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SCHULD

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Wie pflegte Jesus zu predigen: «Tut Busse, denn das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!» Schwester Agatha wischte sich Schweisstropfen von der Stirn. Sie konnte sich nicht erinnern, dass es im Frühling in der Schweiz so heiss sein konnte. Weit über zwanzig Jahre lag ihre Flucht zurück. Die Flucht vor ihrem Gewissen. Die Flucht vor einer Tat, die sie sich nie vergeben hatte. Ihre gewählte Verbannung nach Äthiopien war eine selbst auferlegte Busse gewesen. Aber über zwanzig Jahre Aufopferung konnten nicht wiedergutmachen, was sie verbrochen hatte. Die Zeit war gekommen, sich ihrer Sünde zu stellen und diese letzte Tat zu vollbringen, bevor sie reumütig vor Gott trat, was bald eintreffen würde. Mit letzter Kraft hatte sie die Rückreise angetreten. Die Rückreise in ihre Heimat, nach Hagendorn in die Abtei Frauenthal. Hier hatte sie zehn Jahre ihres Lebens verbracht. Hier fand sie als Novizin zu Gott, in den Mauern des ältesten Zisterzienserklosters der Schweiz. Seit dem 13. Jahrhundert lebten die Schwestern nach den Regeln des heiligen Benedikt. Regeln, die ihr Leben stets erfüllt hatten, Trost spendeten und Hoffnung gaben.

Wie sauber und ordentlich das Zimmer war. Die frische Bettwäsche roch nach Lavendel. Ein Strauss Feldblumen stand auf dem Tisch am Fenster. Schwester Agatha konnte sich an dem Grün draussen vor dem Fenster nicht sattsehen, auch wenn sie es nur verschwommen wahrnahm. Wie hatte sie blühende Wiesen und schattenspendende Wälder in Äthiopien vermisst.

Ein heftiger Husten schüttelte ihren ausgemergelten Körper durch, der kaum mehr ein Schatten ihrer selbst war. Zwei Jahrzehnte Sand und Salz hatten ihre Lungen verbrannt. Das Leben am Rande der Danakil-Senke, im Norden Äthiopiens, erinnerte sie täglich an die Hölle, die auf sie wartete. Es war kein Zufall, dass sich Schwester Agatha den heissesten Ort auf Erden ausgesucht hatte, um Busse zu tun. Die Salzwüste war gnadenlos. Brodelnde Vulkane und blubbernde Schwefelseen machten das Leben schier unmöglich – dennoch begaben sich die einheimischen Afar täglich auf die Suche nach dem «weissen Gold», kratzten die Salzplatten vom Boden und verkauften sie auf dem Markt in Mek’ele. Oft beobachtete Schwester Agatha die kleinen Kamelkarawanen, die aus der Wüste kamen. Sie kämpfte auf einsamem Posten um die Seelen der Einheimischen. Die Menschen, die sie bekehren konnte, zählte sie an einer Hand ab. Der Arm des äthiopisch-katholischen Erzbistums in Addis Abeba reichte nicht bis Mek’ele. Aber Schwester Agatha traf auch auf viel Liebe, Trost und Ruhe. Die Einheimischen respektierten sie. Die Kinder kamen, um Lesen und Schreiben zu lernen, die Frauen suchten Rat in familiären Angelegenheiten und liessen sie rufen, wenn es Probleme bei der Niederkunft gab. Die Menschen hatten sie mit dem Wichtigsten versorgt, was sie zum Leben brauchte.

Äthiopien schien unendlich weit weg, als wäre ihr Leben dort nur ein Traum gewesen. Jetzt war Schwester Agatha zurück, um sich ihrer schlimmsten Sünde zu stellen. Die Kirchenuhr schlug Viertel vor fünf. Die Schwestern würden sich versammeln, um in der Kapelle die Vesper zu feiern. Schwester Agatha war es nicht mehr möglich, aus dem Bett zu steigen. Ihre verbleibende Zeit auf Erden raste dem Ende zu, sie fühlte es. Er wollte heute kommen, hatte es versprochen. Schwester Agatha wollte nicht sterben, ohne um Vergebung zu bitten. Er musste ihre Beichte anhören, die Wahrheit erfahren, das war sie ihm schuldig.

Sanft klopfte es an die Tür. Schwester Magdalena trat ein, den Kopf gesenkt. «Er ist hier», sagte sie, liess den Mann eintreten, zog sich zurück und schloss die Tür.

Schwester Agatha blinzelte. Auf einem Auge war sie blind, und das andere hüllte die Welt in einen Schleier. Sie versuchte, sich aufzusetzen, hustete, suchte die Bettdecke nach der Brille ab, die hier liegen musste. Schwester Agatha hörte seine Schritte, hörte den Stuhl, den er heranzog. Er war gross, das erkannte sie an den Umrissen. Nein, er war kein gebrochener, älterer Mann … Etwas stimmte hier nicht. Ein kalter Schauer lief über ihren Rücken hinunter. Sie hörte ihre Stimme zittern, als sie seinen Namen aussprach.

«Ja», sagte er, «der bin ich.»

Endlich fand sie ihre Brille und setzte sie auf. Spielte das Schicksal ihr einen Streich? Hatte der Teufel seine Finger im Spiel? War das eine Prüfung Gottes? Dies konnte unmöglich der Mann sein, dem sie ihr Geheimnis beichten wollte. Ihr altersschwaches Herz raste. Sie konnte der Hölle nicht entkommen, die Erlösung blieb ihr verwehrt. Gott war nicht bereit, ihr zu vergeben.

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