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4) 25. April 1909: Adana
ОглавлениеDie schmerzvollen Gedanken, über die verlorenen Menschen, raubten dem Mönch seinen inneren Frieden. Fragen der Schmerzen und Verzweiflung jagten aneinander. Sekunde für Sekunde, immer ein bisschen mehr ergriff ihn eine nicht mehr zu füllende Leere. Er senkte seinen Kopf dem Altar entgegen, auf dem er sich aufstützte. Seine leeren Augen wanderten von einer Kerze zu der Anderen. Das wärmende Licht der brennenden Kerzen spendete ihm heute keinen Trost.
Seine Augen folgten den zwei Diakonen, die er kurz an den Seiten sah und die wieder sofort hinter dem Altar verschwanden. „Sie werden jetzt ihre Gewänder in den Händen haben“ dachte er und flüsterte die Wörter aus Jesaja:
„Meine Seele soll jubeln über den Herrn, denn Er hat mir angelegt das Kleid des Heils, und mit dem Gewand der Freude hat Er mich bekleidet.“
Langsam und bedacht zogen die beiden Diakone ihre Gewänder über ihre Köpfe, während sie das Flüstern des Mönches begleiteten.
„Wie einem Bräutigam setzte Er mir die Krone auf und mit Schmuck hat Er mich geziert wie eine Braut.”
Sie tauchten mit ihren Gewändern auf und bekreuzigten sich und nahmen auf der linken und auf der rechten Seite des Altars Platz.
Yawsef, der Mönch, stand vor dem Altar in der syrischen Kirche Mor Güvergis in Adana und zelebrierte den Abendgottesdienst. Die Dunkelheit lag wie ein Schatten auf die in mitten des Hauptschiffes sitzenden Gottesdienstbesucher. Drei aus Bienenwachs angefertigte Kerzen vor den Opfergaben erhellten den Altar, den Mönch und die beiden Diakone in ihren weißen Gewändern. Die Kerze vor den Opfergaben zündete der Mönch einen Tag davor an. Diese würde bis zum Ende der Eucharistiefeier brennen. Die Eingangstür der Kirche leuchtete im Licht der wenigen Opferkerzen.
Das Licht der beiden Kerzen am Kreuz flackerte unruhig als die Tür der kleinen, dunklen Kirche sich öffnete. Es war zu spät für die Gottesdienstbesucher, dachte der Mönch. Er würde gleich die Opfergaben in die Hand nehmen und sich zu den betenden Menschen drehen. Begleitet vom Klang der an den Flächen hängenden Glöckchen in Händen der Diakone, würde er noch kurz in Syrisch weiter zelebrieren. Danach wäre der Gottesdienst beendet.
Nach den Ereignissen vom 14. April war der Mönch nicht überrascht, dass die Menschen zu spät zur Kirche kamen. Er war froh darüber, dass überhaupt Besucher da waren. Es glich einem Wunder.
Während der Mönch nach dem Kelch und der Patene griff, dachte er an den Gemeindepfarrer von Mor Güvergis. Er war am 14. April im armenischen Viertel zu Besuch in der Surp Hovannes Kirche. Dort wurde er von einfachen Bürgern, die mit den Christen bis dahin friedlich zusammen lebten, erschossen. Diese Menschen hatten nicht nur die beiden Pfarrer umgebracht, sondern auch hunderte andere Christen, vor allem Armenier litten unter ihnen.
Ein Alptraum auf Gottes Erden. Der Mönch konnte kaum glauben, dass die einfachen Einwohner von Adana und die Mörder dieselben Menschen waren.
Was hatte sie aufgebracht? Diese Frage beschäftige den Mönch.
Am 11. April hatten alle Christen - Katholiken und Orthodoxen - nach 3 Jahren wieder gemeinsam mit viel Freude die Auferstehung Jesu gefeiert. Die Christen hatten sich, an dem schönen Ostersonntag, gegenseitig besucht. Auch viele Moslems freuten sich und feierten mit. Erst begrüßte man sich, dann verteilte man, die Tage zuvor, mit Zwiebelblättern, festgekochten und gefärbten Eier. Ein trauriges Lächeln lag auf seinem Gesicht, als er an das traditionelle Eierschlagen dachte. Am Sonntagnachmittag ging es dann, wie jedes Jahr, für die Kinder hoch her. Viele Eier hatte Lahdo, der Diakon an seiner rechten Seite, beim Eierschlagen ergattert. So lautete die Tradition. Der Gewinner darf nämlich das kaputte Ei des anderen behalten. Auch die Erwachsenen spielten mit. Natürlich ohne das kaputtgeschlagene Ei zu ergattern. Alle Gäste hatten zusammen die geschlagenen Eier gegessen.
Warum wurden diese Menschen, die die Christen zu Ostern besuchten und mit ihnen Eier gegessen hatten, von heute auf Morgen zu Mördern?
Wer und vor allem was, steckte dahinter?
Der Mönch begriff das nicht. Er schüttelte seinen Kopf. Viele Fragen blieben ohne Antworten.
Seine Gedanken wanderten von den Glaubensbrüdern auf den Bergen Sandchak Hakkari, welche von kurdischen Stammesführer Bedirkhan Bey massakriert wurden, zu den 1894-1896 antiarmenischen Pogromen mit über 50 Tausend toten Christen. Er versuchte sich vergeblich einzubilden, dass heute in Adana kein Massaker stattfand.
Er fasste sich an seine Stirn, schüttelte leicht seinen Kopf und versuchte sich auf die Liturgie zu konzentrieren.
Als die rechte Hand des Mönches den Kelch berührte, sah er an beiden Seiten des Altars die beiden Diakone, Malke und Lahdo nach den Stäben der Fläche greifen. Diese elf und vierzehn Jährigen Kinder hatten ihn aus dem über 600 km weit entferntem Dorf Enhil bis hierher begleitet. Die ganze Strecke bewältigten sie zu Fuß. Abends übernachteten sie immer in einem christlichen Dorf und tagsüber marschierten sie weiter. Die Kinder sollten im Internat der syrisch-orthodoxen Kirche von Adana einige Jahre bleiben. Sie hatten vor den Angriffen noch friedlich mit den Kindern gespielt, deren Väter und Brüder später mit Waffen, Schwert und Hacken auf die Christen losgingen.
Die Angst der beiden Jungen, als man ringsherum nur Schreie hörte… Die großen Augen und zitternde Hände beim Anblick der Toten… Die Tränen in ihren Augen, als sie am Tag danach, als die Angriffe aufhörten, ihm bei der Beerdigung der Toten halfen… Diese schrecklichen Bilder spielten sich wieder und wieder vor ihren Augen ab.
Kinder, die mehr gesehen haben, als sie hätten ertragen können.
Legte Gott uns nicht mehr auf, als wir verkraften können? Konnten sie mehr verkraften?
Der Mönch hörte den Klang der Schellen, die die Fläche berührten. Die beiden Diakone hatten die Stäbe schon in der Hand. Es war keine Zeit für Erinnerungen, die sein Herz mit Trauer und Ratlosigkeit füllten.
Es war nicht die Zeit für Fragen, für die er keine Antwort hatte.
Die Diakone waren auf dem Weg in die Mitte des Altars. Dort würden sie auf ihn warten. Der Mönch wusste, dass er jetzt die Patene in die rechte Hand nehmen, sich zu den Gottesdienstbesuchern drehen und zwischen den Beiden Platz nehmen musste.
Im silbernen Kelch sah der Mönch den roten Wein, den er aus Enhil für diesen Zweck mitnahm. Er erntete letztes Jahr selbst die Trauben aus den Weinbergen seiner Eltern. Sein Vater und er stellten den Wein an einem sehr warmen Oktobertag her und füllten ihn in 16 Fässern aus Lehm. Sechs dieser Fässer packte er auf einen Esel und nahm ihn für die lange Reise mit. Unterwegs übernachtete er mit den beiden Diakonen in den Dörfern, in denen sie auch Gottesdienst zelebrierten. Den Pfarren in den Dörfern überließ er fünf Fässer für den Gebrauch während des Gottesdienstes. Ein Fass blieb für die Kirche in Adana übrig. Mit dem Wein des letzten Fasses füllte er den Kelch.
Der Mönch dachte kurz im roten Wein, die Leiche des Pfarrers dieser Kirche gesehen zu haben. Er lag vor der armenischen Kirche Surp Hovannes neben dem armenischen Pfarrer. Beide Pfarrer waren in Adana geboren, spielten, besuchten die Schule und beschlossen auch zusammen den Weg der Geistlichen zu gehen. Den Tod empfingen sie auch zusammen drei Tage nach Ostern, als der jüngere von beiden, der Pfarrer der syrisch orthodoxen Kirche seinen älteren Freund und Weggefährten -wie er es immer sagte- besuchte.
Der syrische Pfarrer hielt sein Ei fest in der Hand. Der armenische Pfarrer schlug mit seinem Ei auf die des Anderen. Das Ei des syrischen Pfarrers zerbrach zuerst. Lachend schälte er sein Ei und wollte es gerade essen. Eine Kugel traf ihn am Herz und sank auf den Boden. Das Ei des armenischen Pfarrers war noch heil, als eine Kugel ihn am Kopf traf. Das von Zwiebelblättern rot gefärbte Ei fiel zuerst auf die trockene Erde neben den Ei-Schalen seines Freundes und dann folgte sein lebloser Körper. Die Hand des armenischen Pfarrers lag auf der seines Weggefährten. Das Blut der beiden Pfarrer floss zwischen ihnen durch und vermischte sich mit der trockenen Erde. Es umgab das Ei, das von der Erde behutsam eingefangen war.
Die leblosen Körper der beiden Pfarrer waren zum Kelch ihres Blutes geworden.
Der Mönch schüttelte langsam seinen Kopf, wollte sich nicht mehr an das Blut im Kelch erinnern und schloss seine mit Trauer erfüllten Augen. Er drückte seine Finger auf den Kelch in seiner Hand und fühlte die Bruchstücke der auf dem Kelch platzierten Diamanten, welche, wie scharfen Dornen in seine Haut stachen. Seine Augen beobachteten im schwachen Kerzenlicht die sieben Bruchstücke als Symbol für die sieben Sakramente.
„Hilf mir, Heilige Jungfrau Maria“ betete er leise. „Der Kelch, der geheimnisvoll Dich darstellt und Du, Jesus, für dein Blut dieser Wein im Kelch steht, helft mir!“
Am 14. April war Adana der Kelch, gefüllt mit dem Blut der Christen.
Der Mönch hielt die liturgischen Geräte fest in der Hand und war dabei sich zu den Gläubigen zu drehen. Seine Augen blieben in der Dunkelheit des Kirchenschiffes links vom Altar stehen. „Warum?“ fragte er sich. Warum hatten die Soldaten erst nachdem die Sonne längst untergegangen war, eingegriffen? Nach und nach begriffen die Armenier was los war. Nach und nach hatten die Armenier angefangen sich, mit dem was sie hatten, zu verteidigen.
Am Abend, als die Dunkelheit ihre Schatten längst über die Stadt erstreckt hatte, gab es die heftigsten Gefechte. Es gab viele Tote auf beiden Seiten. Als in dieser Finsternis die Soldaten auftauchten, hörten die Gefechte sofort auf. Um weitere Angriffe zu vermeiden, wurden sowohl die Moslems als auch die Christen entwaffnet. Die Entwaffnung dauerte bis in den nächsten Tagen. In Tarsus, Ceyhan… im ganzen Adana-Distrikt hatten die Soldaten Waffen eingesammelt.
Der Mönch dachte an die Berichte über das Geschehen in Istanbul am 26. August 1896, wonach die Mörder dort organisiert und in Absprache mit den Behörden handelten. Das war hier, in Adana, nicht der Fall gewesen. Die Soldaten waren es, die die Waffen gesammelt hatten. Durch ihr auftauchen waren die Gefechte beendet. Seit dieser Stunde gab es keine Angriffe mehr.
Seit den frühen Stunden des 15. April war es in und um Adana sehr ruhig geworden. In den Tagen bis zum Weißen Sonntag wurden die Toten beerdigt. Die Überlebenden fingen an, ihrer täglichen Arbeit nachzugehen.
Die Stille jedoch störte den Mönch.
Es gab Tote! Viele Tote! Die vom Frühlingsregen gewaschene Erde war davor mit Blut getränkt worden. Um ihn gab es viele Kinder ohne Väter und Mütter.
Er verstand nicht, warum Stille herrschte! War es Scham? Schlechtes Gewissen? Hatten die Angreifer überhaupt ein Gewissen? Waren sie selbst nicht stolze Väter?
Warum hatten die Menschen den Durst der Erde mit dem Blut gestillt?
Er schloss seine Augen, beugte sein Kopf nach vorne und versuchte tief ein und auszuatmen. Die Ortsnamen Hakkari, Tuhuma, Cilo und Baz gingen ihm immer wieder durch seinen Kopf. “Lizan!” sagte er leise und erschrak! Er war in der Kirche am Altar! Hörte er Schreie? Tauchten Menschen vor seinen Augen auf, die ihre Hände zu ihm streckten? War er am Altar? Weinende Kinder liefen an ihm vorbei! War er am Berg-Lizan? Sollte er nicht in der Kirche, am Altar sein?
Seine Gedanken, an Liturgie in der Kirche in Adana, verflüchtigten sich wie Rauch, an einem windigen Tag am Lizan-Berge. Die Ost-Syrer, Angehörige der Nestorianischen Kirche, hatten sich auf dem Bergregion Lizan verschanzt. Nach drei Tagen Belagerung versprach Bedirkhan Bey freien Geleit, falls sie sich ergeben sollten. Dabei schwor er auf das heilige Buch der Moslems.
Wer sich ergibt, sollte überleben, so lautete die Vereinbarung. Die Ost-Syrer ergaben ihre Waffen. Was danach folgte war ein Massaker.
Alle entwaffneten Menschen wurden massakriert!
Der Mönch sah, dass seine Hände zitterten. Er hörte für ein paar Sekunden auf, an die Toten zu denken.
Die Lebenden brauchten ihn!
Die Lebenden warteten auf ihn.
Die Lebenden weilten still in der kleinen Kirche.
Langsam kehrte ruhe in seinen Gedanken ein.
Zu seiner Rechten sah der Mönch zuerst, den, mit vierzehn Jahren sehr erwachsenen, Lahdo an. Das blasse Licht fiel kurz durch das Fenster der Kapelle auf sein Gesicht. Er lächelte dem Jungen zu. Lahdo stand mit dem Stab der Fläche in der Hand ruhig da und war bereit, die kleinen Glöckchen an der Fläche klingeln zu lassen.
Bei dem Gedanken an den Klang der Glöckchen, sah der Mönch für einen Augenblick das Licht der Schüsse der Nacht vom 14.April erhellen. „Hör auf!“ sagte er zu sich! „Hör auf! Die Waffen sind weg! Denke an Lahdo und seinen Neffen Malke! Denke an die andere Kinder und Gläubigen in dieser Kirche! Denke an die Lebenden.“
Bald ist es vollbracht, dachte er. Er musste das zelebrieren, wozu er den Kelch und die Patene in die Hand nahm: “Nehmet, esset, das ist mein Leib, der für euch gebrochen wird, zur Vergebung der Sünden.” Und ebenso: “Trinket alle daraus, das ist mein Blut des Neuen Testamentes, das für euch und für viele vergossen wird, zur Vergebung der Sünden.” Vorher musste er in die Mitte des Alters gehen. Vorher noch drei Schritte…
Der Mönch wendete seinen Blick von Lahdo zu den wenigen Gläubigen, die am Abend des 25. April still in der Kirche saßen. Die drei neuen Besucher warteten an der Tür der Kirche. Die Tür stand noch offen. Er wollte warten, bis sie sich setzten. Etwas störte ihn an diesen Menschen. „Diese Männer sind bewaffnet“, dachte er! Er wollte den Männern sagen, dass in einem Gotteshaus die Waffen nicht erwünscht waren. Er fühlte, dass sie etwas auf ihn und seinen Diakonen richteten. Dann sah er den Turban auf den Köpfen der Männer vor der Tür.
Es wimmelten hunderte Fragen im Kopf des Mönches. Was war los? Warum waren die Menschen an der Tür noch bewaffnet? Hatten die Soldaten nicht alle Menschen entwaffnet? Waren sie vielleicht zum Schutze der Gläubigen hier? Warum waren dann ihre Waffen auf ihn und seinen beiden Diakonen gerichtet? …
Er glaubte erst ein Licht, dann wie ein Donner und weitere zwei Lichter an den Waffen der Männer gesehen zu haben, bevor er über der Brust seines Schützlings, einen roten Fleck am weißen Gewand bemerkte. An diesen Fleck konnte er sich nicht erinnern. Die Bilder mit dem fröhlichen Gesicht von Lahdo gingen an ihm vorbei. Dieses Gewand war vorher rein, wie das Herz von einem Kind sein kann.
Das Orarion, der vier Meter lange und 12 Zentimeter breiter Schall, der gekreuzt über dem Gewand von Lahdo lag, blieb am Stab hängen. Die beiden Enden des Orariums flogen in der Luft zwischen seinem Diakon und dem Stab. „Wie die Flügel eines Rachengels“ ging durch seinen Kopf.
Lahdo fiel nicht auf den Boden. Er stützte sich auf den Stab der Fläche, die wie eine Krone über den Stab befestigt war. Er sah zu seinem Neffen, der vor ihm auf dem Boden lag. Zu seiner linken eilte der Mönch zu ihm. Er griff nach dem Stab der Fläche in seinen Händen. Schatten bewegten sich in der dunklen Kirche. Die Sonne schien warm hinter einem dichten Eichenbaum. Die Dunkelheit wich ab. Die Schatten verblassten sich. Es wurde hell um ihn. Ein Engel stand lächelnd da. Als er seine Hand zu ihm streckte, hörte er den Mönch mit seiner kräftigen Stimme „Vergib mir meine Sünden, Vater!“ schreien. Der Stab mit der Fläche war nicht mehr in seiner Hand. Ein Engel begleitete ihn auf seinem Weg. Kurz horchte er in die unendliche Weite. Hörte er dumpfe Menschenschreie? Früher weinte er aus Angst, wenn er Menschen schreien hörte. Gerade hatte er keine Angst! In den Händen des guten Hirten fühlte er sich geborgen.
Der Mönch verriegelte die Tür der Kirche und lief mit dem Stab in der Hand zu Lahdo. Er holte seinen Leichnam und legte ihn in die Öffnung hinter den Altar, wo sich das Weinfass befand. Die Patene und der Kelch leuchteten im Kerzenlicht auf dem Boden vor dem Altar. Er trank den Wein und säuberte erst den Kelch, dann die Patene. Wie die beiden liturgischen Geräte, legte er auch die, die am Altar waren, neben den Leichnam. Zuletzt nahm er auch den Stab von Malke, der an der Schulter verletzt vor dem Altar stand. Schnell legte es auch neben den Anderen. Der Stab mit der Fläche von Lahdo blieb in seiner Hand. Er entfernte nur die Schellen und ließ sie hinter dem Altar verschwinden. Den Altar schmückten nur noch die drei Kerzen, die unbeeindruckt vom Geschehen Licht spendeten. Eine nach dem anderen wurden die wenigen Opferkerzen von den Gläubigen ausgemacht. Die Kirche verfiel in einen tiefen Schlaf.
Die wenigen Menschen in der Kirche blieben bei dem Mönch. Draußen hörten die Schüsse den ganzen Tag nicht auf.
Der Mönch glaubte, dass an diesem Tag mehr Waffen eingesetzt wurden als am 14. April. Woher kamen die Waffen? Wer setzte sie ein? Waren nicht alle Waffen eingesammelt worden? Waren die Berichte über den 26. August 1896 doch wahr? Waren die Mörder doch organisiert und arbeiteten mit den Soldaten des Kalifen?
Mehrmals versuchte man in der Kirche einzubrechen. Der Mönch stand hinter der Tür und wartete mit dem Stab in der Hand auf den ersten bewaffneten Mann, der durch die Tür kommen würde.
Ein paar Bluttropfen waren auf seiner Hand bereits getrocknet. Sie weckten weitere Erinnerungsbilder aus längst vergangenen Zeiten in ihm. Seine kleinen Kinderhände standen mit Blut befleckt vor ihm und er weinte.
Das kleine Fenster unter der Decke der Kirche verriet die Zeit. Die Sonne ging unter und der Mond erhellte die kleine Kirche. Dann wurde es wieder still.
Der Mönch sprach ein Gebet, während er hinter dem Altar sein Gottesdienstgewand gegen die schwarze Mönchskutte wechselte. Er schraubte den Stab auseinander und befestigte die drei Teile unter seiner Kutte an seinem Körper. Er band die Metallscheibe der Fläche an seine Brust über sein Herz. Er wollte sich mit Malke auf den Weg nach Enhil machen. Die Gläubigen wollten in der Stadt, in Adana bleiben. Diese Stadt war der einzige Ort, den sie kannten und wo sie in Würde sterben wollten.
In den späten Nachtstunden machte der Mönch die schwere Tür der Kirche auf. Er horchte in die Nacht.
Der Wind rauschte in der Stille der Nacht, welche immer wieder von Schüssen durchdrungen wurde.
Er kannte diese Geräusche. Als kleines Kind lag er stundenlang auf dem Dach im Bett und beobachtete die Sterne und horchte der Stille und dem Rausch des Windes um ihn, bis er einschlief. In diesen Stunden war er sehr glücklich. Auch als kleines Kind sah er die Wucht der Waffen. Die Zerstörungskraft dieses Undinges hatte ihn beängstigt. Er verharrte reglos, kniff die Augen zusammen, um in der Dunkelheit etwas zu sehen und horchte weiter nach den Geräuschen, die ihm aus seiner Kindheit sehr bekannt waren. „Sie waren weit Weg aber nicht weit genug für die Menschen, die in diesem Moment durch die Kugel getroffen wurden“ dachte er.
Eine Angstwelle durchfuhr ihn bei den Gedanken an die Kinder, Frauen und Männer, die vor diesem Unding standen und zusahen, wie die Kugel die Waffe verließ und auf sie zuflog und da, wo sie traf, Unheil anrichtete. Das Blut dieser Menschen sah er sich auf dem Boden ausbreiten.
Der Zorn ergriff ihn wie am ersten Tag, als er einen toten Vogel in der Hand hielt, der durch die Waffe seines Großvaters tötete. Er war es, der die Waffe auf den Vogel gerichtet und geschossen hatte.
Alle Gläubigen küssten seine Hand und ließen sich von ihm segnen. Er beobachtete sie. Einer nach dem anderen sah er sie in der Dunkelheit verschwinden. Die dunkle Nacht war ihre Verbündete.
Die drei Leichen brachte er raus aus dem Gotteshaus und legte sie, eine Straße weiter, auf den Boden. Den mit Blut befleckten Boden der Kirche machte er anschließend sauber.
Bevor er mit Malke die Kirche verließ, schaute er zum Altar. Da wo die Opfergaben standen, leuchtete immer noch die Kerze aus Bienenwachs. Beide bekreuzigten sich und schlossen die Tür hinter sich. Der Sternenhimmel in die Richtung, die aus der Stadt führte, war vollkommen klar. Malke zeigte dem Mönch die schwarzen Wolken über das westliche Teil der Stadt. Er wusste, dass diese Rauchwolken waren.
Schwarze Rauchwolken bedeckten wie ein Leichentuch das armenische Viertel.
In dem Rauch lauerte der Tod bis zum späten Abend des 26. April 1909.
Der 14. April war nicht das Ende. Es war vielmehr der Anfang vom Ende für die Armenier, die sich verteidigt hatten.
Später würde er sagen, dass beide aus den Tiefen der mit christlich, überwiegend armenischem Blut befleckten Stadt ausgestiegen, glitten sie in der Dunkelheit von Adana nach Osten.
Seine Gebete hatten sich erfüllt: Der Weg nach Osten war frei.
Als beide außerhalb der Stadt waren, drehten sie sich um und schauten nach Adana. Die Morgendämmerung erhellte die Dächer. Nur im Westen, am armenischen Viertel, durchdrang die Morgendämmerung nicht der schwarze Rauch.
Als der Mönch zu dem kleinen Jungen links von ihm schaute, waren Tränen in seinen Augen. Konnte das wahr sein? Wollte er wirklich diese Lösung? Auf dem Weg nach Osten hatte sich eine Leere in seinem Herzen ausgebreitet, die nach und nach von stillen Schreien der Kinder gefüllt wurde. Schreie, die unerhört bleiben würden, wenn er weg wäre.
Er fühlte sich wie ein schlechter Hirte, der weder bei Einem noch bei 99 Schafen war.
Malke verstand es nicht. Als er weiter gehen wollte, bewegte sich der Mönch nicht und beobachtete weiter die schwarze Wolke über den westlichen Teil der Stadt.
Die Bilder des toten Vogels in den Händen des kleinen Kindes, gingen durch seinen Kopf. Der letzte Schrei des kleinen Spatzen war wie der Schrei der Kinder, die in den letzten Tagen hier in Adana zu weisen geworden waren. Sie brauchten Hilfe. Für den kleinen Spatzen hatte er nichts mehr machen können. Aber für die Kinder, die, vor ihm, in der Stadt allein waren, schon. Es war so, als ob er in dem Moment die stillen Schreie dieser Kinder hörte.
„Nein, nicht jetzt! Enhil kann warten! Ich werde hier gebraucht!“ sagte er leise und lief zurück nach Westen.
Malke sagte nichts. Er folgte ihm. Die Richtung überraschte ihn nicht! Er hatte keine Angst vor dem, was auf sie in der Stadt wartete.
Stille Schreie begleiten den Mönch auf dem Weg zu der Stadt, die nach dem Tod roch.
Die Bilder der Kinder vor den Leichen ihrer Eltern ersetzten nach und nach die Bilder des toten Spatzen. In der Stadt bekamen die stillen Schreie erst ein Gesicht dann eine Stimme. Er war ruhig und hörte zu. Seine geballten Fäuste, als er mit Malke auf dem Weg nach Osten war, waren jetzt in der Stadt entspannt, wie die Hände des Vaters, bevor er seine Kinder streichelt. Wie der gute Hirte führte er die Kinder zum Haus des Herrn.
Die stillen Schreie hatten ihr Licht gefunden.
In der Kirche angekommen, beerdigte er Lahdo im Garten, vor der Kirche und dann verfasste er einen Brief an den Patriarchen der syrisch-orthodoxen Kirche von Antiochien, Mor Abdullah II, mit Sitz im Kloster Mor Hananya in Mardin und bat ihn einige Jahre in Adana bleiben zu dürfen. Er wollte ein Waisenhaus für die Kinder in Adana aufbauen. Erst danach wollte er den Heimweg wieder antreten.
Ein Neubeginn voller Sehnsucht nach innerem Frieden und Liebe zu den Weisenkindern ließ ihn in Adana bleiben. Mit diesem Neubeginn würden die stillen Schreie seines Herzens inneren Frieden finden. So hoffte er auf eine offene Tür bei dem Herren. Dennoch etwas trübte dieses Frieden. Das Gefühl, er könne nicht so einfach aus seinem heutigen Leben hinaustreten, begleitete ihn die ganze Zeit. Hinein in das Licht der Vergebung war einfach aber nicht hinaus aus seinem alten Leben.
Sein altes Leben musste er erst hinter sich lassen. Erst dann wäre er neugeboren.
Während er den Brief schrieb, dachte er weiter an dem Rauch über das armenische Viertel und freute sich, dass diese Kirche verschont geblieben war. Die Gedanken, es konnte noch bevorstehen, verflüchtigten sich immer wieder schnell. Seine Entschlossenheit hier zu bleiben zerstreute all diese Gedanken.
Nicht weit von der syrischen-orthodoxen Kirche stand der alte Mann vor dem Fenster und horchte der Stille der Abenddämmerung des 27. April. Das Läuten einer Glocke unterbrach die Stille und füllte sein Herz mit Freude. Mit jedem Klang der Glocke rollten mehrere Tränen über sein Gesicht. Er nahm seine Mütze und lief in die Richtung der Kirche. Das Tor der Kirche war weit offen. Der Mönch stand vor dem Tor. Viele Öllampen erhellten die Kirche. Er empfing die Gläubigen mit einem Händeschütteln. Dem alten Mann war aus lauter Freude seine Kehle zugeschnürt, als er die Hand des Mönchs in seinen festhielt. Seine Tränen flossen ununterbrochen. Er ging rein, setzte sich auf den Boden in der Kirche und wartete auf den Gottesdienst.
Für einen Moment vergaß er die Toten auf den Straßen.
Für einen Moment wollte er nicht trauern wie die anderen, die keine Hoffnung haben. Denn alles ist zur Belehrung der Gläubigen geschrieben, damit sie durch Geduld und durch den Trost der Schrift Hoffnung haben.
Er hoffte weiter von einem Leben in der Stadt, zusammen mit den anderen Nachbarn, die nicht an Jesus glaubten.
Er wollte weiter hoffen.
Schnell füllte sich die kleine Kirche mit Frauen, Männern und Kindern. Die braun schwarzen Augen strahlten keine Angst sondern Freude aus.
Der Mönch schloss die Kirchentür, als es in der Straße still wurde. Langsam ging er zum Altar.
Es waren mehr Menschen in der Kirche als ein Tag zuvor.
Am Ende des Gottesdienstes machte der Mönch die Kerze, die er vor drei Tagen vor Opfergaben angezündet hatte, wieder aus und begab sich zu den Gläubigen, die sich noch in der Kirche aufhielten.
Der gute Hirte kam zurück, um seiner Gemeinde im dunkelsten Stunden ihres Lebens beizustehen. Er wollte das Licht und die Stimme der stillen Schreie werden, hinaus über das westliche Teil der Stadt, hinaus über die Grenzen der Stadt.
Draußen brauten sich dunkle Wolken zusammen.
Still verteilten sie sich in alle Richtungen und verwandelten den Himmel in ein Meer aus Grautönen.