Читать книгу Einmal Rebellin - Nadine Stenglein - Страница 8
Fliegende Worte
ОглавлениеEin Klopfen an der Tür riss Marley aus ihren Gedanken. Inzwischen hatte sie die Kiste gänzlich ausgeräumt und den gesamten Inhalt drumherum platziert.
„Marley?“, drang die Stimme ihrer Mutter vom Flur aus zu ihr. Der Türgriff bewegte sich.
„Ich komme gleich“, rief Marley, warf die Decke über die Kiste und ihren Inhalt, schaltete den CD-Player aus und schloss die Tür auf. Mit hochgezogenen Brauen und erhobenem Kopf trat Eleonor ins Zimmer und musterte ihre Tochter von Kopf bis Fuß. Da fiel Marley ein, dass sie den Diamanten ja noch trug. Zu spät! Der Blick ihrer Mutter hatte sich bereits daran festgesaugt, ihr Mund öffnete sich.
„Also ist es tatsächlich wahr!“, flüsterte sie und schlug sich dann die Hand vor den Mund. Dicht vor Marley blieb sie stehen. Ohne die Augen abzuwenden, begann sie den Kopf zu schütteln und murmelte: „Ich verstehe sie immer noch nicht.“
„Du kennst ihr Geheimnis!“, hörte Marley sich sagen. Eleonor hob den Blick und sah ihrer Tochter in die Augen.
„Erinnere mich nicht daran. Das waren Hirngespinste. Damit hatten unsere Eltern völlig recht. Sie hat dir also davon erzählt?! Eigentlich habe ich sie gebeten, das nie zu tun. Außerdem dachte ich, sie wollte mit niemanden mehr darüber reden.“
Marley zuckte mit den Schultern. „Liebe ist kein Hirngespinst“, verteidigte sie ihre Tante.
„Hast du das bei deinem letzten Freund nicht auch gedacht? Und was ist dabei herausgekommen? Am Anfang hättest du noch beide Hände für diesen Ben ins Feuer gelegt.“
„Moment! Du warst es doch, der Ben beinahe bis zuletzt in den Himmel gehoben hat. Ein angehender Anwalt in der Familie …“
„Deine Tante ist für diesen Amerikaner damals auch nur ein Abenteuer gewesen. Im Grunde wusste sie das auch. Was wirst du nun mit dem Diamanten machen? Eugen wird nicht aufgeben, bevor er ihn hat“, lenkte Eleonor ab.
„Ich werde ihn behalten. Er ist ein Teil von Monia.“
Eleonor seufzte und blickte ihre Tochter forschend an. „Hat sie dir auch Geld vererbt?“
„Ein wenig“, antwortete diese.
Eleonor biss sich auf die Unterlippe. „Und wieviel?“
„Ein paar hundert Euro.“
Das war im Grunde nicht gelogen, dachte sich Marley.
„Nun ja. Wir müssen Eugen ja nicht sagen, dass wirklich ein Diamant in der Kiste war. Uns fällt schon etwas ein.“
Ihre Finger näherten sich dem Edelstein, was Marley zurückweichen ließ.
„Meine Güte! Ich entreiße ihn dir schon nicht. Ich meine nur, er würde sicher einiges in die Familienkasse einbringen. Du weißt, dass wir die Raten weiterbezahlen müssen. Und das bisschen, das Monia mir vererbt hat, wird nicht lange reichen. Ich habe das ganze Leben auf ihre Hilfe verzichtet, was Geld anbelangt. Da hätte sie eigentlich schon mehr springen lassen können. Naja. Außerdem hätte ich mal wieder richtig Lust, mir etwas zu gönnen, ohne jeden Cent dafür zweimal umdrehen zu müssen.“
„Das verstehe ich doch.“
Eleonor lächelte. „Schön! Wir können ihn ja schätzen lassen. Soweit ich weiß, hat es schon einiges gekostet, ihn pressen zu lassen. Einen Teil bekommen wir doch auf jeden Fall wieder.“
„Ich meinte damit, ich verstehe, dass du nicht jeden Cent zweimal umdrehen möchtest, wenn du dir hin und wieder etwas Schönes leisten willst. Aber was den Diamanten angeht – das ist nicht irgendein Diamant. Er ist aus Tante Monias Asche. Sie war deine Schwester. Wie kannst du überhaupt auch nur daran denken, ihn zu verkaufen? Außerdem habe ich vor, ihr damit den letzten Wunsch zu erfüllen.“
Habe ich da gerade eine Entscheidung getroffen? fragte sich Marley selbst. Schon oft hatte sie von Amerika geträumt, dem Land der unbegrenzten Möglichkeiten. Monia war ein großer Fan von James Dean gewesen und hatte ihrer Nichte seine Geschichte nach und nach nahegebracht, bis diese selbst fasziniert war von seiner Person und seinen Filmen. Nach dem frühen Tod seiner geliebten Mutter war er bei seinem Onkel und seiner Tante in der Kleinstadt Fairmount im Herzen Indianas aufgewachsen. Monia und Marley hatten ein paarmal zusammen Deans Filme angesehen und in den Augen des jungen Mannes vieles erkannt, das sie selbst fühlten. Monia bewunderte ihn dafür, dass er ausgebrochen war, um seine Träume zu leben, über alle Grenzen hinweg. Insgeheim wünschte sich Marley dasselbe.
„Nur einmal Rebellin sein“, flüsterte sie für sich selbst und lächelte.
„Was hast du gesagt?“
Marley winkte ab. „Ach, nichts!“
„Du musst dich ja nicht sofort entscheiden. Aber in einem hat Eugen recht. Man muss an deinen Verstand und dein Gewissen appellieren.“
„Ist gut, Mutter.“
„Mutter? Es klingt immer so hart, wenn du mich so nennst. Mama gefällt mir besser. Auch wenn du deinen Vater Dad genannt hast, wo er doch halb Engländer war.“
„Also auch ein Ausländer. Stimmt! Seltsam, wo doch …“
„Aber einer, der mit beiden Beinen fest im Leben stand und dazu noch verantwortungsbewusst war. Was ihn dann später in die Spielsucht trieb … Ich weiß es bis heute nicht. Monia hat immer gesagt, ihm hätte es gefehlt, das Leben hinter dem Leben zu spüren, weil seine Eltern ihm eingeredet haben, Träume wären Schäume, genau wie unsere. Monia kann von Glück reden, dass Eugen sie damals wollte und sie zurechtgestutzt hat, auch wenn er dabei zu Anfang eine Maske getragen und so getan hat, als wäre er wie sie. Er ist heuchlerisch, ja. Aber es war ihre Rettung, davon bin ich überzeugt, und unsere Eltern waren das auch. Seinem Schicksal kann man nicht reinreden. Mutter sagte immer: Schuster bleib bei deinen Leisten. Und das stimmt. Aber Monia konnte all diese abgehobenen Gedanken wohl bis zuletzt nicht für sich behalten.“
Ihr Tonfall war eine Mischung aus Wut, Angst, Verzweiflung und Selbstmitleid.
Marley erinnerte sich, dass ihr Vater mit den Jahren immer stiller geworden war und manchmal davon träumte, die Welt zu umrunden, was ihre Mutter immer als völligen Unsinn abtat. Zudem vermisste er die Kleinstadt in Oxfordshire, in der er aufgewachsen war. Eleonor allerdings mochte weder seine Verwandtschaft noch England, auch wenn es feine Leute waren.
Sie drängte sich an ihrer Tochter vorbei zum Bett. „Versteckst du die Kiste unter der Decke? Was war noch darin?“
„Mama, bitte!“
Dann folgte, was Marley hatte kommen sehen. Ihre Mutter erlitt einen spontanen Migräneanfall, der sie müde auf den Schreibtischstuhl sinken ließ.
„Meine Tochter hat Geheimnisse vor mir.“
„Es sind nur ein paar persönliche Zeilen von Monia und … ein Flugticket.“
Der Migräneanfall verflog anscheinend so plötzlich, wie er gekommen war, und Eleonor blickte mit großen Augen zu Marley auf.
„Was?“, rief sie.
Marley ärgerte sich über ihre lose Zunge.
„Nur ein Musterticket. Als … kleiner Wink, dass ich mal über meine Grenzen hinausfliegen sollte.“
Eleonor lachte höhnisch. „Ich sage es ja, sie war verrückt. Dir solche Flöhe ins Ohr zu setzen … Genau wie deinem Vater. Ja, ich glaube wirklich, er wäre normal geblieben, wenn sie die Finger nicht im Spiel gehabt hätte. Von allein wäre er nie auf die Idee gekommen, ausbrechen zu wollen. Eigentlich war sie eine verbitterte Hexe. Wenn sie hier wäre, dann würden wir nun wohl wieder streiten. Und du willst das Geld jetzt für eine Reise ausgeben, nur weil sie dir das vorgeschlagen hat? Ich glaube nicht, dass Eugen dir dafür Urlaub geben wird.“
„Es wäre mein Recht. Ich habe sogar noch einige Urlaubstage aus dem letzten Jahr übrig, Mama.“
Eleonor stand auf und befühlte ihre Stirn. „Das hätte ich nicht von dir gedacht, dass du mich im Stich lässt.“
„Mama! Das würde ich nie tun.“
Ohne eine Antwort verließ Eleonor den Raum. Marley atmete tief durch und ließ sich neben der Kiste und deren Inhalt aufs Bett fallen. Danach nahm sie die darüber geworfene Decke weg und griff nach dem Stapel Briefe, der mit einer roten Schleife umwickelt war.
Der milde Abendwind blies Marley eine blonde Locke ins Gesicht und kitzelte ihre Nase. Tief sog sie die frische Luft in ihre Lungen und drehte dabei das Autofenster ganz herunter. Das schlechte Gewissen drückte sie, denn eines wurde ihr von Minute zu Minute klarer: Sie wollte diese Reise machen. Ihre innere Stimme war noch nie so klar und deutlich gewesen.
„Aber ich werde Mutter ein paar hundert Euro von dem Geld geben, bevor ich aufbreche, Tante Monia. Sei mir nicht böse! Das bin ich ihr schuldig.“
Marley passierte das Ortsschild in südlicher Richtung und blickte in die Wolken, die wie zerzauste Wattebausche vor einem graublauen Himmel hingen.
Sie hatte ihre Gitarre dabei und die Briefe sicher in einem Rucksack verstaut. Mit ihrem klapprigen, silbernen Golf Cabrio, der mehr Roststellen besaß, als sie Sommersprossen auf Nase und Wangen, fuhr sie zu ihrer Lieblingswiese in der Nähe einer kleinen Waldlichtung, durch die sich ein Bach schlängelte. Das Auto hatte sie sich durch viele Überstunden verdient. Einen Teil des Geldes dafür hatte sie von Monia als Geburtstagsgeschenk bekommen.
Monia hatte jahrelang in einem Blumenladen gearbeitet, der ihr sehr am Herzen lag. Die Besitzerin war eine gute Freundin von ihr. Durch die Arbeit bewahrte sie sich auch ein Stück Unabhängigkeit. Ein Auto gehörte für sie unabdingbar dazu. Eleonor hingegen mochte Marleys fahrenden Untersatz nicht. Sie empfand es als völlig unnötig, ein Auto zu besitzen, wenn man in einer großen Stadt wohnte. Für Marley aber bedeutete es Freiheit, auch wenn sie aus Kostengründen nicht sehr oft damit fuhr.
„So stelle ich mir das Paradies vor“, hatte Monia einmal zu ihr über die Wiese mit dem Bach gesagt. Sie beide waren oft hier gewesen, um die Welt auszuschalten, wie sie es nannten.
Am Ufer des Baches stand eine Bank, die leicht knarzte, wenn man sich darauf niederließ. Marley setzte sich und legte die Briefe neben sich. Noch einmal dachte sie über Monias Zeilen nach, während sie die Gitarre nahm und darauf zu spielen begann. Zarte Klänge erhoben sich in die Lüfte, die Marley umtanzten und ihr ein Stück Frieden schenkten. Dabei wich die Schwere in ihrem Herzen allmählich, wenn auch nicht ganz, und der Himmel schien noch ein Stückchen mehr aufzuklaren. Nach einer Weile legte sie die Gitarre zur Seite und zog vorsichtig den obersten Brief aus dem Stapel. Er war an Monias Elternhaus adressiert und trug Toms Absender auf der Rückseite.
Tom Priestly, 405 W Bristol Road, 46928-1960 Fairmount-Indiana
Gespannt und mit leicht feuchten Fingern öffnete Marley das weiße Kuvert. So wie es aussah, hatte auch Monia den Brief mit viel Sorgfalt geöffnet. Die Klebestellen waren dabei nur wenig beschädigt worden.
Toms Schrift war der ihrer Tante sogar ähnlich, wenn auch einen Tick größer. Die Zeilen waren mit marineblauer Tinte und auf Englisch geschrieben, was für Marley wegen ihres Vaters allerdings kein Problem darstellte.
Liebste Monia,
ich muss Dir nun einfach schreiben. Auch wenn ich zurückkehren musste, habe ich eines doch bei Dir gelassen. Mein Herz! Behalte es, denn es wird für immer Dir gehören, auch wenn es nun so gekommen ist. Ich frage mich: Was hat der Himmel nur mit uns vor? Ich kann Dich nicht vergessen, Dich nicht aufgeben. Du willst nicht mehr telefonieren, weil es Dir zu wehtut, meine Stimme zu hören. Das verstehe ich. Es geht mir genauso. Gut, lass uns dafür schreiben. Du hast geschrieben, Du bist diejenige, die den Postkasten immer leert, und dass ich Dir meine Briefe ruhig nach Hause schicken kann, also tue ich das.
Marley merkte, dass ihr das Herz bis in den Hals schlug. Ihre Tante war in einen Amerikaner verliebt gewesen, der in jener Stadt wohnte, in der James Dean aufgewachsen war. Es war unglaublich. Die Surrealität löste einen Adrenalinschub in ihr aus, der bis in die letzte Faser ihres Körpers drang. Erneut lenkte sie den Blick auf die Zeilen und las weiter:
Ich muss es noch einmal wiederholen. Du musst mir glauben, dass zwischen Avery und mir schon nichts mehr war, als ich im Sommer 1989 als Soldat nach Deutschland gekommen bin. Wir hatten es nur noch nicht offiziell ausgesprochen. Bei meinem Kurzurlaub in Amerika wegen einem Herzinfarkt meiner Mutter Mitte Februar 1990 kannten du und ich uns ja noch nicht. Avery und ich haben beim Wiedersehen einiges getrunken, uns ausgesprochen und …
Tags darauf aber haben wir wieder gestritten und ich sagte ihr, dass es keinen Sinn mehr hätte.
Zum Glück ging es meiner Mutter wieder besser. Eine Woche später flog ich dann ja wieder nach Deutschland. Avery wollte mich nicht gehen lassen. Es war nur ein Festhalten an alten Gewohnheiten, die uns wieder eingeholt haben.
Ein paar meiner Kameraden, deren Freundinnen oder Frauen wie Avery nicht mit nach Deutschland kommen wollten, sahen Flirts mit deutschen Mädchen als willkommene Abwechslung. Aber Du warst und bist mehr für mich. Ich hatte nicht geplant, mich in Deutschland in eine Affäre zu stürzen, und schon gar nicht, mich zu verlieben. Wow – doch als ich Dich ein paar Tage nach meiner Rückkehr aus den Staaten traf, war es sofort um mich geschehen. Ich hatte zuvor nicht geglaubt, dass es so etwas gibt – Liebe auf den ersten Blick. Du hast recht, ich muss und will mich auch um das Kind, das Avery erwartet, kümmern. Doch das ändert nichts an meiner Liebe zu Dir. Ich habe ihr sogar von Dir erzählt. Sie will es nicht hören, hat mich nur beschimpft, sagt, ich hätte ihre Ehre beschmutzt. Aber ich glaube, sie hat mit Hinterlist gespielt, als sie einfach behauptet hat, dass sie die Pille nehmen würde. Sie hat es ja eigentlich auch selbst zugegeben, dazu gelacht. Das habe ich Dir damals auch schon gesagt, wenn auch durch die Blume, wie Ihr es in Eurem Land ausdrückt. Wir kannten uns ja auch erst so kurz. Ich hatte Angst. Die habe ich noch. Angst, dich ganz zu verlieren.
Meine Eltern und ihre wollen, dass wir heiraten. Sie drängen geradezu. Die Kleinstadt zerreißt sich das Maul, eine ungewisse Situation wie diese können sie nicht ertragen. Mir ist es egal.
Bitte, liebste Monia, mein Sonnenschein, komme zu mir, wenn du einen Weg siehst. Gemeinsam finden wir bestimmt eine Lösung. Ich bin kein Soldat mehr, auch wenn Avery das nicht gefällt. Ich werde mich selbständig machen. Mit der alten Kfz-Werkstatt, von der ich Dir erzählt habe. Mein Großvater Churchill hat sie mir hinterlassen. Sobald sie etwas Geld abgeworfen hat, könnte ich Dir das schicken. Allerdings muss ich sie renovieren.
Im Moment ist es mir leider unmöglich, nach Deutschland zurückzukommen. Bei meiner Mutter wurde ein bösartiger Hirntumor festgestellt. Sie braucht mich hier. Laut den Ärzten hat sie nicht mehr viel Zeit. Die Ereignisse überrollen mich geradezu.
Du bist mein Lichtblick, erdest mich. Ich liebe Dich.
In ewiger Verbundenheit, Dein Tom
Gedankenversunken faltete Marley den Brief wieder zusammen, steckte ihn zurück in das Kuvert und ließ ihn auf ihren Schoß sinken. Eine unglückliche Liebe – das war es, das Monia so lange in sich getragen hatte. Eine Liebe, bittersüß und unerreichbar. Sie konnte sich nur vorstellen, wie schwer es für Monia gewesen sein musste, diesen Tom gehen zu lassen, die Sehnsucht zu ertragen, allein von den Träumen der Erinnerung zu leben und mit dem Was wäre wenn, mit dem sie wohl Tag ein, Tag aus gerungen hatte. Plötzlich fügte sich alles zusammen wie ein Puzzle.
Sie nahm den nächsten Brief. Auf die Rückseite des Kuverts hatte Tom eine hügelige Landschaft gemalt, aus der eine Rose mit roten Blüten spross. Über ihr hing ein Stern am Himmel. Sie glich einer Zeichnung von Antoine Saint-Exupéry aus seinem Buch Der kleine Prinz. Von Monia wusste sie, dass es einst das Lieblingsbuch James Deans gewesen war. Auch sie selbst hatte die Geschichte geliebt, und Marley konnte verstehen, warum. Sie war voller Weisheiten und mit viel Hingabe geschrieben worden.
Liebste Monia,
meine Sehnsucht ist unermesslich. Sie ist größer als das Universum. Im Herzen bin ich Dir so nah wie noch keinem Menschen zuvor, auch wenn uns Tausende Meilen und das Schicksal trennen. Deine Zeilen haben mich tief berührt, und zugleich machen sie mich traurig. Aber ich mache Dir keinen Vorwurf, dass Du schreibst, ich soll nun besser versuchen, ohne Dich glücklich zu werden. Dass Du nicht einfach ausbrechen kannst, das verstehe ich. Ich wünschte, ich könnte es. Meine Mutter hat mich auf dem Sterbebett gebeten, dass ich Avery heirate und ein guter Mensch werde. Das mit dem Krebs – es ging so schnell. Alles entschwindet mir.
Meine Güte, ich sehe nichts Falsches an unserer Liebe. Ja, ich stimme Dir zu, ich darf das Versprechen, das ich meiner Mutter gegeben habe, damit sie friedlich einschlafen konnte, nicht brechen. Aber es bricht mir gleichzeitig auch das Herz. Du wünschst Dir eine Zukunft mit mir, sagst aber, dass es in diesem Leben wohl keine für uns gibt, Du kein Ufer für uns siehst, an dem wir beide zusammen stranden könnten. Ich will Dich nicht drängen und doch nicht aufgeben. Ich hoffe auf ein Wunder! Jeden Tag bete ich darum. Jeder hier setzt mir das Messer auf die Brust. Ich könnte fliehen, doch dann verliere ich das Kind, das hat Avery mir versichert. Dazu hast Du geschrieben, dass Du Dir dann die Schuld daran geben würdest, dass meine Familie zerbrochen ist. Du bietest mir Freundschaft an. Das ist besser, als Dich ganz zu verlieren.
Lass uns weiterschreiben.
In ewiger Dankbarkeit für die wenigen Monate, jeden einzelnen Moment, den wir gemeinsam hatten, Dein Tom
Marley bemerkte, dass ihre Finger zitterten und eine Träne auf das Papier tropfte.
„Ach, Monia“, murmelte sie und öffnete das nächste Kuvert. Der Wind wurde langsam kühler, doch sie spürte es kaum. Der dritte Brief war datiert, was bei den ersten beiden nicht der Fall gewesen war. Anscheinend hatte Tom es einfach vergessen.
17. November 1990
Liebste Monia,
Du bist in allem, was ich liebe. In jedem Sonnenstrahl, jedem Regentropfen, jeder Wolke, in dem Blau des Himmels und dem Zwitschern der Vögel. Es ist herrlich und schmerzt zugleich. Kennst Du das Gefühl? Irgendwie glaube ich, Du fühlst es auch.
Wir sind zwei Marionetten des Lebens und unserer selbst. Zu feige, um auszubrechen. Doch bin ich jeden Tag kurz davor. Du fragst nach der Hochzeit, die ich hinausgezögert habe. Nun möchte ich es nur noch schnell hinter mich bringen, damit sie danach hoffentlich alle Ruhe geben.
Es ist so surreal, dieses ganze Leben. Auf Beerdigung folgt Hochzeit, dann Geburt. Avery erstickt mich beinahe, lässt mich kaum noch aus den Augen. Wir haben wieder gestritten, wobei sie zugegeben hat, dass sie es darauf angelegt hat, schwanger zu werden, weil sie fühlte, dass ich mich nicht nur äußerlich von ihr distanzierte.
Aber ich freue mich auf das Kind, es ist ein Teil von mir. Jedes Kind ist ein Wunder und hat Liebe verdient, genau wie du gesagt hast. Ich weiß, dass Avery nie Kinder wollte. Leider habe ich sie beim Rauchen erwischt. Sie glaubt nicht, dass ein paar Zigaretten schädlich sein können.
Ich atme deinen Duft aus der Erinnerung. Vielleicht findet sich ein Weg, dann komme ich Dich besuchen oder Du mich. Nur noch einmal sehen, und sei es nur für eine Minute. Ich wünschte, ich wäre der Wind. In Liebe, Dein Tom
Nebel zog über die Wiese und den kleinen Bach, doch Marley war in ihrer eigenen Welt. Sie wollte und konnte nicht aufhören, in die Gedanken dieses fremden Mannes zu tauchen, der ihr mit jedem Wort näher und lebendiger erschien. Er hatte zu Monia gehört, hatte nichts mehr als das gewollt.
1. Dezember 1990
Liebste Monia,
es ist ein Junge.
Er hat sich ganz schön Zeit gelassen, letztendlich haben die Ärzte die Geburt eingeleitet. Ich habe mich durchgesetzt, er bekommt den Namen Jayden.
Er ist ein wunderhübsches Baby. Seine Augen strahlen so blau wie der Herbsthimmel an einem Sonnentag. Ich lege Dir ein Bild bei und möchte Dir gleichzeitig für Deine Zeilen danken. Nur klingen sie mehr und mehr nach kalter Vernunft, die Dir größtenteils eben auch Deine Eltern einreden. Ich weiß, sie können nicht anders. Vergib ihnen. Ich kenne es ja auch nicht anders. Aber Du kannst mich nicht täuschen. Ich spüre den Herzschlag dahinter, wenn ich das winzige Herz sehe, das Du wie zufällig zwischen die Zeilen gemalt hast.
Ich vermisse Dich, so sehr, Monia!
Avery schläft sehr viel und ich tue alles, um sie ruhig zu halten. Ihre Stimme beißt manchmal wie der Geruch von Meerrettich.
Als Marley das las, musste sie sogar kurz lachen. Dankbarkeit über diese Zeilen, die trotz der Schwere alles auflockerten, erfüllte sie. Seltsamerweise fühlte sie sich Tom nahe, obwohl sie ihn nicht kannte.
Ein sehnsüchtiges Seufzen entwich ihrem Inneren. Auf der Rückseite des Briefes klebte unter ein paar weiteren Zeilen das erwähnte Babyfoto. Jayden war ein süßer kleiner Fratz mit Pausbäckchen und einer zierlichen kleinen Stupsnase, die Augen halb geöffnet. Ein Wollmützchen bedeckte sein zartes Köpfchen.
Marley erinnerte sich, dass Monia keine Kinder bekommen konnte. Ein Umstand, hatte ihre Tante einmal am Rande bemerkt, der vielleicht mitverantwortlich war für die oft barsche Art, die Eugen seit der Hochzeit an den Tag legte. Darüber reden wollte er nie. Außerdem konnte er wenig mit Monias wildem Wesen und dem Drang nach Freiheit anfangen. Eine Adoption kam für ihn nicht in Frage. Ehrlich gesagt konnte sich Marley ihren Onkel mit Kind auch gar nicht vorstellen.
„Man liebt nur einmal wirklich, auch wenn man es danach wieder versucht und sich noch so sehr einreden will, dass es auch ein zweites Mal geht. Das weiß ich jetzt mit Sicherheit“, hörte sie Monias Stimme aus der Vergangenheit und betrachtete den Rest des Briefes.
Ich liebe meinen Sohn, egal was er tun oder nicht tun wird. Und ich wünsche ihm nur eines: dass er den Mut haben wird, über seine eigenen Grenzen hinauszugehen und Liebe zu erfahren.
In ewiger Liebe, Dein Tom
Marley blickte auf und sah sich im Nebel versunken. Sie fühlte seine Feuchte auf ihren Wangen und beschloss, nach Hause zurückzukehren.