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2) Juni 1896: Mardin

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Kapago saß auf der Mauer, versteckt hinter dem dicken Stamm des Maulbeerbaumes und beobachtete die Kinder im Hof, wie sie Steinstücke zu einer Murmel formten. Das pummelige Kind bewegte eine große Murmel in seiner Hand gegen einen Stein hin und her, um das grobe an der Murmel zu entfernen. Ein großer Junge legte eine andere Murmel in einem kugelrunden Platz auf einem Stein, drehte die Murmel mehrmals, hob sie hoch, überprüfte es und druckte sie gegen den Stein und drehte sie wieder und wieder. Mehrere in den stoffgewickelte Murmeln lagen an der Wand eingetunkt in Butter. Alle Stein-Murmeln in den Händen des dritten Kindes glänzten in der prallen Mittagssonne. Blau, Rot, gelbliche Adern schmückten alle Murmeln. Sie hinterließen beim Rollen, über die trockene Erde, eine gerade Linie. „Sehr schön!“ flüsterte Kapago, dessen Augen beim Anblick auf die Murmeln ebenfalls glänzten.

Kapago hörte Stimmen hinter sich, drehte seinen Kopf und sah fünf Männer, die flüsternd, außerhalb des Hofes, entlang der Mauer, weiter liefen. Er wandte sich wieder zu den Kindern, die immer noch alleine im Hof spielten. Die Erwachsenen waren in den kühlen Zimmern und ruhten sich aus.

Keiner der Erwachsenen würde jetzt bei der Hitze raus kommen. Sie redeten mit einander, spielten oder schliefen in den kühlen langen Zimmern des Hauses.

Eine Murmel rollte in die Richtung von Kapago. Fröhlich sprang er in den Hof, während seine Hand in seiner linken Tasche verschwand.

Erschrocken schauten alle Kinder zu dem Kind, mit den grau gewordenen Kleidern, welches vor ihnen neben dem Maulbeerbaum stand und lächelnd die Murmel beobachtete, die vor seinen Füßen stehenblieb.

„Dadchig – Moslem-?“ fragte flüsternd das pummelige Kind und beobachtete wie der Junge seine linke Hand aus seiner Tasche zog.

Kapago holte zwei kleine Murmeln aus seiner Tasche, lief mit großen Schritten zu den drei Kindern, hielt sich in der Reihe neben dem Pummeligen, drehte sich zu den Murmeln im Hof, kniete sich nieder, nahm eine Murmel in seine rechte Hand zwischen den Daumen und Zeigefinger und ließ sie in die Richtung der anderen Murmeln rollen.

Das laute Lachen der Kinder wurde immer lauter. Kapago wusste warum. Nur seine Murmel hinterließ eine krumme Linie auf seinem Weg zu den anderen Murmeln. Er kratzte sich an seinem Hinterkopf und lachte mit.

„Nicht gut gerundet!“ sagte das große Kind neben dem pummeligen und lachte weiter.

Das große Kind nahm eine dunkel blau adrige Murmel in die Hand, als das Tor laut aufging. Verständnislos schaute Kapago auf die fünf Männer, während die drei Kinder schreiend zu den Treppen liefen.

Der erste Mann machte drei Schritte, in die Richtung der drei geflüchteten Kinder, als das vierte Kind, mit den dreckigen Kleidern, sich vor ihn stellte. Irritiert schaute der Mann zu dem Kind vor ihm, das fruchtlos in seine Augen blickte. Zorn erfüllt schlug er auf dessen Gesicht. Das Kind fiel auf den Boden, seine rechte Backe war rot und brannte, als er wieder aufstand und ein weiteres Mal ihm den Weg versperrte. Ein zweiter Schlag prallte auf das Gesicht. Das Kind stolperte, blieb aber mit Mühe, vor den Treppen, stehen.

Kapago wusste, er konnte es mit dem Mann, dessen Gesicht durch eine lange Narbe furchteinflößend wirkte, nicht aufnehmen. Er musterte erst seinen Gegner, dann die Umgebung. Hinter ihm standen noch vier weitere Männer, die sich in das Geschehen nicht einmischten. Das war ein gutes Zeichen. Er brauchte Hilfe. Er schaute um sich. Sein Gegner machte ein Schritt auf ihn zu. Etwas glitzerte an seiner Hüfte. War das, woran er dachte? Schnell lief Kapago auf seinen Gegner zu und klammerte sich an seine Hüfte. Der Mann schlug mehrmals auf seinen Rücken. Plötzlich ließ Kapago den Mann los und entfernte sich einen Schritt zurück.

Überrascht hörte der Mann, mit der Narbe, wie das Kind vor ihm „Allah u Akbar“ schrie und seine Hand ihn mehrmals traf.

Es war zu spät, bis der kräftig gebaute Mann verstand, was da vor sich ging. Der Dolch in der Hand des Kindes traf mehrmals die Brust des Mannes, der zu seiner Gruppe angehörte.

Still fiel der Mann, der das Kind angegriffen hatte, auf den Boden.

Kapago drehte sich zu den anderen Männern, streckte seine Hand hoch und wartete mit dem blutigen Dolch in der Hand auf sie. Er sah, wie der kräftig gebaute Mann mit dem grauen Bart die anderen drei Männer zurückhielt. Würden sie alle zusammen angreifen?

„Ich bin Abdülbaro. Hamidiye Anführer…“ Sagte der Mann mit ruhiger Stimme, während er die anderen Männer zurückhielt.

„…Wir werden dir nichts antun!“ fügte er noch sanfter.

Auf Kapago wirkten diese Wörter wie ein Befehl für die anderen drei Männer. Alle warteten. Keiner bewegte sich.

Konnte er den Männern vertrauen? Hatte er eine andere Möglichkeit, als diesem Mann zu vertrauen?

„Du bist doch Moslem! Was machtest du bei den Gavurs – Ungläubige-?“

„Ich wollte Murmeln spielen!“

„Warum wolltest du denn sie beschützen?“ fragte Abdülbaro lachend.

„Sie waren meine Spielkameraden“ sagte Kapago erleichtert, als er das herzliche Lachen des Mannes hörte.

„Spielst du oft mit diesen Kindern?“

„Nein, nur heute.“

„Hast du Eltern?“

„Nein“ sagte Kapago mit traurigen Augen.

„So wie du dreckig bist, sagst du die Wahrheit. Komm mit! Werde mein Schüler! Ich bringe dir bei, Köpfe zu rollen anstelle Murmeln! Vor allem armenische Köpfe.“

„Warum köpfen wir sie ab? Sind die Armenier schlecht?“ fragte Kapago, während er kniete und eine Murmel mit blau roten Adern hoch hob.

„Ein Bauer tötet doch seine Hühner auch! Oder? Wenn ein Bauer Fleisch braucht, geht er zu seinen Hühnern, sucht sich ein zwei oder drei Hühner und schlachtet sie ab. Wenn er mehr braucht auch mehr.

Wenn einige laut sind und abends seine Schlaf stören, dann tötet er diese zuerst. Wie ein Herr in diesem Haus, der zu viele Gedanken über die Zusammenarbeit der Gavurs hat und sie laut ausspricht. Das können unsere Herren nicht dulden! Er muss eine Lektion bekommen, damit die anderen wissen, was passiert, wenn sie seine Ideen aufgreifen. Er muss einfach schweigen.

Oft hat der Bauer keine Zeit, um selbst seine Hühner zu schlachten. Er schickt mal seine Kinder mal seine anderen Verwandten zu den Hühnern, damit sie sie töten und sich satt essen. So werden seine Kinder und seine Verwandten dem Bauer dankbar sein und ihm Gefallen schulden.

Wir sind wie die Verwandten der Bauer, der unsere Walis, Beys und Aghas sind.“

„Was sagt der Sultan dazu?“

„Der Sultan!? Er macht nichts anderes als wir.

Wenn wir Hühner jagen, dann liegt oft ein Befehl von oben vor. Wenn kein Befehl vorliegt, dann halte dich von den fettesten Hühnern fern. Begnüge dich mit den schwachen, armen Armeniern. Die reichen können zurückbeißen. Sie haben auch Beys und Aghas, die sie beschützen.

Der Sultan braucht keinen Befehl von oben. Über ihn steht niemand. Er braucht auch nicht zu jagen. Unter ihm sind die fettesten Hühner, die ihn freiwillig und immer ernähren.“

„Können wir auch Moslems wie die Armenier jagen?“

„Wozu die Mühe? Die Armenier sind doch viel reicher als die Moslems. Sie haben viel mehr Hab und Gut! Wozu die armen Schweine angreifen, wenn es reichere und gleichzeitig schutzlosere gibt?“

„Warum sind sie schutzlos?“

„Warum? Weil sie nicht Moslems sind. Wir, die Moslems sind eben immer die Bauer und die Gavurs unsere Hühner.“

„Warum töten wir sie nicht alle? Auf einmal!“

„Auch wenn sie schutzlos sind, sind sie doch nicht nutzlos! Ein Bauer tötet doch auch nicht all seine Hühner! Er muss ernährt werden. Wer soll ihn ernähren, wenn alle tot sind? Sie sollen arbeiten, wie die Sklaven. Immer, wenn wir wollen, schlachten wir, nach Bedarf, einige ab. Das ist auch gut für uns. Und die Hühner haben die Hoffnung, unter uns überleben zu können. So werden sie immer für uns arbeiten.

Wenn du Hab und Gut brauchst, finde einen Grund und nimm es von den Gavurs, das ist besser als von den Moslems.

Wenn du eine Frau brauchst, nimm es die schönsten Frauen der Gavurs. Wenn du sie entführst, gehören sie schon dir. Du brauchst nicht mal Brautpreis zu zahlen. Die schönsten und ohne Brautpreis! Was will man mehr?

Aber wer weiß. Vielleicht irgendwann mal werden wir alle abschlachten. Jaaaa! Wer weiß…“

„Seit wann ist das so?“

„Das war schon immer so. Schon unsere Väter, Urväter nahmen das, wann und was sie wollten.“

„Haben sie denn nie NEIN gesagt? Die Hühner, die Armenier, die Gavurs, meine ich.“

„Mein Vater erzählte, dass zu den Zeiten von Bedirkhan Bey viele Syrer sich erhoben, weil sie ihre Kopfsteuer zu hoch fanden. Es hat trotzdem nicht geholfen. Bedirkhan Bey war erbarmungslos. Viele Tausend ließ er töten.

Letztes Jahr in Diyarbekir beschwerten sich die Armenier, dass ihre Winterweiden von moslemischen Hirten benutzt wurden. Wir waren in Diyarbekir auch gnadenlos.

Nein! Das hat nicht geholfen. Gar nicht. Sie wurden dafür bestraft. Es ist auch gut so! Die Hühner dürfen nicht nein sagen. Sie müssen immer alles über sich ergehen lassen…“

„Aber es waren doch ihre Winterweiden! Warum sollen sie ihr eigenes Gut nicht verteidigen?“

„Nichts gehört den Ungläubigen! Gar nichts! …Du stellst Fragen, Junge! Das ist nicht gut! Zu viele Fragen können gefährlich werden.

Ja! Die Armenier, die Gavurs sind sehr schlechte Menschen! Sie sind keine Moslems.“

Kapago verließ an der Seite von Abdülbaro den Hof, als er ihn „…aber vor allem sind sie Reich. Und sie werden uns Reich machen“ sagen hörte.

Auf der Straße drehte sich Abdülbaro zu den drei Männern hinter ihm.

„Verbreitet in der Gegend, dass diese Gavurs einen gläubigen Moslem umgebracht haben! Der laute Herr in diesem Haus soll so seine Lektion bekommen.“

Fünf Straßen weiter durchdrangen „Allah u Akbar“ Schreie die Stille der Mittagshitze.

Die Mittagssonne folgte still den Schreien von Mardin.

An diesem Tag, beim Sonnenuntergang, schwiegen die Glocken wie auch die Minaretten.

Über die Nacht leckten die Armenier ihre Wunden. Die Toten gehörten der Vergangenheit an. Mit dem neuen Tag ging das Leben für die lebenden weiter. Viele blickten ängstlich zurück und sahen die dicken Narben. Viele Nachbarn streckten still ihre Hand und halfen den Verbliebenen. Wenige erhoben ihre ängstlich stille Stimme. Viele tadelten laut die Menschen, um weitere Narben zu verhindern.

Erst mit dem neuen Tag hörte Kapago die Gebetsrufe der Moslems und der Christen.

An diesem Tag spielte er alleine in dem kleinen Zimmer von Abdülbaro, der sein Lehrer wurde. Er ließ sich von den blau-roten Adern des runden Steins verzaubern.

Stille Schreie

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