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Milwaukee

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Jeden Augenblick würden die ersten Läufer auftauchen. Atemlos berichtete der Ansager vor Ort, wer gerade vorn lag. Elijah sagten die Namen nichts. Klar, er hatte auch keine Ahnung von Triathlon. Aber er hatte seiner Mutter versprochen, etwas mit Matt zu unternehmen, und der Milwaukee Triathlon genoss anscheinend eine gewisse Bekanntheit. Okay, es war nicht der New York Marathon, aber immerhin. Und man konnte kostenlos zusehen, zumindest wenn man sich damit zufriedengab, dass man nicht auf der schicken Zuschauertribüne direkt am Zieleinlauf saß, sondern etwas weiter vorne am Straßenrand stand. Er warf einen Blick auf Matthew. Der Junge schien sich mehr für eine schwarzhaarige Frau auf der Tribüne zu interessieren als für den Sport. Naja, es war ja auch noch nichts zu sehen.

»Wie lange dauert das hier eigentlich? Ich habe später noch Bandprobe …« Matt schüttelte seine langen, dunklen Haare. Elijah hasste es, wenn er das tat. Warum ließ sich jemand die Haare so lange wachsen, dass er kaum noch aus den Augen sehen konnte? Dazu das Bürsten, Haarewaschen und Föhnen, was für ein Aufwand. Das war doch weibisch.

Seine Blicke wanderten wieder auf die Tribüne. Die Frau trank einen Schluck Cola Light aus der Dose und warf den Kopf nach hinten. Sie hatte einen langen, hellen Hals, der einen starken Kontrast zu ihren dunklen Haaren bildete. Die Haare sahen irgendwie zu schwarz aus, fast schon blau. Sicher gefärbt, das würde Mutter nicht gefallen, obwohl sie ihre Haare selbst kolorierte, seitdem sie graue Strähnen darin entdeckt hatte. Die Lippen waren auch zu rot, das Gesicht ein wenig zu blass. Sie sah ja aus wie eine Puppe. Oder wie Schneewittchen. Hatte sie gerade hergesehen? Aber wer könnte auf diese Entfernung schon sagen, wen sie angeschaut hat. Er bemerkte, wie er sich automatisch in Pose warf, und ärgerte sich darüber. Mit so einer, das würde sowieso nichts werden. Die ging sicher auf eine teure Uni und ihr Vater war Rechtsanwalt oder Arzt oder so etwas. Sie fuhr ein rotes BMW Cabrio und ging jedes Wochenende auf schicke Partys mit ihren Freundinnen und Freunden, die ebenso reich waren. Kenny hatte mal was mit so einer, das war nicht lange gut gegangen. Felicity war ihr Name gewesen, sie hatte lange, blonde Haare gehabt und hervorragend gemachte C- oder D-Cup Titten. Echtes Kunsthandwerk, hatte Kenny damals gescherzt. Seine Witze waren ihm bald vergangen, denn nach zwei Wochen war Schluss gewesen und jemand anderes erfreute sich an Felicitys Talenten. Das war vor einem halben Jahr gewesen und der ärmste trauerte ihr immer noch hinterher, obwohl allen anderen von Anfang an klar gewesen war, dass sie nur mit ihm gespielt hatte.

Immerhin war Matt nicht schwul. Der Sohn der Bernards von gegenüber, so ein Dürrer, Rothaariger, hatte sich als homosexuell geoutet und seine Eltern waren völlig verzweifelt. Reverend Hornbine war dabei auch keine große Hilfe, zum Entsetzen der Eltern meinte er, dass das ›nicht so schlimm‹ sei und sich in vielen Fällen noch gebe. Vater Bernard hatte geschworen, er werde dem Jungen sein Verhalten ›austreiben‹, er würde niemals eine Schwuchtel unter seinem Dach dulden und ihm diese Perversion schon abgewöhnen. Elijah schauderte bei dem Gedanken, wenn er sich vorstellte, wie er das tun wollte.

»Deine Band. Du weißt, was Mutter und ich davon halten.« Elijah sah es nicht, aber er konnte ganz genau spüren, wie Matt die Augen verdrehte. »Nichts gegen Musik, aber wir finden –«

»Ich weiß, aber mir ist sie wichtig«, unterbrach Matt ihn. Er hatte ja recht, diese Diskussion hatten sie schon oft genug geführt. Und irgendwie war es auch gut, dass ihm seine Band etwas bedeutete. Das sagte er Matt natürlich nicht. Aber es war immer gut, wenn sich Menschen für etwas interessierten. Diese Selbstmörder, die hatten sich für nichts interessiert, hatte der Reverend gesagt. Denen war alles so egal, dass sie am Ende sogar ihr Leben weggeworfen hatten, das Gott ihnen geschenkt hatte. Warum aber musste Matt sich ausgerechnet für eine Band so begeistern? Das war doch keine Zukunftsperspektive.

Elijah drehte sich zu seinem kleinen Bruder und verwuschelte ihm die Haare.

»Hey, lass das!« Lachend wehrte Matt die Attacke ab und richtete seine Haare wieder her.

Elijah sah ihn nachdenklich an. Sein kleiner Bruder war groß geworden. Sicher würde er bald eine Freundin haben, die Mädels schienen sich ja nicht an den langen Haaren zu stören. Oder hatte er längst eine? Wenn er über all dem nur nicht die Schule vernachlässigte. Der Kleine war clever und er sollte es einmal besser haben als er selbst. Den ganzen Tag in einer lauten, schmutzigen Autowerkstatt, das wäre nichts für Matt. Matthew, da waren er und Mutter einig, war für Höheres berufen. Er sollte einmal Priester werden. Der Reverend wollte sie dabei auch unterstützen. Nur entscheiden müsste sich der Junge selbst.

Er unterdrückte ein Gähnen. Dass er so müde war, daran war dieser verdammte, uralte Mercury schuld, bei dem sie am Vortag das Getriebe ausgebaut hatten. Bis spät in die Nacht. Wer so eine Mühle fährt, kann doch nicht erwarten, dass seine Kiste am nächsten Morgen wieder fahrbereit da steht. Warum nahmen sie überhaupt solche Aufträge an? Klar, weil sie sonst gar nichts zu tun hätten. In jeder vernünftigen Werkstatt hätten sie dem Kunden ins Gesicht gelacht, wenn er mit so einem Ding aufgekreuzt wäre. Er seufzte. Das war echte Knochenarbeit gewesen. Immerhin hatte er dafür heute einen halben Tag frei nehmen dürfen. Naja, wenn das Rennen endlich zu Ende war, würden sie sich noch einen Chili Dog genehmigen, dann hätte der Ausflug immerhin etwas Gutes gehabt.

Er sah sich um und schrak zusammen. Direkt hinter ihm stand ein dicker Polizist und sah ihn direkt an. Elijah nickte ihm leicht zu und der Officer nickte zurück, ohne ihn aus den Augen zu lassen.

In einer Seitenstraße schlich ein hellblauer Ford Tempo dahin. Es waren sonst keine Autos unterwegs. Klar, die Innenstadt war ja gesperrt, wahrscheinlich durften heute nur Anwohner und Lieferverkehr für die ansässigen Geschäfte fahren.

Warum sind eigentlich alle Ford Tempo hellblau, fragte er sich. Der Tempo war ein gutes Auto, Elijah mochte es. Ehrlich, solide, keine komplizierte Elektronik und unter der Motorhaube nicht so zugestopft wie die neueren Autos, alle Teile waren gut zugänglich. Früher hatten sie auch so einen gehabt. Damals, als Vater noch lebte …

Der Ford lag tief auf der Straße. Stoßdämpfer im Arsch, dachte er, komm bloß nicht zu uns damit.

Nein, doch nicht, korrigierte er sich, als das Auto durch ein Schlagloch fuhr. Die Stoßdämpfer sind in Ordnung, das Auto ist nur total überladen.

Das Rennen schien auf seinen langweiligen Höhepunkt zuzusteuern. Irgendein Grüppchen hatte sich vom Pulk abgesetzt, wie der Sprecher aufgeregt mitteilte. Großartig, bringen wir es hinter uns und dann holen wir uns einen Hot Dog. Oder einen Burger bei Wendy’s, da ist Matt früher immer so gern hingegangen. Oder fand er Wendy’s inzwischen total uncool? Obwohl Matt nur ein paar Jahre jünger war, fühlte Elijah sich im Gespräch mit seinem jüngeren Bruder manchmal richtig alt.

Plötzlich zupfte ihn jemand am Arm. Überrascht sah Elijah nach unten. Da stand ein blasses, kleines Mädchen von vielleicht fünf oder sechs Jahren. Ihm fiel auf, dass es ein ausgewaschenes T-Shirt mit der Aufschrift Northwestern Mutual trug. So eines hatte er – und ein paar Jahre später natürlich Matt – früher auch einmal gehabt. Er hatte es beim Sommerfest des Kindergartens beim Sackhüpfen gewonnen und er war damals sehr stolz darauf gewesen.

Das Kind sah ihn auffordernd an. Ihr bleiches, rundes Gesicht kam ihm bekannt vor, er vermochte aber nicht zu sagen, woher.

Er sah sie deutlich, wie sie neben ihm stand, und doch war etwas seltsam an dem Kind. Es legte den Finger an die Lippen und zeigte nach hinten. Fragend sah er das Kind an. Was wollte es? Vielleicht hatte es seinen Ball verschossen oder so etwas. Elijah wandte sich um.

Dort fuhr immer noch der alte Ford Tempo, jetzt im Schritttempo. Elijah fragte sich, wo er hinwollte. Suchte er einen Parkplatz? Es war doch alles frei. Oder hatten sie die ganze Innenstadt zu einer Parkverbotszone erklärt? Das wäre natürlich möglich.

Er konnte erkennen, dass der Mann am Steuer schwitzte, obwohl es nicht besonders warm war. Angestrengt kurbelte er am Lenkrad, die Servolenkung war doch nicht etwa auch hinüber? Er wollte wieder zu dem Mädchen sehen, aber als er nach unten blickte, war es weg.

Ich sollte heute wohl mal früher ins Bett, dachte er und strich sich durch die kurzen Haare.

Mit einem Mal wusste er, woher ihm das Mädchen bekannt vorgekommen war. »Madison«, murmelte er. Matthew blickte sich zu ihm um, unsicher, ob sein Bruder etwas zu ihm gesagt hatte. Mit diesem fragenden Blick sah er jung aus, viel jünger als jemand, der schon bald von der Highschool abgehen würde.

Madison! Er setzte sich in Bewegung. Was wollte sie von ihm? Es musste etwas mit dem Tempo zu tun haben. Wie in Trance ging er auf den Wagen zu. Der dicke Polizist sah ihm kurz nach, entschied dann aber wohl, dass von Elijah keine Gefahr ausging, und wandte sich wieder dem Rennen zu.

»Madison«, flüsterte Elijah eindringlich, als könne er sie dadurch beschwören. Was wollte sie ihm sagen? Verdammt, was hatte Madison ihm nur zeigen wollen? Der Tempo stand jetzt mit laufendem Motor da. Der Fahrer hatte die Augen geschlossen und bewegte die Lippen, als betete er.

Das konnte nicht Madison gewesen sein, natürlich nicht. So viel war klar. Das war überhaupt niemand gewesen, er hatte es sich nur eingebildet. Er beschloss, wieder an seinen Platz zurückzukehren. Das Rennen war bald zu Ende, gewiss würden bald viele nach Hause gehen und er sollte lieber sehen, dass er Matt in dem Gedränge nicht verlor.

Während ihm diese Gedanken durch den Kopf gingen, sah er das Mädchen wieder. Sie stand direkt neben dem Wagen und machte eine seltsame Handbewegung. Sie bückte sich, streckte ihre rechte Hand nach vorn, ballte sie zur Faust und zog sie dann schnell zurück. Was sollte diese Pantomime? Tat sie, als zöge sie an einem Hebel? Fragend sah er sie an. Madison lächelte und plötzlich sah sie seiner Mutter so ähnlich, dass ihm beinahe das Herz stehen blieb. Das Mädchen vollführte nochmals die Handbewegung und richtete sich wieder auf. Sie machte beide Hände zur Faust und drückte sie gegeneinander. Darauf riss sie sie plötzlich auseinander und spreizte die Finger. Boom, formte ihr Mund. Dann war sie weg, verschwunden von einem Augenblick auf den anderen, aber Elijah war inzwischen ohnehin klar, dass sie nicht wirklich da gewesen war.

Er wusste, was er zu tun hatte. Mit schnellen Schritten ging er zum Ford und zog mit Schwung am Türgriff. Abgeschlossen. Erschrocken blickte ihn der Fahrer an. Elijah sah sich nach einem harten Gegenstand um. Irgendetwas – ein Pflasterstein, ein Stock, … nichts. Der Wind schob träge eine leere, braune Papiertüte über den Asphalt. Im Rinnstein lag ein plattgefahrener Pappbecher von Starbucks. Fuck. Hektisch legte der Fahrer einen Gang ein. Sein Gesicht war von Panik gezeichnet.

Der dicke Polizist hatte sich umgewandt und sah zu Elijah hin. Auch Matthew sah ihn an. »Elijah, was ist denn los?«

Der Fahrer des Wagens wollte wegfahren, aber er hatte zu viel Gas gegeben und den Wagen abgewürgt. Er drehte den Zündschlüssel und die Zündung stotterte. Elijah griff in die Tasche seiner Baggy Pants und fand endlich, was er suchte. Ein kleiner Schraubenschlüssel. Warum war er da nicht gleich darauf gekommen? Er nahm ihn in die Faust, holte aus und schlug mit aller Kraft gegen die Scheibe. Das Sicherheitsglas des Fensters zersprang in unzählige kleine Teile, die Elijah ins Wageninnere drückte. Der Fahrer schrie um Hilfe.

Wie in Zeitlupe nahm Elijah wahr, dass der Polizist etwas in sein Funkgerät sagte – seinen Namen, den Standort und einen Zahlencode. Sicher etwas wie »Violent Assault – Request Backup«. Sein Vater hatte ihnen einige der Codes beigebracht, aber Elijah erinnerte sich nur noch an den für »Essenspause« – den wichtigsten, wie Dad immer gescherzt hatte.

»Scheiße, Mann, was ist denn los?« Matt kam angelaufen, blieb aber ein paar Schritte vor Elijah stehen. Sein Gesicht spiegelte Verwirrung. So hatte er seinen großen Bruder noch nie erlebt. Elijah griff ins Wageninnere und stürzte sich auf den Mann. Er wollte ihn durch das Fenster aus dem Wagen ziehen, aber das war schwieriger, als er erwartet hatte. Elijah war viel kräftiger, aber der Mann setzte sich mit der Kraft der Verzweiflung zur Wehr. Er schrie um Hilfe und biss seinen Angreifer in die Hand. Elijah spürte, wie Blut seine Hand herablief, dachte aber keine Sekunde daran loszulassen. Er konnte die Geste nicht vergessen, die Madison gemacht hatte. Der Griff nach unten, ein Zug am Hebel, Boom.

»Okay, Sir, treten Sie weg von dem Wagen.« Das war der Polizist. Scheiße. Elijah musste sich nicht umdrehen, um zu wissen, dass er breitbeinig da stand und mit einem Taser auf ihn zielte. Vielleicht auch mit einer Pistole.

»Ich kann nicht!«, schrie er.

»Treten Sie weg! Ich will Ihre Hände sehen!«

»Ich kann nicht!«

»Das war meine letzte Warnung.« Elijah kämpfte mit dem Mann im Auto, versuchte ihn irgendwie nach draußen zu ziehen. Er durfte auf keinen Fall an dem Hebel ziehen, denn dann wäre alles vorbei. Alles. Der Polizist, das Rennen, Schneewittchen auf der Zuschauertribüne. Und er selbst und Matt. Es war eine einfache Rechnung. Wenn er den Mann losließ, würden alle sterben. Wenn er ihn herauszog, würden sie überleben, auch wenn er selbst vielleicht dabei draufging. Elijah war ganz ruhig, alles schien wie in Zeitlupe abzulaufen. Es gab nichts zu überlegen.

Ein Schuss. Elijah spürte nichts, der Polizist hatte in die Luft geschossen. Der nächste Schuss würde kein Warnschuss mehr sein. Der Polizist rief etwas, Matthew schrie, aber Elijah nahm es nur wie durch Watte hindurch wahr. Er registrierte hektische Bewegungen am Rand seines Gesichtsfelds, doch das war unwichtig. Für den Moment bestand das Universum nur aus ihm und diesem Mann. Der Fahrer riss den Mund auf, bei seinem linken Schneidezahn war eine Ecke abgebrochen. Sein Kinn, wo er Elijah gebissen hatte, war blutverschmiert. Er strampelte mit den Füßen, um sich zu befreien und versuchte, nach unten zu greifen. Irgendwo da musste der Schalter sein. Elijah konnte ihn nicht sehen, aber er erinnerte sich an Madisons Geste. Da der Mann nur noch versuchte, den Knopf zu erreichen und sich nicht mehr wehrte oder festhielt, war es einfacher, ihn herauszuziehen. Mit einem Ruck gelang es Elijah, den Oberkörper des Mannes durch das offen stehende Fenster zu ziehen. Er sah Elijah in die Augen und sein Blick war so voller blinder Wut und Verzweiflung, dass Elijah wusste, dass er gewonnen hatte. Beinahe hätte er gelächelt.

Dann traf ihn ein Stromschlag von 50.000 Volt. Ein Kollege des Polizisten hatte ihn getasert. Elijahs Muskeln verkrampften sich und er stürzte hart auf den Boden. Für einen Sekundenbruchteil sah er den Himmel, dann knallte er mit dem Hinterkopf auf den Asphalt und verlor das Bewusstsein.

Das Messias Casting

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