre. Es kam schlimmer, als sie ihr Zimmer betrat. Eine Polizistin ging Superman ans Eingemachte. «Hey, er mag es nicht, wenn man ihm zwischen die Beine fasst», rief Natalie und liess all ihren Frust in der Stimme mitschwingen.

Die Frau drehte sich um. Sie grinste. «Sorry, konnte nicht widerstehen. Die sind toll.» Sie zeigte auf Natalies vier lebensgrosse Superhelden, mit denen sie das Zimmer teilte: Superman, Batman, Iron Man und Wonder Woman. «Woher haben Sie die?»

«Fragen Sie nicht.»

«Und der da?» Die Frau zeigte auf die afrikanische Skulptur.

«Das ist ein Grebo.»

«Sehr speziell, der Kleine. Sorry, dass ich hier in Ihren persönlichen Sachen herumstöbere. Anweisung der Chefin.»

«Sie tun ja nur Ihren Job. Was gefunden? Eine Ampulle Zikavirus?»

«Hä?»

«Vergessen Sie’s. Dauert es noch lange?»

«Nein. Bin fertig. Alles sauber, nichts gefunden.»

«Gut. Ich will ins Bett und hoffe, dass der Alptraum vorbei ist, wenn ich aufwache.»

Endlich allein in ihrem Zimmer, setzte sie sich auf die Bettkante. Ihr war nach Weinen zumute, aber Tränen würden der empfindlichen Bindehaut nicht guttun. Sie wollte morgen nicht mit verkrusteten, verklebten Augen aufwachen und hielt die Tränen zurück. Ihr Handy lag auf dem Beistelltisch neben dem Bett. Sie griff danach, öffnete das Telefonbuch und scrollte zum Buchstaben R. Sie musste Rebecca informieren. Natalie zögerte, scrollte weiter nach unten bis zum T.

Sie brauchte Tom an ihrer Seite. Dringend.

Natalie drückte auf Anruf.

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