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Milwaukee

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Elijah erwachte mit einem dumpfen Gefühl im Kopf. Irgendetwas summte, oder war das nur in seinem Kopf? Er öffnete die Augen, aber es war, als nähme er alles um sich herum durch eine dicke Glasscheibe wahr. Sein erster Blick fiel auf einen weißen Tisch. Da war auch etwas Buntes. Es dauerte eine Weile, bis er erkannte, dass es Blumen waren. Alles war voller Blumen. Als sich sein Blick etwas fokussierte, sah er, dass von manchen Blumensträußen Bänder mit Sprüchen herabhingen.

Wie auf dem Friedhof, dachte er. Langsam konnte er klarer sehen. »Bürgermeister« stand auf einem der Bänder. »Police Department« auf einem anderen. Er las »Für einen Helden«, »Stadt Milwaukee«, irgendwas mit »Senator«, der Rest war nicht zu lesen, und noch einmal: »Einem echten amerikanischen Helden«.

Nach und nach kam die Erinnerung wieder. Das Rennen. Der Wagen. Was war es noch? Ach, ja, ein Ford Tempo. Hellblau. Wie der Himmel.

Und der Mann. Sofort sah er wieder das wutverzerrte Gesicht vor seinem inneren Auge. Was war geschehen? Da war eine Bombe. War da eine Bombe gewesen? Falls ja, war sie offensichtlich nicht hochgegangen.

Er glaubte sich daran zu erinnern, dass er den Mann aus dem Wagen gezogen hatte, aber was war dann passiert? Okay, dies war nicht der Himmel, so viel war klar. Hatte man auf ihn geschossen? Er spürte praktisch nichts. Vorsichtig betrachtete er sich, sah an sich herab. Er versuchte, seine Finger und seine Füße zu bewegen. Es gelang ihm nicht und beinahe wäre er in Panik geraten, bis ihm einfiel, dass man ihm sicher ein Schmerzmittel gegeben hatte. Das würde auch das dumpfe Gefühl erklären. Was nicht hieß, dass er noch alle Glieder hatte. Besser nicht in dieser Richtung weiterdenken.

Jemand stürzte auf ihn zu. Noch bevor er sie richtig sehen konnte, erkannte er Mom an ihren Bewegungen. Sie kam ganz nahe und beugte sich über ihn.

»Elijah, du bist wach!« Sie begann sofort zu weinen. »Was machst du denn? Was machst du denn für Sachen?«

Er wollte etwas sagen, wollte sie trösten, wie er es immer tat, aber er brachte nur ein Krächzen heraus. Es bereitete ihm immer noch Mühe, seine Augen auf seine Mutter zu fokussieren. Erschöpft sah sie aus. Sie hatte Ringe unter den Augen und eingetrockneter Schweiß glänzte im kalten Licht der Leuchtstoffröhren ölig auf ihrer Haut.

»Sie haben dir irgendetwas gegeben. Die Schwester hat gesagt, wenn die Wirkung nachlässt, wachst du auf und dann hast du sicher bald Kopfschmerzen.« Erst jetzt bemerkte Elijah, dass sein Kopf verbunden war.

»Sie hat gesagt, dass du vielleicht … », vergeblich suchte sie das passende Wort, »… dass du nicht weißt, wo du bist oder so, aber das gibt sich.«

Elijah hatte das Gefühl, dass etwas falsch war. Mom sollte nicht hier an seinem Bett stehen, als ob er ein kleines Kind wäre.

»Musst du nicht zur Arbeit?«, brachte er heraus. Es wäre ihm unangenehm, wenn sie etwas von ihrem ohnehin spärlich bemessenem Urlaub geopfert hätte, nur um bei ihm zu sein. »Wie viel Uhr ist es?«

»Ach, Elijah! Du hast ja keine Ahnung.« Tränen traten wieder in ihre Augen. Sie hob den Arm, wahrscheinlich wollte sie ihm übers Haar streichen, wie sie es früher immer getan hatte, aber dann zog sie die Hand langsam zurück. Sie konnte ja schlecht den Verband streicheln.

Elijah sah, was sie vorhatte und gab ihr die Hand. Seine Mutter drückte sie dankbar. »Für die bist du jetzt ein Held, Elijah. Das Auto war bis oben hin voll gewesen mit irgendeinem selbstgebastelten Sprengstoff. Wenn das explodiert wäre …« Sie hielt einen Moment inne und schluckte. »Du kannst dir nicht vorstellen, wie viele Hände ich schütteln musste in letzter Zeit. Sogar der Gouverneur war hier. Und was meinen Job angeht: Mr. O’Donell hat mir freigegeben, bis du wieder ganz gesund bist. Bezahlter Urlaub. Er meint, das Wichtigste ist jetzt, dass unser Held schnell wieder auf die Beine kommt.«

Was? Elijah schloss die Augen. Der gleiche Mr. O’Donnell, der ihm neulich noch erklärt hatte, dass er seine Mutter doch gefälligst nicht während der Geschäftszeiten anrufen dürfe und wenn er es doch einmal tat, er ihm erst genau erklären müsste, um welche Art lebensbedrohlichen Notfall es sich handelte?

Und jetzt war er ein Held? Das war alles ziemlich schwer zu verdauen. In dem Augenblick fiel ihm noch etwas ein.

»Madison …«, sagte er.

Seine Mutter blickte auf. Fragend sah sie ihn an. »Was meinst du?«

»Ich habe Madison gesehen.«

»Du meinst, du hast von ihr geträumt? Du bist ganz schön hart auf den Boden geknallt, der Arzt hat gemeint, wenn du nicht so einen harten Schädel hättest, hätte sonst was passieren können.«

Elijah dachte nach. Er konnte unmöglich die Wahrheit erzählen. »Ja, … das war es. Ich habe von ihr geträumt.«

Vielleicht war es das. Momentan kam es ihm so vor, als habe er alles nur geträumt. Und Madison war tot. Eigentlich hatte sie nie gelebt. Sie war tot geboren worden, kurz nachdem sein Vater gestorben war. Seine Mutter hatte immer gesagt, sie wollte ihren Vater wohl auf dem Weg in den Himmel begleiten. Tante Rachel hatte eine nüchternere Erklärung – sie hatte gemeint, der Stress mit Dads Tod wäre einfach zu viel für Mom gewesen und darum hätte sie die Fehlgeburt gehabt. Somit wäre das Baby nur ein weiteres, letztes Opfer des Drogendealers. Elijah hatte nie viel über das totgeborene Baby nachgedacht, nach dem tragischen Tod seines Vaters bei einer Drogenrazzia war wirklich genug zu tun. Damals war seine Mutter manchmal so apathisch gewesen, dass er sich allein um den damals zweijährigen Matt kümmern musste – keine leichte Aufgabe für einen 9-jährigen Jungen. Er hatte überhaupt nur am Rande registriert, dass seine Eltern das Baby Madison nennen wollten. Warum also träumte er plötzlich von ihr?

»Ich denke auch manchmal an Madison. Ich wünschte, sie wäre hier … aber sie wollte wohl bei Daddy bleiben. So sind Mädchen eben.« Sie lächelte leicht und drückte seine Hand. »Dafür habe ich zwei tolle Jungs.«


Die folgenden Wochen waren unglaublich. Elijah war plötzlich eine Berühmtheit. Politiker, Musiker, Schauspieler, alle wollten ihm die Hand schütteln und sich mit ihm fotografieren lassen. Er wurde für die Zeitung interviewt und in Talkshows eingeladen. Dazu bekam er Liebesbriefe und Heiratsanträge von wildfremden Frauen und sogar von Männern. Einige schickten sogar Fotos mit, teilt bekleidet, noch häufiger aber nackt. Letztere versteckte er immer ganz schnell und achtete darauf, dass Matt sie nicht sah. Manche Frauen schickten ihm auch Teddybären, selbstgebackene Kekse oder gestrickte Schals.

Elijahs Chef fragte ihn, ob er noch zum Arbeiten kommen wolle, anscheinend ging er davon aus, dass Elijah jetzt zu berühmt für den Job in der kleinen Autowerkstatt war. Vielleicht dachte er, Elijah würde ins Shobiz einsteigen oder so. Aber natürlich wollte er weiter in der Werkstatt arbeiten.

Als er aus dem Krankenhaus entlassen wurde und zum ersten Mal wieder bei der Arbeit erschien, sagte keiner seiner Kollegen etwas, aber einer nach dem anderen kamen sie vorbei und klopften ihm auf die Schulter. Elijah fühlte, dass er dort zu Hause war, nicht bei den Politikern, die ihm im Blitzlichtgewitter der Presse die Hände schüttelten, sondern bei den normalen Menschen, die keine großen Reden schwangen, sondern ihm schweigend auf die Schulter klopften.

Dabei machte Elijah seine Sache ziemlich gut. Er war groß und gutaussehend, das liebten die Medien. Und trotz aller Prominenz blieb er der einfache Junge von nebenan, der in der Autowerkstatt arbeitete und in seiner Freizeit am liebsten mit seinen Kumpels Budweiser in der Kneipe am Eck trank. Er hätte Kapital schlagen können aus seiner Berühmtheit. Es gab nicht wenige Anwälte und Agenten, die ihre Dienste anboten, Elijah bestmöglich zu vermarkten. Doch all das interessierte ihn nicht. Er stand nicht gern im Rampenlicht, selbst die Einladung zu Oprahs Sondersendung hatte er eigentlich nur seiner Mutter zuliebe angenommen.

Ein angenehmer Effekt war immerhin, dass das andere Geschlecht ihn jetzt anders wahrnahm. Oder überhaupt wahrnahm. Wann immer er sich in der Öffentlichkeit sehen ließ, kamen Frauen auf ihn zu und machten ihm mehr oder minder deutliche Avancen. Anfangs wusste er nicht, wie er darauf reagieren sollte, er war es nicht gewohnt, dass die Mädchen plötzlich so einfach »wollten«. Und so blieb es nicht aus, dass er mit der einen oder anderen im Bett landete, er war aber bemüht, das vor seiner Mutter und vor allem vor seinem kleinen Bruder zu verbergen. Etwas Ernstes wurde nie daraus.

Nach und nach ließ das Interesse der Medien nach und irgendwann war er nur mehr eine lokale Berühmtheit, »der Typ, der mal …«.


Dann kehrte Madison zurück.

Das Messias Casting

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