Читать книгу Einmal Rebellin - Nadine Stenglein - Страница 7

Unvergänglich

Оглавление

Sie winkte David, der sie zu Hause abgesetzt hatte, und ging danach durch den kleinen, weiß umzäunten Garten auf das graue Haus mit den kaminroten Ziegeln zu. Am Himmel bildeten sich graue Wolken und es wurde schneller dämmrig als sonst. Ein Gewitter schien aufzuziehen, da auch der Wind zunahm.

Marley vernahm das aufgeregte Rauschen der Blätter des Ahornbaumes, der im Sommer den paar Blumenbeeten, die sie und ihre Mutter mit einer Saatmischung bepflanzt hatten, Schatten spendete. Einer der blauen, alten Fensterläden, von denen an einigen Stellen Farbe abblätterte, schlug leicht gegen die Fassade.

Heute Nacht wird man wohl keine Sterne sehen können, durchfuhr es Marley und sie drückte die Kiste an sich. Der Schmerz und das Vermissen waren noch genauso intensiv wie an dem Tag, an dem Monia gegangen war. Die Kiste aber war dennoch ein kleiner Trost. Sie barg einen Teil von Monia in sich, auf den Marley schon gespannt war. Vor allem hoffte sie auf ein paar persönliche Zeilen, die ihr zumindest ein wenig das Gefühl geben würden, Monia würde noch einmal mit ihr sprechen. Immer wenn sie an sie dachte, kam ihr in letzter Zeit eine bestimmte Szene in den Sinn. Ein Blatt, das im Glanz des Sternenlichtes, beschützt von dem Dach eines großen Baumes, durch die Luft schwebte. Dorthin, wohin es schon immer hatte fliegen wollen, um sich anschließend an jenem Ort niederzulassen, wo immer er sich auch befinden mochte.

In ihrem Zimmer angekommen, stellte sie die Kiste behutsam in die Mitte ihres Bettes. Eleonor war noch unterwegs, was Marley ganz gelegen kam. Bestimmt hätte sie sie sonst sofort wieder mit Fragen bombardiert. Zur Sicherheit sperrte sie ihre Zimmertür ab und schaltete den CD-Player ein. Ein Song von Snow Patrol erfüllte leise den Raum. Die Musik tat gut. Leicht tänzelnd öffnete sie das große Halbbogenfenster. Wie gern Monia getanzt hatte. Sie lächelte tief durchatmend. Der Wind ließ die beiden lachsfarbenen Seidenschals in fließenden Bewegungen fliegen und wehte ein paar Notenblätter von Marleys Schreibtisch. An der Wand über ihrem Himmelbett hing ein Regenbogen, den Monia einmal fotografiert hatte, als sie gemeinsam spazieren waren. Wie Monia wollte auch Marley an die Geschichte mit der Regenbogenbrücke glauben. Der auf dem Foto war erschienen, nachdem Jasper, Marleys weißes Hermelinkaninchen und Seelentröster, gestorben war. Zwei Jahre war das her, die ihr wie eine Ewigkeit vorkamen. Sie hatte lange um den kleinen, treuen Freund mit den himmelblauen Augen getrauert. Er hatte im wahrsten Sinne des Wortes ein zu großes Herz gehabt, das ihm letztendlich die Luft raubte. Marley hatte sich durchgerungen, ihn zu erlösen, und war bis zu seinem letzten Atemzug bei ihm geblieben.

„Du wirst ihn wiedersehen, denn er war ein besonderer Freund. Er ist über die Regenbogenbrücke gegangen, in ein Land voller duftender Wiesen, wo er mit vielen anderen Tieren spielen kann. Er vermisst dich, wie du ihn, aber eines Tages werdet ihr wieder zusammen sein, und dann für immer. Daran glaube ich. Das gibt mir Trost und dir hoffentlich auch. Er wird dich abholen, wenn es soweit ist“, hatte Monia damals gesagt. Die Vorstellung hatte Marley tatsächlich geholfen und tat es auch nun.

Da der Wind stärker wurde, schloss sie das Fenster wieder. Erste Regentropfen trommelten an die Fensterscheibe.

Ein Lächeln wanderte über ihre Lippen, als sie sich auf dem Bett niederließ und das Foto betrachtete.

„Du hast es ein Zeichen, einen Beweis genannt“, flüsterte sie und lenkte ihren Blick zurück auf die dunkelbraune Holzkiste. Ihr Herz begann, schneller zu schlagen, als sie den Schlüssel aus ihrer Jeanstasche holte, ihn in das kleine silberne Hängeschloss steckte und langsam drehte, bis ein Klick andeutete, dass es sich entriegelt hatte. Tief einatmend hob Marley den Deckel an und klappte ihn schließlich ganz nach hinten. Das Erste, was sie von dem Inhalt sah, war ein Kuvert, auf dem mittig ihr Name stand. Mit zittrigen Händen nahm sie das Kuvert an sich. Das Papier glänzte wie eine Perle.

„Öffne es doch, Schatz“, hörte sie Monias Stimme so deutlich in ihren Ohren, dass sie einen Moment lang glaubte, sie sei real. Ein zarter Luftzug flog durchs Zimmer und streichelte Marleys Wangen. Tränen stiegen ihr in die Augen.

„Bist du hier? … Was für eine blöde Frage. Ich spüre dich. Ja, das tue ich“, flüsterte Marley, und ihr wurde ein wenig wärmer. „Ich danke dir, Monia.“

Das Kuvert war nur an einem Punkt verklebt, sodass sie es öffnen konnte, ohne es zu beschädigen. Danach zog sie das ebenfalls perlengleich glänzende Briefpapier heraus, das an den Ecken abgerundet war. Es roch nach Monia. Ein Duft nach Vanille und Lilien. Ihre Tante hatte den Brief von Hand geschrieben. Schwarze Tinte, wohlgeschwungen. Die Buchstaben kippten leicht nach rechts und liefen wellenförmig aus, ein Tick von Monia, den Marley kreativ fand.

Während sie die Zeilen las, versiegten die Tränen und wandelten sich mehr und mehr in Dankbarkeit für das, was ihre Tante ihr damit schenkte – einen Einblick in ihr geheimstes Innerstes und tiefes Vertrauen. Marley fühlte sich geehrt, umarmt und Monia ganz nah. Ein Gefühl, das ihr das gab, was Monia sich für sie immer gewünscht hatte – mehr Selbstvertrauen in das eigene Tun, in sich selbst. Es war immer da gewesen, wenn Marley mit Monia zusammen war, und sie hoffte, es eines Tages auch aus eigener Kraft halten zu können.

Liebe Marley,

mein Segel auf stürmischer See. Die Ärzte geben mir nur noch sehr wenig Zeit. Es wird nicht allzu viel geben, das ich vermissen werde, wenn ich gehe. Aber Du und er, Ihr gehört definitiv dazu.

Vielleicht konnte ich Dir einen Teil meines Geheimnisses bereits erklären, so dass Du nun weißt, wen ich meine.

Im Geiste bin ich noch die alte Monia, aber der Körper, den ich bewohne, wird immer schwächer. Ihn alleine lasse ich hier zurück. Also, sei nicht traurig. Du wirst mich wiedersehen und ich Dich. Ich bin nur schon früher zu Hause, und ich hoffe inständig, dass ich gut genug war, um in den Himmel zu kommen. Auch wenn ich feige war! Ich habe Dir oft gesagt, Du sollst an Deinen Träumen festhalten und sie dir nicht von anderen Menschen ausreden lassen. Ich selbst habe meinen größten Traum aufgegeben, weil ich mir letztendlich doch ein schlechtes Gewissen habe einreden lassen und nicht wollte, dass der Mann meines Lebens durch mich das Wichtigste verliert, das er hat. Du wirst mich besser verstehen, wenn Du meine Tagebücher und die Briefe gelesen hast.

Ich werde Jasper von Dir grüßen, mein Engel. Du hast so ein großes, gutes Herz, so viel Talent. Zu Deiner Vollkommenheit fehlt nur noch eins – Vertrauen in Dich selbst. Vielleicht kann ich Dir dazu nun einen Stups geben und möchte Dich gleichsam um etwas bitten.

Einen großen Teil meiner Asche werde ich zu einem Diamanten pressen lassen. Eugen hat diesen Wunsch ja mitbekommen. Nun, es wäre wohl besser gewesen, er wüsste nichts davon.

Bitte schenke Tom diesen Teil von mir. Falls er ihn jedoch nicht mehr möchte, was ich verstehen könnte, dann behalte Du ihn. Als ein Versprechen und fühlbares Symbol, dass ich immer bei Dir sein und ihn und auch Dich stets im Herzen trage werde. Den anderen Teil meiner Asche bitte ich Dich in Indiana zu verstreuen, um Tom zu zeigen, wie gerne ich dort mein Leben mit ihm geteilt hätte, und dass ich auf ihn warten werde, so wie ich es versprochen habe. Er soll bis dahin glücklich sein und ich hoffe, er kann mir verzeihen. Das würde mir sehr, sehr viel bedeuten.

Liebe und wahre Freundschaft sind der größte Reichtum, den ein Mensch besitzen kann. Was sonst können wir mit uns nehmen als das? Was sonst erfüllt uns mehr, außer der Glaube an Gott? Du weißt, dass Du den Glauben nie verlieren darfst. Bitte, Liebes! Du weißt auch, dass es mir immer geholfen hat, zum Himmel zu beten. Wir sind nicht allein, auch wenn es manchmal den Anschein hat.

Die Asche befindet sich in dem roten Samtsäckchen. Ich habe eine gute Freundin gebeten, sie nach meinem Ableben dort hineinzufüllen und in die Kiste zu geben. Verzeih Eugen, wenn er zetert, weil ich Dir das Geld und den Diamanten vermacht habe. Meine Güte, ich kann ihn schon jetzt beinahe hören. Ach, mein Eugen, er weiß es nicht besser.

Lass Dich nicht umstimmen, wenn Du den Weg gehen willst, den ich Dir hier vorschlage – von keinem. Aber ich will Dich auch nicht drängen. Wie immer Du Dich auch entscheidest, ich stehe in Gedanken hinter Dir.

Sage Deiner Mutter liebe Grüße von mir. Ich liebe sie, auch wenn wir uns manchmal gezankt haben wie zwei Katzen.

Ich lege mein vergangenes Leben, mein Herz in Deine Hände. Das Wichtigste davon bewacht diese kleine Kiste, die mein Lieblingsmensch neben Tom nun in Händen hält. Von diesem Geheimnis wussten nur meine Eltern und Deine Mutter. Später erfuhr durch Eleonor auch Eugen davon. Er hat nie verstanden, wie ich mich überhaupt auf einen Ausländer, wie er es sagte, einlassen konnte. Und was Deine Mutter angeht, ich habe ihr verziehen. Sie ist, wie sie ist.

Mit tausend Küssen und guten Wünschen,

Deine Tante Monia

Marley ließ den Brief sinken. Sie hätte endlos weiterlesen mögen, wenngleich die Zeilen ihre Gedanken durcheinanderwirbelten. Fragen über Fragen. Vorsichtig, als wäre er zerbrechlich, steckte sie den Brief in das Kuvert zurück. Danach nahm sie das Säckchen heraus und drückte es eine Weile an ihr Herz. Ihr Blick wanderte zu ihrer alten Gitarre, für die sie damals lange gespart hatte. Monia hatte es geliebt, wenn sie ihr darauf etwas vorspielte. Erneut überrollte Marley die Sehnsucht.

Schließlich nahm sie eine kleine schwarze Schatulle aus der Box, in der sich wohl der Diamant befand, der für diesen Tom bestimmt war. Ihre Tante schien in ihn verliebt gewesen zu sein. Aber wer war er, dieser Ausländer, wie Eugen ihn nannte? Sie wusste, dass der Rest des Inhaltes ihr darauf Antwort geben würde, so wie Monia es in ihrem Brief versprochen hatte.

Langsam öffnete sie die Schatulle. Ihr Herz verkrampfte sich, als sich das Licht ihrer kleinen Schreibtischlampe in dem kleinen Diamanten verfing, der darin gebettet lag. Glitzernd hing er an einer silbernen, feinen Kette und es kam Marley vor, als würde er das ganze Licht des Universums in sich vereinen. Nachdenklich nahm sie die Kette heraus und ließ den Diamanten in ihre rechte Handfläche gleiten. Lange saß sie einfach nur da und betrachtete ihn. Noch immer fegte der Sturm ums Haus, während der kleine Edelstein eine Wärme ausstrahlte, die tief in sie kroch und sie lächeln ließ. Behutsam öffnete sie den Verschluss und hängte sich die Kette um den Hals.

Danach tasteten ihre Finger nach einem dicklichen Kuvert in der Kiste. Es war blau wie ein Sommerhimmel. Auf die Oberseite hatte Monia in Schreibschrift die Worte Trau Dich geschrieben. Marleys Herzschlag wollte sich nicht beruhigen. Schließlich öffnete sie den Umschlag und warf einen Blick in sein Inneres. Das Erste, was sie sah, war ein Bündel Geldscheine. Staunend zog sie es heraus und las, was auf dem Zettel stand, der daran hing:

Sag jetzt nicht, das kannst Du nicht annehmen. Du kannst! Ob Du die Reise nun machst (was ich hoffe) oder nicht. Als mir die Idee kam, da sagte mir eine innere Stimme, dass es der richtige Weg für Dich wäre. Sie war ganz deutlich, deshalb bin ich so überzeugt davon. Aber wenn Du das anders sehen solltest, dann erfülle Dir mit dem Geld einen Traum. Und bitte hab dabei bloß kein schlechtes Gewissen. Denke daran, dass es mich glücklich macht, wenn Du es bist. Außerdem – es ist nur Geld! Aber benutze es nur für Dich – für Deine Träume. Versprich mir das! Ich habe genug an Deine Mutter vererbt, dass sie einige Hypothekenraten ohne Deine Hilfe bezahlen kann. Denke ausnahmsweise einmal an Dich, Liebes.

„Du bist verrückt, Tante Monia! Mein Gott!“ Marley brauchte nicht zu zählen, wie viel es war, denn ein kleiner Vermerk auf der anderen Seite des Zettels verriet es ihr – fünfzehntausend Euro. Noch nie zuvor hatte Marley so viel Geld auf einmal besessen. Für ein, zwei Sekunden stockte ihr der Atem.

Inzwischen war das Gewitter von dannen gezogen und es fiel nur noch ein leichter Regen. Marley warf einen weiteren Blick in das Kuvert, griff hinein und zog ein Flugticket heraus, das allerdings nur ein Muster war. Die Stirn in Falten gelegt betrachtete sie es. Das Flugziel hatte Monia selbst eingetragen.

„Nach Amerika, Indiana?“, flüsterte Marley und betrachte die Rückseite, auf der Monia vermerkt hatte:

Tom liebte die Weite des Landes. Er sagte, dort würde der Wind singen, wenn er über die riesigen Felder und Wiesen streift. Ich hätte es zu gern einmal gehört. Ich reise mit Dir, wenn Du Dich dazu entschließt. Flieg, wann immer Du willst.

„Tom kommt also von dort“, flüsterte sie und umschloss den Diamanten mit einer Hand. Aus der Kiste leuchtete ihr ein weiteres Kuvert entgegen, grasgrün wie die Hoffnung. Mittig auf der Vorderseite prangte ein glitzernder silberner Stern. Daneben stand: Für Tom von Monia

„Den soll ich ihm wohl geben“, flüsterte Marley, nahm dem Umschlag heraus und legte ihn zur Seite. Er war verklebt, und sie hatte nicht vor, ihn zu öffnen, denn es gab keinen Zettel, der sie darum bat. Sie wusste, Monia hätte es sie wissen lassen, hätte sie gewollt, dass sie die Zeilen las.

Marley fühlte sich wie in einem Traum. Die Farben in ihrem Zimmer waren noch nie heller, satter und zugleich sanfter gewesen.

Einmal Rebellin

Подняться наверх