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Warten

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1. Juni 1991

Liebste Monia,

ich warte und warte und warte! Seit Wochen kommt kein Brief mehr von Dir. Ich wollte mich nicht aufdrängen, deswegen habe ich so lange damit gewartet, noch einmal zu schreiben. Doch nun halte ich es nicht mehr aus und muss nachfragen. Was ist passiert? Geht es Dir gut? Ich mache mir solche Sorgen. Was ist nur los? Ich habe Angst, das muss ich zugeben, dass Du nicht mehr kannst, die Liebe langsam erlischt. Mein Engel, ich wäre zwar traurig, aber ich Dir nicht böse, wenn es so wäre. Ich will nur eines: dass Du glücklich bist. Doch die Ungewissheit lähmt mich. Jayden scheint es zu merken. Er ist unruhiger in meiner Nähe. Ich gebe mir die Schuld dafür. Es ist ja auch meine Schuld. Bitte melde Dich kurz.

In Liebe, Dein Tom

Aufgewühlt holte Marley den nächsten Brief hervor. Sie musste wissen, wie es weiterging. Der Brief war datiert auf den 20. Dezember.

Liebste Monia,

ich danke Dir von Herzen für Deine Zeilen und diese wundervolle Weihnachtskarte mit den Sternbildern, die unsere schönsten Fotos in Miniaturansicht in sich tragen. Ich werde sie in Ehren halten und habe Dir auch etwas beigelegt. Du hast Dich so lange nicht mehr gemeldet. Hast du meine anderen Briefe nach dem 1. Juni nicht erhalten, da Du sie nicht erwähnst? Es tut mir leid, dass Deine Eltern herausgefunden haben, dass die Stimme auf dem Anrufbeantworter meine war. Ich dachte, der Satz „Bitte melde dich kurz, Monia“ erregt kein großes Aufsehen, zumal ich mit verstellter Stimme und, wie ich hoffe, ohne Akzent gesprochen habe. Ich habe vorher viel geübt. Nun bin ich froh, dass Du mir nicht böse bist, sondern es rührend, wenn auch dumm gefunden hast. Ja, das war es. Zum Glück scheinst Du Deinen Humor dennoch nicht verloren zu haben.

Nun, es macht mich nur sehr traurig, wenn Du schreibst, dass sie Dich nun noch mehr überwachen. Sie wollen, dass Du wirst wie Deine ältere Schwester Eleonor. Sie ist im Grunde auch eine Gefangene der Pflicht. Aber vielleicht macht es ihr wirklich Spaß. Doch Du bist kein Baum, sondern ein Vogel. Das wissen wir beide. Du bist wie ich!

Schon seltsam. Man könnte meinen, unsere Eltern leben teilweise noch im Mittelalter. Ich gehorche (größtenteils und noch!) wegen Jayden. Doch er wird älter und eines Tages selbst entscheiden können, bei wem er bleiben will. Es ist schön zu sehen, wie sehr er an mir hängt. Und ich an ihm. Sonst wäre ich schon längst weg, denn Avery sieht mich hauptsächlich als Gewinn.

Doch Du, Du kannst früher ausbrechen. Damit meine ich nun nicht, dass Du Dich für mich entscheiden sollst (obwohl ich mir das wünsche. Nach wie vor glaube ich, gemeinsam könnten wir eine Lösung finden. Mein Gott, wie oft schreibe ich das noch? Entschuldige!), sondern dass Du den Weg zu Deinen Sternen einschlagen sollst, die Du so liebst. Folge ihnen. Und vielleicht kann Dir einer davon Mut schenken, und wenn schon nicht das, dann wenigstens Trost. Ich werde immer Dein Freund bleiben. Da sei Dir sicher. Du könntest jederzeit zu mir kommen. Egal was ist. Okay? Ich hoffe, das kleine symbolische Geschenk gefällt Dir. Dadurch werden wir nie wirklich getrennt sein. Für immer Dein!

Ich bin nun oft in der Werkstatt, diesem Fass ohne Boden. Jayden nehme ich meistens mit. Avery hat kaum Geduld mit ihm. Er scheint sich dort außerdem richtig wohl zu fühlen und macht immer ganz große Augen, wenn ich ihm Schrauben und Werkzeug zeige. Ich habe ein paar Oldtimer hereinbekommen, die ich reparieren soll. Das wird gutes Geld einbringen. Avery ist seitdem auch nicht mehr so nörglerisch, was die Übernahme der Werkstatt betrifft. Selbst ihre Eltern halten sich zurück.

In immerwährender Liebe und Freundschaft, Tom

Die Zeilen, jedes einzelne Wort, brannten sich in Marley fest. Wie musste es da erst Monia ergangen sein? Immer besser verstand Marley die kleinen Hinweise, die ihre Tante ihr gegeben hatte, und auch all die Ratschläge ergaben nun einen noch tieferen Sinn. Einmal mehr war sie sich sicher, dass ihr Vorhaben richtig und notwendig war.

Sie blickte in die Schachtel. Das nächste Kuvert war ein goldener Umschlag, und als sie ihn öffnete, wusste sie, dass es das Weihnachtsgeschenk war, von dem Tom geschrieben hatte. Eine Urkunde auf edlem, festerem Papier mit Wellenrand kam zum Vorschein. Über einem Meer prangte ein silbern schimmernder Mond, den Sterne begleiteten. Einer von ihnen leuchtete am hellsten und befand sich nahe beim Sternbild Kleiner Wagen. Quer über die Urkunde war in schwungvollen Lettern das Wort Sternenurkunde geschrieben. Darunter: Der Stern aus dem Sternbild Andromeda wurde für Monia auf den Namen Monia & Tom mit folgender Widmung getauft: Es leuchten zwei Sterne am Firmament der Hoffnung als Erinnerung an eine unsterbliche Freundschaft und Liebe! In der Nähe des unteren Randes waren die Daten des Sterns vermerkt.

Marley erinnerte sich an Monias Worte. „Einer von ihnen gehört mir.“ Und ihr war, als würde ihre Tante ihr die Worte mit dem Wind, der draußen noch immer um die Häuser wehte, ein weiteres Mal zuflüstern.

Mit den Fingern strich Marley über die beiden Namen auf der Urkunde und lächelte. Es war ein Stück Papier, das ein ganzes Schicksal erzählte. Der Stapel Briefe neigte sich dem Ende. Nur noch zwei waren übrig. Der Vorletzte steckte in einem zartgelben Umschlag, auf den Tom eine winzige Rose gemalt hatte. Datiert war er auf Ende Januar 1992.

Liebste Monia,

es tut mir leid, dass Deine Eltern meine Briefe gefunden und einige davon verbrannt haben. Dann wissen wir nun wohl auch, wo die anderen hingekommen sind.

Zwischen Deinen letzten Zeilen spüre ich pure Verzweiflung. Du nennst Dich zu schwach. Du bist nicht schwach. Es ist nur schwer, wenn alle auf einmal auf Dich einreden. Die Werkstatt läuft soweit gut, aber ich muss nebenbei noch woanders arbeiten. Die Nachtschichten in der Fabrik in Anderson, die Bauteile für Pkws, Transporter und Lastwagen herstellt, rauben mir die Kräfte. Nur Jayden und die Gedanken an Dich sind mein Sonnenschein. Du schreibst, Du wirst mich nun besser nicht mehr kontaktieren, da es Dein Herz nicht mehr aushalten würde, auch wenn ich auf immer einen Platz in diesem Herzen habe. Meine Liebste, bitte gib nicht auf. Lass Dir nicht einreden, du wärst ein Flittchen, wie Dich Deine Mutter und deine Schwester genannt haben. Das stimmt nicht. Du bist die ehrbarste Person, die ich kenne.

Avery hat irgendwie mitbekommen, dass wir noch Kontakt haben. Sie ist ausgeflippt, hat sich mit Jayden ins Auto gesetzt und ist davongebraust. Dabei hatte sie einen kleinen Unfall. Gott sei Dank ist dem Kleinen nichts passiert. Sie sagte, wenn doch, wäre es meine Schuld gewesen. Sie könne für nichts garantieren. Mein Gott!

Sieh hinauf zu unserem Stern, erinnere Dich an Dich selbst, verliere Dich nicht. Nie! Dafür bist Du viel zu kostbar. In Gedanken umarme ich Dich jeden Tag, so oft ich kann. Und ich bete für Dich. Saint-Exupéry hat geschrieben, es gibt so viele Rosen, aber nur eine ist besonders. Du bist meine besondere Rose und wirst es ewig bleiben.

In Dankbarkeit und Liebe, Tom

Aufgewühlter denn je nahm Marley den letzten Brief und zog das graue Briefpapier ins Freie. Der Brief war vom 10. Februar, die Schrift zittrig.

Liebste Monia,

mein Liebling! Du fehlst mir so sehr, dass ich es nicht mehr ausdrücken kann. Die Zeit vergeht, Stunde um Stunde, und ich fühle mich mehr und mehr wie ein Feigling. Ich sehe Jayden an. Er schaukelt übrigens genauso gerne wie Du. Weißt Du noch? Wir konnten an keinem Spielplatz vorbeigehen, ohne dass Du Dich nicht in die Lüfte geschwungen hättest. Die Augen, die manche Kinder darüber gemacht haben, waren grandios.

Mein Sohn und Du – ihr seid mein Leben, das, was mich aufrecht hält. Mein Herz ist umgeben von einem Sturm, der nicht enden will. Ich weiß, wie Du denkst. Dass Du Angst hast, ich könnte Jayden wegen Dir verlieren. Habe keine Angst. Vielleicht war mein letzter Brief zu viel für Dich. Bitte schreib mir noch einmal, wenn da doch noch ein Funken für mich glüht, du eine Chance in diesem Leben für uns siehst. Irgendwann! Avery weiß, dass ich Dich liebe. Aber sie ignoriert es, solange sie merkt, dass Funkstille herrscht.

Ich warte auf Dich, und wenn es bis zum nächsten Leben dauern sollte. Nur ein Wort! Wenn nicht, dann lasse ich Dich in Ruhe. Wie auch immer, ich wünsche mir für Dich, dass Du glücklich wirst.

Ewig, Dein Tom

Marley beugte sich erneut zu Monias Kiste und nahm sie hoch. David drehte sich auf den Bauch und flüsterte: „Levin! Natürlich kann ich dich nackt malen.“

Er hatte den Kopf zu Marley gedreht, weshalb sie sehen konnte, dass er lächelte. Ein bisschen erinnerte er sie dabei an ihren alten Teddybären.

„Ich hoffe, deine Träume erfüllen sich“, flüsterte sie. Seine Lippen verzogen sich noch ein Stückchen mehr zu einem Lächeln, so als habe er sie gehört. Behutsam und leise legte sie sich neben ihn, schob ihre Hände unter die Wange und dachte über die Zeilen aus den Briefen nach.

Wie hatten es ihre Großeltern nur übers Herz gebracht, die Briefe von Tom zu verbrennen, die Monia nicht rechtzeitig abfangen konnte? Teilweise verstand sie, dass sie sich Sorgen um ihre Tochter machten. Dennoch hatten sie keinerlei Recht gehabt, so etwas zu tun. Es war Monias Leben. Was sie taten, hatte nichts mit Liebe zu tun. Umso wichtiger kam Marley nun diese Reise vor. Ihr Herz hatte Kurs auf Fairmount genommen und konnte den Abflug dorthin kaum noch erwarten.

Einmal Rebellin

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