Читать книгу Einmal Rebellin - Nadine Stenglein - Страница 9
Unter der Oberfläche
ОглавлениеEugen ließ nicht locker und schwänzelte wie ein Kater vor ihrem Büro auf und ab, das nur durch eine Glaswand von seinem getrennt war. Immer wieder warf er ihr, den Telefonhörer in der Hand, Blicke zu.
Marley hatte kaum geschlafen, da sie zwei Stunden nach der Rückkehr von ihrem Ausflug Schüttelfrost und leichtes Fieber bekam. Dennoch hatte sie sich ins Büro geschleppt. Onkel Eugen tolerierte es nicht, wenn man wegen einer kleinen Erkältung zu Hause blieb. Sie wollte sich eine Predigt ersparen und zudem nach dem langersehnten Urlaub fragen. Besonders jetzt! Nach wie vor stand ihr Entschluss fest. Die Kette mit dem Diamanten hatte sie vor Betreten des Bürotraktes hastig noch abgelegt.
Ihr Blick fiel auf die Uhr über der Tür, die monoton vor sich hintickte. Mühsam krochen ihre Zeiger auf halb neun zu. Um diese Zeit würde Asta, die Halbtagskraft, auftauchen und erst einmal gemächlich Kaffee machen. Das hieß, wenn Eugen bis dahin in die Werkstatt hinübergegangen war, die an den Bürotrakt anschloss. Er reparierte alle Arten von Autos. Die Werkstatt hatte er damals von ihrem Vorbesitzer übernommen und nach und nach ausgebaut. Sie florierte blendend. Seine Mechaniker zollten ihm stets Respekt. Nur Asta erlaubte sich hin und wieder Scherze mit dem hohen Boss, über die er, wenn auch selten, sogar lachte. Aus dem Augenwinkel sah Marley, dass ihr Onkel sie zu sich winkte. Räuspernd senkte sie den Kopf, als hätte sie es nicht bemerkt, bis er mit seiner knochigen Hand an die Scheibe klopfte. Schon des Öfteren hatte sie mit dem Gedanken gespielt, die Glaswand einfach mit Postkarten zuzukleben und Eugen wegzutapezieren. Seufzend schob sie die Schreibtischschublade zu, in der sie zwei von Toms Briefen verwahrte, die sie in der Pause lesen wollte, und ging zu Eugen hinüber.
Sein Büro war ähnlich trist wie ihres. Containerwagen beherbergten Unmengen an Unterlagen. In offenen Regalschränken entlang einer Wand standen Aktenordner und Fachkataloge. Eugen wollte nicht einmal Pflanzen in seinem Büro haben. Ein Arbeitsraum sei schließlich kein Wohnzimmer, hatte er einmal gesagt. Marley war daher schon froh, dass er ihnen im letzten Jahr die Kaffeemaschine genehmigt hatte.
Seine nette Bemerkung dazu würde Marley nie vergessen. „Damit ihr nicht einschlaft. Manchmal habe ich nämlich das Gefühl.“
Aus der Werkstatt klang ein vertrautes Hämmern und Klopfen, als sie den schmalen Flur bis zur Tür von Eugens Büro entlangging.
„Morgen“, brummte er und zeigte auf die gegenüberliegende Seite seines Schreibtisches.
„Guten Morgen, Onkel Eugen“, erwiderte Marley.
„Ob er gut ist, wird sich noch herausstellen. Setz dich doch.“
Sie wusste genau, was er wollte, und bereitete sich innerlich darauf vor, während sie äußerlich versuchte, lässig zu wirken. Also nahm sie Platz und faltete die Hände im Schoß. Eugen zwirbelte mit zwei Fingern an seinem Schnäuzer und räusperte sich. Dann streckte er den Arm über den Tisch, zeigte ihr eine seiner Handflächen und winkelte fordernd die Finger an. Marley stellte sich dumm.
„Was ist?“, fragte sie.
Aufgebracht hieb Eugen auf die Tischplatte.
„Das weißt du genau. Gib mir den Diamanten. Ich bin sicher, du trägst ihn bei dir und hast ihn vor dem Büro extra abgenommen. Ich hatte im Lauf der Jahre eine Menge Auslagen für Monia. Das bisschen, was sie mir vererbt hat, macht das nicht wieder wett. Und wenn ich an ihre Philosophieausflüge oder wie immer man das nennen mag denke, wird mir übel. Dabei dachte ich damals, ich heirate eine bodenständige, kluge Frau mit Geschäftssinn. Und dann plötzlich? Reisen und träumen wollte sie! Ich möchte gar nicht wissen, von was … oder wem. Romantik und all das, das ist nichts für mich. Warum versuchst du nicht einmal, mich zu verstehen? Stattdessen warst du ständig nur auf ihrer Seite und bist es immer noch.“
Marley schüttelte den Kopf. „So pauschal kann man das nicht sagen.“
Er winkte ab. „Schon gut, schon gut. Eigentlich interessiert es mich auch nicht. Ich möchte nur mein Recht.“
„Ich habe ihn nicht“, entgegnete Marley hastig, was Eugen zum Lachen brachte. Vielmehr war es ein lautes Prusten. Er lehnte sich zurück und verschränkte die Arme vor der Brust.
„Du hast also weder Verstand noch Gerechtigkeitssinn, meine Liebe. Langsam sollte ich mir wirklich überlegen, ob du so noch tragbar für mein Unternehmen bist.“
Marley schluckte. Sie konnte nicht glauben, was sie da hörte, obwohl es sie eigentlich nicht hätte wundern dürfen. Offenbar unterschätzte sie Eugens Dreistigkeit doch.
„Du drohst mir?“, antwortete sie und hielt seinem Blick stand, der inzwischen Funken sprühte.
„Was war noch in der Kiste? Etwa Sachen ihres kleinen Geheimnisses?“
Die Worte trafen Marley mitten in die Magengrube.
„Dachte ich mir doch, dass Monia es dir erzählt hat, obwohl Eleonor es nicht wollte. Dieser Tom hat sie doch nur an der Nase herumgeführt. Du bist genauso eine Träumerin wie sie. Du kannst froh sein, dass du durch mich damals so schnell einen Job gefunden hast, als ihr Geld brauchtet. Und ihr braucht es immer noch. Also sei klug und gib mir den Diamanten. Dann behältst du auch deine Arbeit. Oder denkst du, du findest so schnell wieder einen so sicheren Job? Unbefristet. Wo bekommt man das noch? Das Gleiche gilt für euch alle hier. Asta scheint es bisher als Einzige begriffen zu haben.“
Weil sie nicht anders konnte. Nach der Scheidung war sie auf den Job mehr angewiesen denn je. Und das weiß Eugen genau, dachte Marley.
„Was willst du damit? Ihn verkaufen? Auf dem Markt wird er dir höchstens ein Drittel von dem einbringen, was seine Herstellung gekostet hat.“
„Ah, da hat sich also jemand schon schlau gemacht.“
Marley konnte es nicht fassen. Sein falsches Grinsen löste in ihr ein Brennen aus, das ihr bis in die Kehle aufstieg.
„Ich werde ihn niemals verkaufen.“
Er zeigte auf sie. „Also hast du ihn! Du hast es gerade zugegeben. Ich will ihn auch nicht verkaufen. Aber ich will ihn haben!“
Sie ärgerte sich, dass sie auf ihn hereingefallen war.
„Du machst einen Wettbewerb daraus?“, stieß sie hervor, versuchte aber sofort wieder, ihre Fassung zurückzugewinnen. Monia hatte ihr einmal verraten, dass Eugen nichts so sehr aus dem Konzept brachte wie ein gelassenes Gegenüber.
So wie es für Marley aussah, wollte Eugen Monia am Ende und über den Tod hinaus noch einmal beweisen, dass er die Macht und das Sagen hatte, wusste, was er wollte, und es auch bekam.
Langsam erhob sie sich. „Ich habe keinen Diamanten, tut mir leid. Aber da ich nun schon einmal hier bin, möchte ich ein anderes Thema ansprechen. Meinen Urlaub. Ich hatte schon …“
Ruckartig fuhr Eugen aus seinem Sitz hoch und stemmte die Hände auf den Schreibtischrand. „Urlaub in der Hochsaison? Ja, bist du denn von allen guten Geistern verlassen? Außerdem lügst du mich an, obwohl du vorher klipp und klar zugegeben hast, dass du den Diamanten hast.“
„Der Jahresurlaub steht mir zu. Das ist vertraglich geregelt.“ Ihre Stimme zitterte, aber sie versuchte, klar und deutlich zu sprechen.
Eugen schnappte nach Luft. „Was erlaubst du dir eigentlich?“ Aus dem Augenwinkel bemerkte sie Asta, die neugierig durch die Glasfront zu ihnen herüberschielte, sobald sie ihre Tasche abgelegt hatte.
„Ich möchte nur, was mir zusteht.“
„Genau wie ich! Und du ignorierst es. Schlimmer, du machst dich zusammen mit Monia über mich lustig.“
„Das stimmt doch nicht, Onkel Eugen. Warum kann ich nie vernünftig mit dir reden?“
Er erstarrte, und doch war ihm deutlich anzusehen, dass ihn diese Frage innerlich dem Kollaps nahebrachte. Seine Augen schienen ein Stück hervorzutreten und Schweißperlen traten ihm auf die Stirn.
„Das frage ich mich umgekehrt auch oft, Marley. Bis heute Abend habe ich den Diamanten auf meinem Schreibtisch liegen. Sonst hast du wirklich Urlaub, und zwar unbezahlt und für immer. Der Grund wird plausibel sein, solltest du es vor einem Arbeitsgericht anfechten wollen. Auch das kannst du mir getrost glauben. Denk doch mal an deine Mutter. Ihr braucht mein Geld.“
Nach diesen Worten verließ er das Büro und knallte die Tür so heftig hinter sich ins Schloss, dass die Glasscheibe für einen Moment vibrierte. Der Hass und die Wut in seiner Seele mussten maßlos sein, durchfuhr es Marley.
Wie in Trance kehrte sie in ihr Büro zurück. Noch immer stand Asta an ihrem Platz und bewegte lediglich den Kopf in Marleys Richtung. „Was war das denn?“, murmelte sie fassungslos.
Ohne Erwiderung packte Marley ihre Tasche. Ihr Blick streifte die Uhr über der Tür. Irgendwie wusste sie, dass ihre Zeit hier beendet war. Es gab kein Zurück, nur ein Raus hier, und zwar für immer.
„Alles Gute für dich, Asta“, flüsterte sie, nahm Toms Briefe aus der Schublade und ging zur Tür.
Asta machte große Augen. „Hat er dich rausgeworfen?“
„Nein, noch nicht. Aber das ist auch nicht nötig, ich gehe von selbst.“
„Schade!“, flüsterte Asta und fügte schnell hinzu: „Wir … haben uns doch immer ganz gut verstanden.“
Marley nickte, und die beiden tauschten ein Lächeln.
Die Szenen von eben waren noch nicht gesackt, dennoch wusste sie, dass das nun der einzig mögliche Weg war. Sie konnte nur hoffen, dass sich bald jemand auf eine ihrer Bewerbungen melden und sie einen Job finden würde, der ihr mehr zusagte. Ihre Sachen waren schnell zusammengepackt. Im Grunde waren es nur ihre graurote Kaffeetasse mit dem Elefantenrüssel, der als Haltegriff diente, ein kleiner Notizblock und zwei Stifte, die sie zusammen mit den Briefen in ihre Umhängetasche packte.
Danach kritzelte sie ihre Kündigung auf ein weißes Papier und reichte sie Asta. „Gib ihm das bitte von mir.“
„Mach ich!“ Obwohl die beiden jungen Frauen nie viel Privates getauscht hatten, war Asta dennoch anzumerken, dass ihr der Abschied naheging.
Sobald Marley dem Ausgang näherkam, spürte sie, wie sich etwas in ihr löste und sie richtig durchatmen ließ. Eine Mischung aus Erleichterung, Freiheit, Mut, Selbstachtung, Stolz und Verrücktheit machte sich in ihr breit, das Gefühl, der Himmel würde sie umarmen und sie hätte gerade die Weichen für eine neue Lebensrichtung gestellt. Spontan erfand sie einen neuen Ausdruck dafür, Schicksalskreuzschritt, kurz SKS.
Dieses Mal hatte sie es geschafft, auch wenn Eleonor alles andere als begeistert von Marleys Entscheidung war.
„Du hast was?“, rief sie und riss die Augen auf.
„Es war schon lange fünf vor zwölf. Und sein Verhalten heute war bereits eine Minute drüber. Findest du nicht?“
„Ich finde, dass Monia über die Stränge geschlagen hat, indem sie sich zu einem Diamanten hat pressen lassen. Das kostet an die fünftausend Euro. Und für was? Damit du ihn dir um den Hals hängen kannst? Ich bin kein Onkel-Eugen-Fan, aber da verstehe ich ihn.“
Marley verließ die Küche, in der sie vor ein paar Minuten auf Eleonor getroffen war. Ihre Mutter folgte ihr und fing sie an der Treppe zu ihrem Zimmer ab, wobei sie eine ihrer unechten Rosenvasen umstieß und gerade noch auffing, bevor sie zu Bruch ging. Das ganze Haus stand voller Plastikblumen.
„Sie hätte die Hälfte mir und die andere Eugen geben sollen. Da wäre das Geld besser angelegt gewesen. Das musst du doch sehen, Marley.“
„Sie hat dir doch genug vererbt, Mama.“ Marley schüttelte den Kopf.
„Fünftausend Euro. Das soll ja wohl ein Witz sein! Gib mir den Diamanten und ich rede noch einmal mit Eugen wegen der Kündigung.“
„Die steht, Mutter! Ich habe gekündigt!“
„Nenne mich nicht wieder Mutter.“
Marley schloss die Augen und wollte weitergehen, doch Eleonor schob sich vor sie.
„Was ist denn los mit dir? Monias Tod scheint dir zu Kopf zu steigen. Du bist so aufgedreht, ich erkenne dich gar nicht wieder!“
„Träume sollte man leben, bevor man sich selbst vergisst und aufgibt, und das will ich nun tun. Ich habe nur dieses eine Leben. Monias Tod hat mir noch einiges mehr klar gemacht“, sagte Marley ruhig und hoffte, dass Eleonor ihr wenigstens einen Funken Verständnis schenken würde.
„Träume sind Schäume. Du ruinierst nicht nur dich, sondern auch mich. Wir müssen zusammenhalten, wir brauchen dein monatliches Einkommen.“
„Ich werde wieder arbeiten, Mama. Aber dort, wo es mir besser gefällt. Okay? Ich lasse dich schon nicht im Stich. Aber jetzt … jetzt brauche ich ein paar Wochen Auszeit. Bitte verstehe das!“
Eleonors Wangen erröteten sich. „Eine Auszeit? Und deswegen schmeißt du gleich den ganzen Job hin? Hast du vor, die paar Kröten, die dir meine verrückte Schwester vererbt hat, aus dem Fenster zu werfen? Für Partys und so? Ich fasse es nicht. Wer bist du?“
„Ich bin immer noch Marley. Aber du scheinst mich kein bisschen zu kennen. Dir hat sie doch auch etwas vererbt.“
„Pah. Das bisschen. Und ich habe nicht vor, es unnötig zum Fenster hinauszuwerfen.“ Eleonor stemmte die Hände in die Hüften und fügte hinzu: „Dass ich dich nicht wirklich kenne, glaube ich auch!“
Langsam, aber bestimmt schob Marley ihre Mutter zur Seite.
„Wir sind noch nicht fertig!“, protestierte Eleonor. „Aber wir reden wohl besser weiter, wenn du zur Vernunft gekommen bist.“
„Du hast Monias Geheimnis sogar verraten. An Eugen. Er hat es selbst gesagt. Es gehörte ihr. Ihr allein! Das alles war vor Eugens Zeit.“
„Er hatte ein Recht darauf, es zu wissen.“
„Du wolltest ihr damit nur eins auswischen, weil …“
„Du hast doch keine Ahnung, Fräulein.“
„Hattest du keine Angst, er könnte es mir weitererzählen?“
„Nein!“, antwortete Eleonor selbstsicher.
Schnell huschte Marley an ihr vorbei in ihr Zimmer und schloss die Tür hinter sich ab, auch wenn ihre Mutter am Griff rüttelte.
Marley setzte sich ihre Ohrhörer ein und schaltete den CD-Player an, um sich von ABBA berieseln zu lassen. Der Song I Have a Dream hatte Monia viel bedeutet. Marley ließ sich rücklings ins Bett sinken, schloss die Augen und versuchte, das Gefühl von vorhin zurückzuholen. Es gelang ihr nur ansatzweise. Sie schloss die Augen. Monia hatte gesagt, der Song würde sie auch immer an sie erinnern. Ein Lächeln wanderte über ihre Lippen. Träume, Liebe! Gab es etwas Schöneres? Während sie die Gedanken weiter schweifen ließ, schlief sie ein und wurde in eine Traumlandschaft gezogen, die ihre Haut und ihre Seele gleichermaßen erwärmte.
Gleißend hell blinzelte die Sonne durch die Halme eines Maisfeldes und blendete Marleys Augen. Die Stauden, durch die sie lief, überragten sie um ein paar Zentimeter und kitzelten ihr Gesicht. Aus der Ferne hörte sie das Geräusch eines Motorrads. Lauschend blieb sie stehen und reckte den Kopf. Das Geräusch wurde lauter. Kein Zweifel, es hatte direkten Kurs in ihre Richtung genommen. Auf einmal schoss es an ihr vorbei, halb verdeckt durch den Mais. Der Geruch der Abgase vermischte sich mit dem eines herben Parfüms. Marleys Lippen verzogen sich zu einem Lächeln, dann warf sie den Kopf in den Nacken und blickte in den violettblauen Himmel. Sie nickte für sich.
Denn etwas in ihr sagte ihr, dass der, der das Motorrad gelenkt hatte, das nun in der Ferne röhrte, kein Geringerer war als James Dean. Es war unglaublich. Genau wie die Möglichkeiten, die sich vor ihr auftaten. Sie sah es als Zeichen. Es war Zeit, einmal loszulassen.
Vorsichtig, als wäre er zerbrechlich, tastete sie nach dem Diamanten und ging weiter, um den Ausgang aus dem Maisfeld zu suchen. Sie war fest entschlossen, nicht zurückzublicken, während ihr Herz sie weiterzog.