Читать книгу Einführung in die Literatur der Romantik - Monika Schmitz-Emans - Страница 16

III. Kontexte 1. Ein Zeitalter der Umwälzungen

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Drei „Grundtendenzen“

Friedrich Schlegel hat in einem seiner Fragmente von drei Grundtendenzen seines Zeitalters gesprochen: dies seien die Französische Revolution, Fichtes Wissenschaftslehre und Goethes Wilhelm Meister (FS II, 198). Die Gemeinsamkeit der drei scheinbar völlig inkompatiblen Tendenzen lässt sich über den Begriff der Kontingenz erläutern. Kontingent bedeutet: nicht-notwendig, unbegründet – und das heißt, am Maßstab einer absoluten Vernunft bemessen, beliebig, aber daher eben auch wandelbar und gestaltbar. Das 18. Jahrhundert weiß um die Geschichtlichkeit menschlicher Institutionen sowie um ihre unterschiedlichen nationalen und kulturellen Prägungen. Geschichte erscheint als ein Prozess ständiger Neu- und Umordnung; und dringlicher denn je wird die Frage nach ihrem Sinn, nach Höherentwicklung oder Niedergang, nach den positiven oder negativen Folgen der Entfernung vom gedachten Naturzustand. Doch nicht nur in der Dimension von Zeit und Geschichte vertieft sich das Bewusstsein davon, dass es keine absolute Ordnungen gebe. Die Philosophie des deutschen Idealismus weist dem erfahrenden Subjekt eine tragende Funktion bei der Konstitution der Erfahrungswelt selbst zu: Die Ordnung der Erfahrungswelt bildet die Strukturen des subjektiven Erkenntnisvermögens ab – so die maßgebliche Hypothese Kants in der Kritik der reinen Vernunft (1781/1787). Fichtes Idealismus geht über Kant insofern noch einen Schritt hinaus, als er die Welt zur Setzung des Ichs erklärt.

Geschichtlichkeit der Ordnungen

Die Französische Revolution (1789) beweist die radikale Wandelbarkeit sozialer, politischer und ethischer Ordnungen. Auf ideologischer wie auf politisch- wirtschaftlicher Ebene destabilisiert sie die europäische Welt, verkehrt gesellschaftliche Machtverhältnisse ebenso wie die mit ihnen verbundenen Lebensordnungen. Die Stellung des Einzelnen in der Welt erscheint im ausgehenden 18. Jahrhundert nicht mehr als vorherbestimmt. Sich eine solche Stellung zu erwerben, sich mit der Welt zu arrangieren, ist dem Einzel-Ich aufgegeben – dieser Gedanke macht auch und gerade in der Literaturgeschichte Epoche. Die Inkommensurabilität des Einzelschicksals bespiegelt sich vor allem im Roman, und hier wiederum besonders im Bildungsroman. Wilhelm Meister, Goethes Protagonist, erklärt es zu seinem vorrangigen Ziel, sich selbst in all seinen Anlagen und Fähigkeiten auszubilden. Er strebt keine spezifische, ihm vorherbestimmte oder ihm durch göttlichen Ratschluss zugewiesene Stellung in der Gesellschaft an, sondern erprobt wechselnde Rollen, wobei er gleichwohl nicht alleiniger Herr seines Schicksals ist. Die geheimnisvolle Gesellschaft vom Turm, eine Art säkularer Vorsehungsinstanz, mischt sich ein, aber auch sie zieht die Fäden nicht allein. Meisters Schicksal als Produkt einer ganzen Reihe einander ergänzender oder auch widerstrebender Kräfte ist von exemplarischer Kontingenz.

Fremdheit der Welt

Bilden Erfahrung der Destabilisierung den Hintergrund, vor dem die frühromantische Literatur entsteht, so kommt es in den folgenden Jahrzehnten zu weiteren Erschütterungen, Irritationen, Befremdungen. Die Naturwissenschaften unterliegen einem Paradigmenwechsel; die Anthropologie modelliert den Menschen neu und bewegt sich, in Verbindung mit einem zunehmend dynamischeren Naturbegriff, auf die Idee zu, selbst die Menschennatur sei etwas Geschichtliches. Charles Darwins Evolutionstheorie, die wie kaum eine These zuvor das Weltbild erschüttert, da sie die Grenze zwischen menschlicher und außermenschlicher Natur nicht mehr als absolut begreift, hat ihre Vorläufer im frühen 19. Jahrhundert. Die zweite große narzisstische Kränkung des vermeintlich im Zentrum der Welt stehenden selbstbewussten menschlichen Subjekts, die psychoanalytische Theorie von der Macht des Unbewussten und der inneren Komplexität der Psyche, bereitet sich ebenfalls in der Romantik vor. Komplementär zur naturwissenschaftlich-technischen und geographischen Erschließung der Welt im Laufe des 19. Jahrhunderts verrätselt sich die Wirklichkeit und wird in ihrer Komplexität, ihrer widersprüchlichen Auslegbarkeit undurchschaubar. Die Moderne bricht an: Ordnungen gibt es nur noch im Plural, und sie sind als etwas grundsätzlich Wandelbares und letztlich Grundloses zu denken. Friedrich Nietzsche, der mit einer radikalisierenden Wendung selbst die Begriffe der Wissenschaften und des Alltagssprachgebrauchs zu grundlosen Konstrukten erklärt, mit welchen der Mensch im Chaos der Sensationen und Erfahrungen künstliche Einheiten zu schaffen suche und an die er irrigerweise zu glauben pflege, ist ein Erbe romantischer Ansätze. Nicht nur als Sprachtheoretiker argumentiert er in den Spuren etwa Jean Pauls und Wilhelm von Humboldts, obwohl er mit der These einer künstlichen und trügerisch-simplifizierenden Sprachwelt und der aus ihr abgeleiteten illusionären Vorstellungswelt gänzlich andere Akzente setzt als diese; auch der Gedanke einer ausschließlich ästhetisch zu leistenden Rechtfertigung des ansonsten grundlosen menschlichen Lebens geht auf romantische Impulse zurück. Je dringlicher das Bedürfnis nach Orientierung, desto größer das Maß an Desorientierung. Gerade die Literatur des 19. Jahrhunderts – die der Romantik einbegriffen – erzählt von der Infragestellen dessen, was zuvor gewiss erschien: Dazu gehören die regulative Idee einer kausalen Ordnung der Dinge und die Vorstellung einer linear verlaufenden Zeit. Dazu gehört der Glaube an Identitäten: an die der menschlichen Gattung, die des Individuums, die der Seele. Dazu gehört der Glaube an die Möglichkeit von Selbsterkenntnis und reflexiver Selbstkontrolle und Triebbeherrschung. Und dazu gehört auch das Vertrauen in die Möglichkeit sprachlicher Darstellung von Erfahrung und Erfahrungswirklichkeit sowie das in die prinzipielle Verständlichkeit von Sprache und Texten. Als Experiment mit doppelbödigen Darstellungen, mit Ironien, Paradoxien und fragmentarischen Formen, mit einer nicht mehr einfach zu entziffernden Sprache und rätselhaften Bildern ist die romantische Literatur das ästhetische Pendant einer modernen Einstellung zur Erfahrungswelt, und bezogen auf Tendenzen zu begrifflicher und moralischer Normierung verhält sie sich oft subversiv.

Einführung in die Literatur der Romantik

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