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1) Mitte November 1895: Mardin
ОглавлениеDie längst verdrängten Berichte der vergangenen Tage über die Provinz Diyarbekir, kamen in der Nacht zum Vorschein, an dem die Bilder der getöteten Menschen vor dem jungen Yawsef immer lebendiger auf und abtauchten. Er stand auf und kniete vor dem, vom Mondlicht beleuchtetem Kreuz nieder, welches auf dem kleinen Tisch vor seinen Füßen stand und betete.
In dem Moment, indem er sich wieder auf das Bett legte, tauchten vor seinen Augen schreiend flüchtende Menschen auf, die aus saftig grünen Winterweiden zum trockenen Hang verjagt wurden. Sie stolperten immer wieder über die vielen Steine am steilen Hang, bis deren blutige Körper auf den Boden fielen und sich nicht mehr regten. Männer gingen mit einem Schwert in der Hand durch die am Hang aufgereihten Toten, deren zersetzten Kleider sie kaum bedeckten.
Die vor Entsetzen aufgerissenen Augen der Getöteten blickten in die trostlose Landschaft, die unbeeindruckt von fließendem Blut und Geschrei, ihre Ruhe bewahrte und die Toten sanft mit seiner Trostlosigkeit umhüllte.
Vor der Morgendämmerung vermischten sich die Bilder mit dem schwachen Licht der Kerze und hinterließen auf seinem Gesicht sorgenerfüllte Spuren. Nach einem kurzen Gebet stand er auf, verließ sein kleines Zimmer im Kloster Mor Hananya und suchte die Ruhe der Kirche der „Vierzig Märtyrer“ inmitten kleiner, verwinkelter Gassen.
Still saß er auf seinen Knien hinter der Eingangstür der von wenigen Öllampen beleuchteten Kirche, legte seine Hände auf die Beine, seine Augen streiften die syrischen Ikonen, senkte mit geschlossenen Augen seinen Kopf und begleitete im Stillen die Liturgie.
Die wenigen Gottesdienstbesucher saßen vor ihm auf dem Boden und horchten den Lobgesängen der Diakone und des Pfarrers.
Der Pfarrer hörte mit den Hymnen auf und bereitete sich für die Predigt vor, als Yawsef plötzlich Kinderschreie hinter der Tür hörte.
Die Tür ging auf. Zwei Jungen liefen lachend in die Kirche. Der große, kräftig gebaute hielt plötzlich an und blickte zu dem Mann, der in mitten der Kirche langsam auf ihn zuging. Der kleinere Junge prallte gegen den Größeren, welcher sich nun nicht mehr zu regen schien.
„Heilig, heilig, …“ begann der Pfarrer mit seiner lauten aber bestimmten Stimme an, während er, die zwei Kinder, welches sich in der Kirche, vor dem jungen Mann aus dem Kloster befanden, betrachtete. Das kleine Kind versteckte sich hinter dem kräftigeren, als ob es Schutz suchte.
„…heilig ist der Herr der Heere schrien die Serafim. Von seiner Herrlichkeit ist die ganze Erde erfüllt. Die Türschwellen bebten bei lautem Ruf auf.“ fügte er hinzu und richtete seine Augen auf den ersten Jungen, der ängstlich auf sein mit vielen Motiven bestücktes Gewand anstarrte.
„Jeder Serafim hatte sechs Flügel. Da flog einer der Serafim. Er trug in seiner Hand ein glühendes Stück Kohle, die er mit einer Zange vom Altar genommen hatte.“ predigte der Pfarrer weiter und streckte seine Hand den Gottesdienstbesuchern entgegen.
Das erste Kind zuckte zusammen. Es konnte die Hand des Mannes an seiner Wange fühlen. Seine aufgeschreckten Augen wanderten hilfesuchend von dem Mann mit dem weiß, rot, goldenen Soutane in der Mitte des Raumes, zu dem Jungen, welcher ebenfalls regungslos neben ihm stand. Das Kind hielt ein Stab in der Hand. Am Ende des Stabes war eine Metallscheibe befestigt, auf dem im Licht der Kerzen, das Gesicht eines Kindes, mit vielen Flügeln zu sehen war. Das Gesicht mit vielen Flügeln, die glühende Kohle spie, entfernte sich von der Scheibe und bewegte sich langsam zu ihm.
Das leuchtende Gesicht und seine Flügel sollten dem Kind sein Leben lang folgen.
Yawsef hörte das kleine Kind mit seiner von Angst erfüllten Stimme „Ustof, lass uns raus gehen“ sagen. Das große Kind drehte sich entsetzt um und lief raus aus der Kirche gefolgt von dem kleineren Kind. Neugierig folgte er den beiden.
Die zwei Kinder liefen zu der nächsten Straße, als ein weiteres großes Kind keuchend um die Ecke, ihnen entgehen lief und mit den beiden zusammenstieß. Keiner der Kinder blieb stehen. Keiner schaute sich um. Alle Drei liefen schnell weiter.
„Lauf Kapago! Lauf!“ hörte Yawsef und eilte zu der Straße, aus der die Stimme kam. Hinter der Ecke stand ein Mann auf dem Boden. Schmerzerfüllt hob er seinen Kopf und blickte erst zu ihm und dann zu dem Kind auf der anderen Straßenseite. Er streckte seine Hand dem Mann entgegen, welcher für einen Augenblick in Richtung des Himmels blickte und dessen Kopf im nächsten Moment auf den Boden fiel.
Als Yawsef die Schreie einer aufgebrachten Menge am Ende der Straße hörte, kniete er nieder und schloss die Augen des Mannes. Die Menschen kamen und rannten zornerfüllt weiter. Einige spuckten beim Vorbeigehen auf die Leiche des gerade verstorbenen Mannes.
Hilflos schaute er der aufgebrachten Menschenmenge zu, die augenblicklich zu der gegenüberliegenden Straße eilte. Als er sich traurig über die Leiche des Mannes beugte und die Spucke auf seinem Gesicht säuberte, stand seine Berufung als Mönch fest. An dem Abend kehrte er zu dem Kloster Mor Hananya zurück. Dieses Kloster wurde zu seinem neuen Haus, seiner Heimat für die nächsten 14 Jahre.
Kapago hielt an der nächsten Straße kurz an, blickte zurück und sah einen Mann mit schwarzer Kutte sich über seinen Vater beugen. Hinter dem Mann tauchte die Menschenmenge auf, die jetzt nach ihm zu suchen schien.
Er blieb nicht stehen.
Heute verlor er seinen Vater.
Heute brauchte er das Stück Brot mit niemandem zu teilen.
Er biss in das warme Brot in seiner Hand und lief weiter in die aufwachende Stadt hinein.
Als die ersten Sonnenstrahlen zwischen den flachen Häusern auftauchten, war er in Sicherheit. Er setzte sich hinter eine eingestürzte Mauer zwischen vertrocknetes Gras. Mit müden Augen beobachtete er die Straße, bevor er vor Erschöpfung einschlief.
Kapago wachte in der prallen Hitze der Mittagssonne auf. Schnell suchten seine Augen nach dem zu erwartendem Feind.
Die Straße schien leer.
Heute würde ihn niemand begleiten.
Heute war der Tag, von dem sein Vater immer Sprach.
Ab heute musste er alleine zurechtkommen.
Seine Augen wanderten über die Mauer. Zwischen den großen Steinen wackelte trockener Graß hin und her.
Er hielt das Laib Brot in seinen Händen. Seine Augen füllten sich mit bitteren Tränen.
„Weinen ist zwecklos“, sagte immer sein Vater.
Er stand auf, atmete tief ein und ließ die abgestürzte Mauer hinter sich.