Читать книгу Einführung in die Literatur der Romantik - Monika Schmitz-Emans - Страница 17
2. Zur politisch-historischen Situation zwischen 1789 und 1830
ОглавлениеEntstehung der modernen bürgerlichen Gesellschaft
Für die Zeit zwischen 1770 und 1830 hat sich auf Vorschlag des Historikers Reinhart Koselleck der Ausdruck „Sattelzeit“ eingebürgert. In dieser Phase entsteht die moderne bürgerliche Gesellschaft, differenziert sich funktional aus und löst die alte ständisch-hierarchische Gesellschaftsordnung in ihrer Starrheit ab. Diese funktionale Ausdifferenzierung hat zur Folge, dass die individuelle Leistung zum gesellschaftlichen Ordnungsprinzip avanciert. Parallel dazu setzt die industrielle Revolution ein und die kapitalistische Wirtschaftsform etabliert sich. Als Schlüsselereignis in der Initialphase dieser Entwicklung kann die Französische Revolution gelten. Seit Mitte der 90er-Jahre gelangt dann Napoleon zu wachsendem Einfluss. 1799 unternimmt er einen Staatsstreich und tritt als erster Konsul an die Spitze des Staates. 1804 wird der Code civil (Code Napoléon) erlassen. Im gleichen Jahr lässt sich Napoleon zum Kaiser krönen. Sein politischer Aufstieg bewirkt zum einen zwar einen Entdemokratisierungsschub, stabilisiert andererseits jedoch die bürgerlichen Rechte und führt zur Erneuerung des Wirtschaftssystems sowie zu einer Modernisierung des staatlichen Verwaltungsapparates.
Auswirkungen der französischen Entwicklung auf Deutschland
Napoleons Kaiserreich gewinnt seit 1804 Einfluss auf verschiedenste europäische Staaten, insbesondere auf das benachbarte Deutschland. Hier ist die politische Situation in den nachrevolutionären Jahrzehnten zunächst durch die starke Zersplitterung in über 300 Territorialstaaten geprägt. Die Napoleonischen Kriege führen zu einer schrittweise vollzogenen tiefgreifenden Reorganisation der deutschen Territorien, vor allem in Preußen, doch auch in den nichtpreußischen Gebieten Deutschlands. Unter Napoleons Bruder Jerôme entsteht das Königreich Westfalen. Eine Reihe von süd- und westdeutschen Fürstentümern schließt sich 1806 zum Rheinbund zusammen, der damit die Nachfolge des Deutschen Reichs antritt. Die Folge ist eine gründliche Modernisierung von Recht und Verwaltung. Auch nach dem Sturz Napoleons und dem Einsetzen der Restauration ab 1815 bleiben viele organisatorische Innovationen der napoleonischen Zeit erhalten. Es ist im Übrigen nicht der militärische Widerstand Preußens gegen die französischen Besatzer und auch nicht der deutsche Patriotismus, die schließlich den Untergang Napoleons herbeiführen, sondern die Unrealisierbarkeit der ehrgeizigen napoleonischen Expansionspläne. Die Eroberungszüge des Kaisers enden in Russland. In der sogenannten Völkerschlacht bei Leipzig besiegen die alliierten Heere im Oktober 1813 die kaiserliche Armee. 1815 wird der Korse bei Waterloo/Belle Alliance geschlagen, politisch entmachtet und verbannt.
Restauration
Napoleons Sturz und die militärische Niederlage Frankreichs führen wiederum zur Neuordnung der Territorien und Machtverhältnisse in Europa. Vom September 1814 bis zum Juni 1815 tritt der Wiener Kongress zusammen, der Territorialfragen verhandelt und dabei vor allem die europäischen Großmächte stärkt, zu denen – neben dem immer noch mächtigen Frankreich – England, Russland, Österreich und nach der Niederlage Napoleons nunmehr auch Preußen gehören. Als Folge der Neuordnung Europas tritt in Deutschland an die Stelle des einige Jahre zuvor aufgelösten Deutschen Reiches ein aus 39 Mitgliedsstaaten gebildeter, in seiner Heterogenität von vornherein konfliktträchtiger Deutscher Bund, in dem Preußen nach und nach die Führungsrolle übernimmt, obwohl nicht einmal sein ganzes Territorium dem Bund angehört. Die vom Wiener Kongress vorgenommene politische Reorganisation Europas von 1815 steht im Zeichen der Bestätigung und Konsolidierung fürstlicher Macht sowie der Wiederherstellung der sozialen Führungsrolle des Adels. Gegenüber diesen restaurativen Tendenzen könnte sich nationalpatriotisch motivierte demokratische Kräfte nicht durchsetzen. Auch Deutschland erfährt einen Restaurationsschub. Die deutschen Fürsten verhindern die während der Befreiungskriege in Aussicht gestellte Demokratisierung und begründen die sogenannte Heilige Allianz, deren Wirken mit der Idee des Gottesgnadentums legitimiert wird und dem feudalen Absolutismus zuarbeitet. Flankierend kommt es zu einschneidenden antidemokratischen Maßnahmen, so etwa zur empfindlichen Einschränkung der Meinungs- und Pressefreiheit. Die konservativen Regierungen setzen Polizei, Geheimpolizei und Spitzel ein, um den liberalen und demokratischen Tendenzen – und das hieß in der damaligen politischen Landschaft Deutschlands vor allem auch den patriotischen Gruppierungen – zu begegnen.
Patriotischnationalistische Tendenzen
Demokratisch-nationalistische Ideen leiten vor allem die Studentenbewegung, welche in den Jahrzehnten nach dem Wiener Kongress ein eigenständiges politisches Profil gewinnt. Zum Zusammenschluss der seit 1815 explizit nationalpatriotisch agitierenden Deutschen Burschenschaften kommt es 1817 auf dem Wartburgfest. Von Anfang an von der Obrigkeit mit Misstrauen betrachtet, wird die Studentenbewegung seitdem nachdrücklich diskriminiert und politisch bekämpft. 1819 ereignet sich ein spektakulärer politisch motivierter Vorfall: Der patriotische Burschenschaftler Karl Ludwig Sand ermordet den populären und erfolgreichen Schriftsteller August von Kotzebue, den er für einen zaristischen Spion hält. Dies gibt den Anstoß zur Einberufung des Karlsbader Kongresses durch den österreichischen Außenminister Fürst Metternich (1819). Die hier gefassten Karlsbader Beschlüsse geben den Regierungen weitgehende Befugnisse, gegen die als Demagogen denunzierten Burschenschaftler wie überhaupt gegen antifeudale, demokratische Bewegungen vorzugehen. Damit verbunden ist eine äußerst strenge Zensurpolitik, welche eine Verbreitung politisch unerwünschter Meinungen radikal unterbindet. Die Burschenschaften werden aufgelöst, ihre Führungspersönlichkeiten – darunter die romantischen Dichter und Publizisten Ernst Moritz Arndt und Joseph Görres – verhaftet, die Universitäten fortan verschärft durch Geheimpolizei und Spitzel kontrolliert.
Situation des Bürgertums
Nach dem Sieg über Napoleon und parallel zur Staatsreform von Steins erfolgt in Preußen, das seine Führungsrolle ausbaut, zwischen 1807 und 1814 eine Heeresreform, bei welcher die Armee modernisiert wird. Eingeführt wird die allgemeine Wehrpflicht; das Vorrecht des Adels auf Offiziersränge wird abgeschafft, obwohl in der Praxis das moderne Leistungsprinzip nicht immer für die Beförderung maßgeblich ist. Die im allgemeinen als „Restauration“ bezeichnete Phase nach dem Wiener Kongress ist hinsichtlich ihrer Bedeutung für die politische und wirtschaftliche Entwicklung Deutschlands umstritten. Zu restriktiv gestaltet sich das Klima in Politik, Wirtschaft und Kultur, als dass eindeutig von einem gesellschaftlichen Modernisierungsprozess gesprochen werden könnte, auch wenn die alten Privilegien des Adels nicht wieder eingeführt werden. Insofern über gesellschaftlichen Einfluss und politische Macht bis 1848 primär der Grundbesitz entscheidet, erhält sich der Adel de facto weitgehend seine Führungsrolle, die er mit wenigen reichen Vertretern des Bürgertums teilt. Die Intellektuellen bleiben politisch machtlos, haben auch in den Städten kaum Einfluss und sind vielfachen Kontrollen und Repressionen ausgesetzt. Als Konsequenz des von der Französischen Revolution ausgelösten Umordnungsprozesses wandelt sich in ganz Europa, auch in dem nach wie vor von Fürsten regierten Deutschland, das politische Denken und das staatsbürgerliche Selbstverständnis. Zunehmend weniger identifiziert sich der Einzelne über seine Standeszugehörigkeit, was mittelbar dazu führt, dass die ständische Ordnung ihre Tragfähigkeit als Prinzip gesellschaftlicher Differenzierung verliert. Persönliche Fähigkeiten, Qualifikationen und Marktwert der geleisteten Arbeit entscheiden zunehmend mehr über die Stellung des Einzelnen in der Gesellschaft. Im Zeichen eines Diskurses, der das Individuum in den Mittelpunkt stellt, entwickelt sich ein dementsprechend individualistisches Identitäts-Modell. Die gesellschaftliche Schicht, welche hiervon am nachhaltigsten betroffen ist und allmählich die soziale und kulturelle Führungsrolle übernimmt, ist das Bürgertum.
Formen bürgerlicher Geselligkeit
Gegenüber der Situation in Frankreich und England bleibt die gesellschaftliche Entwicklung Deutschlands gleichwohl zunächst rückständig. Da das Bürgertum hier trotz des Fortbestandes ständischer Strukturen ein neues Selbstbewusstsein entwickelt, ohne dieses allerdings bereits politisch unter geänderten gesellschaftlichen Machtverhältnissen umsetzen zu können, etablieren sich diverse Formen bürgerlicher Geselligkeit, die kompensatorische Funktionen übernehmen. Private Gruppen, Zirkel und Salons sind ein Forum der neuen Ideen, in dem sich die bürgerlichen Werte, Identitätsmuster und Kommunikationsformen entwickeln, erprobt und bestätigt werden. Eine wichtige zeitspezifische Form geselliger Organisation ist der Freundschaftsbund ohne feste Satzung. Allerdings haben solche Gruppenbildungen in Deutschland ihre eigene Tradition. Schon in der Generation der Stürmer und Dränger hatten Bünde Gleichgesinnter sich unter anderem über Standesschranken hinweggesetzt und waren als vorrangige Bezugsgruppe an die Stelle familiärer und gesellschaftlicher Einheiten getreten. Vaterbindungen lockern sich seitdem allenthalben: Fragwürdig wird zugleich mit der Autorität des Familienvaters auch die des Landesvaters und des himmlischen Vaters. Die Romantik, deren Literatur übrigens vielfach die Beziehung der Generationen untereinander thematisiert und gesellschaftliche Strukturen in konfliktuösen Familiengeschichten bespiegelt, knüpft hier an. Dynamische und flexible Gruppierungen gleichartig denkender und an gleichen Themen interessierter Schriftsteller, Philosophen und Naturforscher, Publizisten und Historiker prägen die romantische Kultur. Maßgeblichen Einfluss auf die literarisch-ästhetische Welt der Romantik nehmen in der Restaurationszeit die Salons, die von Dorothea Schlegel (ehemals Veit, die Tochter Moses Mendelssohns), Henriette Herz und Rahel Levin (später mit Karl August Varnhagen von Ense verheiratet), drei gebildeten Frauen jüdischer Herkunft, ins Leben gerufen wurden. Sie orientieren sich an französischen Vorbildern. Berlin ist besonders dazu disponiert, diese Kultur hervorzubringen. Hier haben die Hugenotten effizient zur Ausbreitung französischer Kultur beigetragen, und das Toleranzedikt Friedrichs II. hat den sozialen Aufstieg der Juden möglich gemacht.