Читать книгу Einmal Rebellin - Nadine Stenglein - Страница 6
Das Erbe
ОглавлениеMarley Oswald blickte in den azurblauen Frühsommerhimmel, der sich vor ihrem inneren Auge allmählich in einen sternenübersäten Nachthimmel wandelte, je weiter sie ihre Gedanken schweifen ließ. Monia hatte die Sterne oft betrachtet. Vor etwa zwei Monaten, im Alter von erst 46 Jahren, war sie selbst zu einem geworden. Aus der Vergangenheit hörte Marley die helle, sanfte Stimme ihrer Tante zu sich dringen.
„Einer von ihnen gehört mir. Na ja, sozusagen“, hatte sie einmal gesagt und dabei geheimnisvoll gelächelt. Seitdem hatte Marley oft darüber nachgedacht. Denn schon seit Längerem ahnte sie, dass es da ein Geheimnis gab, das Monia tief in ihrem Herzen vergraben trug. Sie erinnerte sich an das Strahlen, das sich in die Augen ihrer Tante geschlichen hatte, während sie davon sprach. Monia hatte die Weite des Himmels, die Sterne und ihr magisches Leuchten geliebt. Sie war nicht nur Marleys Lieblingstante, sondern zudem eine wundervolle Freundin und wie eine Mutter für sie gewesen. Das würde sie auch bis in alle Ewigkeit bleiben, in der sie einander hoffentlich wiedersehen durften.
„Und das werden wir feiern wie noch kein Fest zuvor“, flüsterte Marley, als wäre Monia bei ihr. Sie dachte an den Tag, an dem sie ihre Tante das letzte Mal in ihren Rosengarten begleitet und gefragt hatte: „Also, welcher von ihnen ist es, der dir gehört?“. Die milde Nacht hatte sie beide eingehüllt wie ein wärmender Mantel, während Marleys Onkel Eugen auf der nahegelegenen Terrasse gestanden und ihnen kopfschüttelnd nachgeblickt hatte. Von Romantik verstand er genauso wenig wie vom Lachen.
„Das verrate ich dir ein anderes Mal. Wenn wir ganz unter uns sind. Oder ich vererbe dir das Geheimnis“, hatte Monia ihre Frage beantwortet und es wieder sorgsam in der Büchse der Pandora verschlossen.
Danach sprachen sie nie wieder darüber.
Seitdem entführte die Neugierde Marley an die wildesten Phantasieorte. Ihre Mutter Eleonor schien von dem Geheimnis Monias, ihrer Schwester, zu wissen. Doch sie hielt sich bedeckt und reagierte genervt, wenn Marley auch nur im Entferntesten auf das Thema zu sprechen kam. Sie tat es als „sentimentales Geschwätz“ ab. Und so blieb Marley nichts anderes übrig, als ihre Neugierde zu Liedern zu verarbeiten. Bis dato waren es drei Songs, die sie über das Geheimnis ihrer Tante geschrieben hatte. Kreativ zu sein, in die Musik einzutauchen, half ihr ein wenig über die Trauer um Monia hinweg.
Die einstigen Träume, nach dem bestandenen Abitur Musik zu studieren, hatten ihre Eltern, vielmehr ihre Mutter, damals sogleich vereitelt und ihr fortlaufend und in gleichbleibenden Abständen gepredigt, dass ein Geld bringender, sicherer Job wichtiger und sinnvoller sei. Denn genügend Geld zum Leben, das war Eleonors felsenfeste Überzeugung, würde Marley durch die Musik mit absoluter Sicherheit nie verdienen können. Eine Weile später war ihr Vater Charlie zudem an Krebs gestorben und hatte Marley und ihrer Mutter einen Berg Schulden hinterlassen, was den Traum in eine noch unerreichbarere Sphäre schleuderte.
Nachdem Marley davon erfahren hatte, sah sie ein, dass es an der Zeit war, die Träume und Umstimmungsversuche endgültig aufzugeben. Monia allerdings wollte ihre Musikkarriere unterstützen, was Eugen aber von Anfang an vehement untergrub. Außerdem wollte und konnte Marley die Hilfe ihrer Tante nicht annehmen. Seit dem Tod ihres Vaters musste sie ihrer Mutter noch mehr beistehen als zuvor. Eleonor litt an chronischer Migräne und fühlte sich seit dem Tod ihres Mannes auch psychisch nicht in der Lage, sich eine Arbeit zu suchen.
Seit Marley denken konnte, war ihre Mutter Hausfrau gewesen und hatte damit die Erwartungen ihrer Eltern erfüllt, die ihre beiden Töchter von Anfang an in diesem Sinn erzogen hatten. Eleonor hatte einen zunächst bodenständigen Mann geheiratet, dessen Eltern genauso dachten wie ihre. Marleys Eltern hatten sich verlobt, im Jahre 1990 geheiratet, Marley bekommen, ein kleines, aber feines Haus gekauft und einen Baum gepflanzt.
Marleys Vaters Charlie hatte als Versicherungskaufmann immer gut verdient, aber irgendwann angefangen, große Teile seines Einkommens zu verspielen und Schulden zu machen. Eine schleichende Sucht, die sich wie ein Geschwür immer weiter ausgebreitet und Eleonors bis dahin geradliniges Leben auf den Kopf stellte. Sie verstand nicht, wie ihr Mann so naiv sein konnte. Unüberlegtes Handeln war in Eleonors Welt bis dahin für ihre fünf Jahre jüngere Schwester Monia reserviert gewesen.
Nur einmal hatte Charlie erwähnt, dass man auch hin und wieder etwas im Leben riskieren müsse, um zu fühlen, dass man noch lebendig sei. Eine Aussage, die Eleonor nicht gelten ließ und sie zu der Bitte veranlasste, er möge doch einen Psychiater aufsuchen. Seitdem hatte sich Charlie komplett verschlossen und auch nicht mehr gekämpft.
Seit seinem Tod wohnte Marley mit ihrer Mutter im Haus ihrer Großeltern in der ehemaligen Westzone Berlins.
Marley konnte gut verstehen, dass ihre Mutter nicht auch noch ihr Elternhaus verlieren wollte. Also unterstützte sie Eleonor mit ihren zweiundzwanzig Jahren finanziell bereits, so gut es ihr möglich war, was auch ausdrücklich von ihr verlangt wurde. Zudem hatte Marley auch ihren Großeltern vor deren Tod auf nachdrücklichen Wunsch hin versprochen, sich um Eleonor und die Erhaltung ihres Hauses zu kümmern, das sie einst, wie sie früher wiederholt betonten, mit viel Schweiß und Fleiß erbaut hatten. Sie waren kurz nacheinander, zwei Jahre nach Charlie, verstorben und hatten ihnen laut Eleonor nicht viel mehr als das Haus hinterlassen.
Nachdenklich blickte Marley auf die alte Holzkiste, die ihr der Notar vor ein paar Stunden zusammen mit einem winzigen Schlüssel überreicht hatte. Die Kiste war mit einem kleinen, silbernen Schloss und schwarzen, ledernen Verstrebungen versehen. „Ein persönlicher Schatz für meine Lieblingsnichte. Sicher erinnerst du dich noch, was ich dir früher einmal erzählt habe, und ich weiß, dass er bei dir in guten Händen ist.“ Mit diesem Kommentar ihrer Tante hatte Dr. Bergler, der Notar, ihr die Kiste übergeben. Danach begann Eugen mit ihrer Mutter zu flüstern. Die beiden bekamen einiges von Monias Vermögen, aber es schien ihnen merklich zu wenig zu sein. Dabei hatte Eleonor Monias Hilfe aus Stolz früher immer ausgeschlagen. Jedenfalls sahen für Marley zufriedene Gesichter anders aus. Sie musste den Kopf darüber schütteln. Mit seinen breiten Schultern baute sich Eugen vor ihr auf und riss sie damit aus ihren Tagträumen. Mit zwei Fingern strich er sich über seinen grauen Schnäuzer, der seinen schmalen Mund wie ein Rahmen zierte und sein Gesicht mit den hohen Wangenknochen und der geraden, spitzen Nase noch schmaler wirken ließ. Wie immer stand er kerzengerade. Seit Monias Tod war ihm noch kein Wort der Trauer über den Verlust über die Lippen gekommen, und auch Eleonors Reaktion war verhalten ausgefallen.
„Wo ist er?“, fragte er und zog die kaum sichtbaren Brauen nach oben. Die wenigen Härchen besaßen dieselbe weiße Farbe wie sein gescheiteltes Haar. Eugens hellblaue Augen scannten jede Regung ihrer Mimik. Aber Marley wusste wirklich nicht, wovon er sprach.
„Wer?“, fragte sie deshalb.
„Der größte Teil von Monia!“ Sein Gesicht verfinsterte sich, als er auf die Holzkiste blickte. Abermals schüttelte Marley den Kopf. Was war los mit ihm? Wurde Eugen langsam verrückt? Konnte Gier wahnsinnig machen? Sie glaubte, darüber schon einmal etwas gelesen zu haben. „Er meint den Diamanten“, flüsterte Eleonor ihr zu und seufzte tief. Sie und Eugen sprachen seit Jahren kaum miteinander. Doch dieses Thema schien ihr sonstiges gegenseitiges Schweigen gebrochen zu haben.
„Welcher Diamant?“
Plötzlich fiel Marley ein, dass Monia einmal erwähnt hatte, sie wolle ihre sterblichen Überreste vielleicht als Schmuckstück weiterexistieren lassen, in dem sich das Licht ihrer Seele spiegeln konnte. Marley hielt das Ganze zuerst für einen ihrer Witze, aber Monias Gesichtsausdruck war ernst geblieben, als sie es sagte. Erst als Eugen und ihre Mutter, die alles gehört hatten, dazukamen, hatte sie gelacht und es vor ihnen als Scherz abgetan. „Das wäre ja auch völliger Blödsinn, absolut verrückt“, hatte Eugen die Idee damals kommentiert.
Marley jedoch berührte der Gedanke, machte sie aber gleichzeitig auch traurig.
Eugen klopfte mit einem Finger auf die Holzkiste. „Der muss da drin sein. Die Urne hatte nur einen kleinen Teil ihrer Asche für die Beerdigung enthalten. Öffne die Kiste mal. Er gehört mir, das ist doch wohl klar. Im Grunde war es ja sowieso mein Geld, das sie dafür aus dem Fenster geworfen hat. Ich kann nicht glauben, dass sie es wirklich durchgezogen hat. So ein Irrsinn.“
„Ich weiß nicht, was darin ist.“
Eleonor rückte ihren kleinen, roten Hut zurecht und schüttelte ihre Locken über die Schultern, die genauso naturblond waren wie Marleys. „Du hast doch gehört, was Doktor Bergler gesagt hat. Der Inhalt ist allein für Marley bestimmt, Eugen. Aber interessieren würde es mich auch.“
„Das kann schon sein. Aber es ist mein Recht, an Marleys Verstand und Gewissen zu appellieren.“
Marleys Mutter sah ihre Tochter an, die die Luft in ihren Lungen gefangen hielt, um nichts Falsches herauszuposaunen.
„Ich werde mir den Inhalt zu Hause in Ruhe ansehen und dich dann anrufen“, sagte sie letztendlich und lächelte Eugen freundlich zu. Schließlich war er neben ihrem Onkel auch ihr Boss und Besitzer einer mehrfach modernisierten Kfz-Werkstatt mit Bürotrakt. Die Büroarbeit war für Marley, wenn auch wenig kreativ und erfüllend, in Ordnung, die Launen ihres Onkels hingegen schwer zu ertragen. Sie hoffte, dass ihre neuen Bewerbungen bald ein positives Feedback brachten und sie von dort entkommen würde. Ihre Mutter wusste noch nichts davon, und auch Eugen wollte Marley natürlich (noch) nicht auf die Nase binden, dass sie bereits auf dem Absprung war. Doch die Zeit für diesen Schritt empfand sie als längst überreif.
„Wenn er da drin ist, dann gib ihn mir. Ich leihe ihn dir auch hin und wieder, wenn du möchtest“, schlug Eugen mit einem unterdrückten Knurren vor.
Für Marley roch die Sache faul. Warum konnte er Monias Wunsch nicht einfach respektieren und war damit zufrieden, wenn sie, Marley, ihm den Diamanten, sollte sich dieser tatsächlich in der Kiste befinden, ab und zu auslieh. Wollte er ihn am Ende vielleicht sogar verscherbeln? Marley glaubte, die Antworten auf diese Fragen zu kennen, und schauderte. Seit sie wusste, dass Eugen seine eigene Mutter in die Geschlossene hatte einliefern lassen, da diese einen verständlichen Wutanfall bekommen hatte, nachdem er sie für Stunden eingesperrt hatte, traute sie ihm vieles zu. Außerdem schien Geld sein zweiter Vorname zu sein, wenn nicht sogar sein Gott. Das jedenfalls, erinnerte sich Marley, hatte Monia einmal leise erwähnt, obwohl sie ansonsten kaum böse Worte gegen ihn fand. Vielmehr hatte sie stets Mitleid mit ihm gehabt. Marley fragte sich, warum Monia ihn überhaupt geheiratet hatte. Darüber wollte ihre Tante nie wirklich reden.
Einmal sagte sie: „Tief in sich hat er auch gute Seiten.“
Erleichtert atmete Marley auf, als David mit seinem weißen BMW Cabrio auftauchte, hupend ein paar Meter entfernt parkte, auf seinen Sitz sprang und ihr zuwinkte. Dabei kaute er Kaugummi und starrte über den Rand seiner Sonnenbrille. David war ein verrückter, liebenswerter Möchtegernmacho und der beste Freund, den sie sich vorstellen konnte.
„Ich muss los“, sagte sie, reichte anstandshalber Eugen die Hand und gab ihrer Mutter einen ehrlich gemeinten Kuss auf die rechte Wange. Diese nickte. „Geh schon“, flüsterte sie.
Ohne weiteres Zögern rannte sie zu David, die Kiste fest gegen die Brust gedrückt.
„He, was soll das, junge Dame? Wir sind noch nicht fertig. Denk daran, ich bin nicht nur dein Onkel, sondern auch dein Chef.“
Es ist widerlich, wie oft Eugen das heraushängen lassen muss, dachte sie und tat, als hätte sie seine Worte nicht gehört. David rutschte unterdessen auf den Fahrersitz zurück, während sie die Holzkiste auf den Rücksitz stellte. Lächelnd sah ihr bester Freund sie an. Seine Zähne blitzten noch weißer als bei ihrem letzten Treffen vor drei Tagen, fiel ihr auf. Sie erwiderte sein Lächeln. David war frisch verliebt – in seinen Zahnarzt.
„Hallo, hübsche Frau! Na wo soll es hingehen?“, wollte er wissen, sah dann an ihr vorbei und nickte Eugen und Eleonor zu. „Was ist mit deinem Onkelchen los? Er sieht ein bisschen verbittert und bleich um die spitze Nase aus.“ David winkte mit seinem auffälligen Charme und rief dabei ein übertriebenes „Hiiiiiiii!“
Marley wollte lieber nicht wissen, wie sich die Miene ihres Onkels daraufhin verzog.
Bezüglich David hatte er nur einmal angemerkt: „Sag mir, mit wem du dich umgibst, und ich sag dir, wer du bist.“
„Ihm ist der Termin nicht bekommen. Ich brauche erst einmal einen Kaffee. Fahr besser.“ Sie lehnte sich aufatmend zurück und war froh, Eugen und der ganzen Situation erst einmal entkommen zu sein.
Ihre Bitte ließ sich David nicht zweimal sagen und gab Gas. Auffällig oft prüfte er während des Fahrens kurz seine Zähne im Innenspiegel, weshalb Marley ihn mahnte, besser auf die Straße zu achten.
David winkte ab, kam ihrer Bitte aber nach. Sie hielten bei einem kleinen Café und setzen sich an einen der runden, weißen Tische auf die Terrasse. Es war Mitte Juli, blauer Himmel, Sonnenschein, milder Wind. Nun lag der Nachmittag, an dem Monia gestorben war, schon über einen Monat zurück. Das Wetter an jenem Tag war das Gleiche gewesen. Wehmütig atmete Marley den Duft des Flieders ein, der in großen Kübeln blühte, die die Caféterrasse vom Gehsteig abgrenzten. Monia hat Flieder geliebt, besonders den violetten.
David betastete sein gegeltes, blond gesträhntes Haar. „Sitzt es noch gut?“, fragte er dann leise.
Lächelnd verdrehte Marley die Augen und nickte. Sie und David kannten sich seit der Berufsschule. Wie sie, war auch er in einem Büro tätig und träumte schon lange davon, auszubrechen. Von Anfang an hatten sie sich blendend verstanden. Es erschien Marley, als würden ihre Träume von Freiheit einander anziehen wie zwei Magnete und sie zusammenschweißen. Zudem mochte er genauso wie sie kreative Menschen. Er liebte das Malen, die Musik und Bücher.
„Hast du wieder etwas Neues komponiert?“, fragte er sie.
Sie schüttelte den Kopf.
„Warum nicht?“
Marley atmete tief durch. „Mein Herz ist leer im Moment. Ich vermisse sie so sehr.“
„Das kann ich verstehen, Süße.“
David stützte die Ellbogen auf dem Tischchen ab, faltete die Hände und spitzte die dünnen Lippen, die er mit einem leicht pinken Lippenstift geschminkt hatte, passend zu seinem gleichfarbigen Sakko und den Sneakers. Die weiße Jeans bildete dazu einen stechenden Kontrast, der die Blicke mancher Passanten regelrecht auf sich zog. David liebte so etwas. Schließlich war er früher, wie er oft erzählte, meist übersehen und bei Mitschülern sowie Eltern als unscheinbarer Langweiler gehandelt worden.
„Wie war der Termin für dich?“, wollte er wissen, was sie zuerst mit einem tiefen Seufzen kommentierte. „Okay. Wenn du nicht darüber reden willst, dann kann ich auch das verstehen“, räumte David ein.
„Doch. Ich muss mich nur erst einmal noch ein bisschen sammeln.“
Ein junger Grieche in schwarzem Frack und weißem Hemd nahm ihre Bestellung auf. Seine tiefliegenden braunen Augen und die buschigen Brauen gefielen nicht nur Marley. Davids Blicke sprachen Bände. Allerdings ließ sie der Grieche unerwidert. Marley musste ein Grinsen unterdrücken, als er stattdessen ihr zulächelte, was auch David nicht entging.
Irgendwie sehnte sie sich nach einem Seelenpartner. Doch Mr Right war noch nicht in ihrem Leben aufgetaucht, wahrscheinlich befand er sich nicht einmal in der Nähe ihrer Umlaufbahn. Seit Ben, mit dem sie vor drei Jahren ein paar Monate liiert gewesen war, war sie zudem sehr vorsichtig geworden, was die Gattung Mann betraf. Er hatte sie betrogen, es aber bis zuletzt geleugnet und sie als Wahnsinnige mit Halluzinationen und einem Hang zur Dramatik und krankhaften Eifersucht hingestellt, obwohl die Beweise gegen ihn eindeutig gewesen waren. Monia hatte ihn von Anfang an seltsam gefunden und mehr zu sich selbst als zu Marley gesagt: „Manchmal täuscht der erste Eindruck nicht und man sollte an ihm festhalten, anstatt sich von Masken und der Angst vor dem Alleinsein blenden zu lassen, bis es zu spät ist.“
Eleonor hingegen sah in Ben vor allem eine gute Partie. Er war ein aufstrebender Jura-Student, der im Anschluss seinen Doktor machen wollte.
„Schade!“, flüsterte David, als der Kellner weg war, um ihnen zwei Cappuccinos mit einer extra Portion Mini-Marshmallows zu bringen.
Lachend erwiderte Marley: „Ja, er hatte nur Augen für mich.“
„Und für all die anderen Ladys hier. Zumindest für die, die in sein Beuteschema fallen“, bemerkte David und ließ den Blick zu einem der anderen Tische schweifen. Kurz drehte sich Marley um und erkannte, dass er recht hatte. Mr Universum schenkte gerade einer grazilen Brünetten sein Lächeln.
„So sind die Männer!“, seufzte Marley.
„Nicht alle, Schatz! Levin ist garantiert ganz anders!“, schwärmte David und stöhnte sehnsüchtig.
Der hübsche Grieche servierte ihren Cappuccino und zwinkerte Marley zu. Das Kompliment nahm sie dennoch gerne mit und bedankte sich für das Bringen, so wie es auch David tat, der den jungen Mann erneut von oben bis unten scannte.
„Ich verstehe nicht, wie du flirten kannst, wenn du anderweitig verliebt bist“, stellte Marley fest, als der Kellner verschwunden war.
David weitete die Augen. „He, es ist nur eine Schwärmerei. Und ich weiß doch noch nicht mal, ob er überhaupt schwul ist! Aber … ich war kurz davor, ihn zu fragen.“
„Und warum hast du es nicht getan?“
Er nippte von seinem Cappuccino, wobei ihm ein rosa Marshmallow an der Lippe hängenblieb. Marley genoss den Anblick ein paar Sekunden, dann zupfte sie den Marshmallow weg und schob ihn David in den Mund.
„Ich lag bei ihm sozusagen unter dem Messer. Zudem war wie immer einer seiner Assistenten dabei. Auch hübsch. Es arbeitet keine einzige Frau bei ihm. Das ist doch seltsam, oder? Und er ist immer umringt von seinen Mitarbeitern. Ich hatte ja gehofft, dass wir dieses Mal wenigstens für eine Minute alleine sein würden, aber nichts zu machen.“
Marley musste grinsen. „Für mich klingt das nach fauler Ausrede.“
„Das liegt daran, dass ich in Wahrheit nur dich liebe“, gab David mit blitzenden Augen zurück, nahm ihre Hand und hauchte ihr einen Handkuss darauf, was eine junge Frau anscheinend so hinreißend fand, dass sie sehnsüchtig aufstöhnte. Sofort ließ er Marleys Hand los und räusperte sich.
„Ich sollte so was in Zukunft besser lassen. Die denken alle, wir sind ein Paar. So bekommst du nie jemanden ab, wenn ich in deiner Nähe bin“, überlegte er laut.
„Monia war immer der Meinung, dass das, was zusammengehört, auch zusammenfinden wird.“
Sie wurde nachdenklich und erinnerte sich, dass immer, wenn ihre Tante so etwas gesagt hatte, ein trauriger Ausdruck in ihre Augen getreten war. Einmal sagte sie dabei: „Nur manchmal wissen dunkle Kräfte es zu verhindern. Doch aus dem Herzen löschen können sie den anderen nicht.“
David schnippte mit den Fingern. „Erde an Marley! Willst du mir nicht von dem Notartermin erzählen?“
Das tat sie, und Davids Neugierde und Unfassbarkeit wuchs dabei mit jedem Wort, das sie von sich gab.
„Du hast die Kiste also wirklich noch nicht geöffnet?“, wollte er wissen, sobald sie fertig war.
„Nein! Ich wollte das in Ruhe und für mich tun.“
„Richtig so! Und wenn du Hilfe dabei brauchst … also, du weißt ja, wo du mich findest.“
„Ich werde deine Neugierde stillen. Keine Sorge“, lachte sie, froh, dass David hier war und sie auffing.
„Dein Onkel ist wirklich ein seltsamer Kauz. Und mit Vorsicht zu genießen. Besonders jetzt.“
Marley nickte. Als David noch einmal von seinem Cappuccino nippte, entfuhr ihm ein lautes, langgezogenes Zischen, wobei er das Gesicht zu einer ungewollten Grimasse verzog.
„Was ist?“, wollte Marley wissen.
„Verdammt! Manchmal tut es höllisch weh.“
„Ah! Du hast dir die Zähne wirklich noch einmal nachbleichen lassen?“
„Ja“, gab David zu und schmollte.
„Meine Güte! Es muss ihm doch auffallen, dass du seit ein paar Wochen beinahe jeden zweiten Tag etwas an deinen Zähnen machen lässt. Du lässt dich für den Mann foltern und kommst keinen Schritt weiter. Was willst du als Nächstes machen lassen?“
„Zahnzwischenraumreinigung und Massage des Zahnfleisches steht noch aus. Ich musste ihn richtig zum Nachweißen überreden. Aber der Patient ist König.“
Marley verdrehte die Augen. „Frag ihn einfach, okay? Das ist auf jeden Fall gesünder.“
David pustete die Wangen auf und antwortete dann: „Du hast ja recht. Arschbäckchen zusammenkneifen und los! Ja, das nächste Mal tue ich es.“
„Sehr gut!“
Ihre Gedanken kehrten zu Monias Kiste zurück und sie begann, auf ihrer Unterlippe herumzuknabbern. Die Sehnsucht nach ihrer Tante traf sie wieder einmal mit voller Wucht. „Ich glaube, ich möchte jetzt lieber nach Hause, David.“