Читать книгу Ein Erbe zum Verlieben - Nadine Stenglein - Страница 7

Spiegelbild

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Ruby weigerte sich vehement, Anna zu verraten, wer die zehn angeblichen Traummänner waren. Nicht einmal ihre Vornamen wollte sie nennen. Um es ihr zu entlocken, ging Anna auf das Angebot, an einer Weinprobe in ihrem Atelier teilzunehmen, ein. Ihr Plan war, dass Ruby vielleicht in angeheitertem Zustand ein wenig redseliger werden würde, denn sie schien schon jetzt beinahe vor Aufregung zu platzen. Anna dachte an Grandma Rose, ihre verrückte, geliebte Rose. Die hatte sich das Ganze definitiv gut durch den Kopf gehen lassen.

Mit zusammengezogenen Brauen betrachtete Anna sich im Spiegel. Das konnte doch niemals gutgehen! Außerdem, welches Foto hatten Rose und Ruby diesen Männern bloß gezeigt? Zudem gefiel ihr diese Sache mit der Bezahlung noch immer nicht, auch wenn Granny es mit Sicherheit gut gemeint hatte.

Ruby empfing Anna mit einem verschmitzten Lächeln.

„Ich weiß, was du gleich fragen wirst, Ruby. Die Antwort lautet nein, ich habe mich noch nicht entschieden.“ Anna ging an Ruby vorbei ins Atelier, das verändert aussah. Die Vorhänge vor der großen Fensterfront waren verschwunden, sodass das Licht der Stadt in den großen, mit hellem Marmorboden ausgelegten Ausstellungsraum fallen konnte. Zuvor hatten Neonlichter Rubys Bilder und die einiger Kollegen, die mit ihr hier gelegentlich ausstellten, angestrahlt. In den Ecken und vor zwei Marmorsäulen, in die kleine Brunnen eingelassen waren, gediehen Palmen und Orchideen in weißen Töpfen. Erstaunt sah Anna ihre Freundin an.

„Das war einst deine Idee. Erinnerst du dich? Du hast mir von Anfang an gesagt, ich sollte auf Natürlichkeit setzen. Das würde dem Ganzen einen besonderen Zauber verleihen.“

„Ja, ich erinnere mich. Meine Güte, das ist doch Jahre her.“

Ruby breitete die Arme aus und drehte sich einmal im Kreis.

„Du hattest recht. Du weißt, was es braucht, um etwas zum Leuchten zu bringen. Natürliches Licht, angenehme Geräusche wie das Plätschern des Wassers, und Leben – die Blumen.“

Anna rührte sich nicht, und auch Ruby hielt inne und sah sie an. „Ich will dieses Leuchten auch wieder an dir selbst sehen, Anna. Vor allem in deinen Augen.“

Anna seufzte und zuckte mit den Schultern, woraufhin Ruby um sie herumging, sie von hinten packte und vor den großen ovalen Wandspiegel schob, der am anderen Ende des Raumes hing.

„Sieh dich an. Deine Augen sind matt, du bist … entschuldige, zu einem Schwarz-Weiß-Gemälde geworden. Hol dir die Farben zurück, den Glanz. Ich weiß, dass da drunter eine Schicht voller Farben liegt, die jeden Betrachter in den Bann ziehen wird. Du musst sie nur rauslassen, es wirklich wollen. Öffne deinen Mantel, lass sie explodieren, Anna.“

„Ich kann nicht. Es ist nicht wichtig im Moment für mich“, murmelte Anna und wollte einen Schritt zur Seite gehen. Doch Ruby ließ nicht locker und hielt sie weiter fest.

„Du glaubst also wirklich nicht, dass du die alte Anna wiederfinden, daran anknüpfen kannst?“

„Ich fürchte, sie ist zu tief begraben, Ruby. Erstickt. Irgendwann in den Jahren mit Robert“, erwiderte Anna. Was redet sie da für einen Schwachsinn?, fragte sie sich sogleich. Aber im Grunde war es wahr. Bei Rubys Worten wurde ihr erst richtig klar, dass Robert, ein einziger Mensch, es tatsächlich geschafft hatte, sie lebendig in sich selbst zu begraben. Anna hatte keine Ahnung, woher sie die Kraft nehmen sollte, sich wieder auszubuddeln. Wenn sie es nicht schaffte, wer dann? Zehn fremde Männer? Das kam ihr völlig absurd vor.

„Ich glaube an Wunder und du bist eins, verdammt. Du bist nicht tot, nur dein Kopf ist es. Wach auf, tu was! Du hast dich so lange vernachlässigt, bis du dich selbst vergessen hast. Lass uns dir helfen“, protestierte Ruby.

Kurz darauf hörte Anna das Klacken der Eingangstür, dann eine männliche Stimme, die sie von der ersten Silbe an anzog wie ein Magnet. Sie klang weich, obwohl sie so tief schien wie ein Ozean. Zeitgleich mit Ruby wandte Anna sich um und blickte einem jungen Mann entgegen, der wie ein Rockstar gekleidet war. Sonnenbrille, lässiges rotes Jackett, weißes Hemd, dunkelblaue Jeans und schneeweiße Sneakers. Er strich sich durch sein braunes, leicht lockiges Haar und nahm dann die Brille ab.

„Da bist du ja“, begrüßte ihn Ruby und streckte ihm strahlend eine Hand entgegen.

Er lächelte, ergriff ihre Hand und drückte sie. „Aber klar doch. Für dich immer, Süße.“

Sie zeigte auf Anna. „Das ist sie – Anna Nash, vorher Voss. Aber das vergessen wir wieder ganz schnell.“

„Christian Blake … interessant.“

Während er sich vorstellte, sah er Anna tief in die Augen. Sie konnte nicht verhehlen, dass dieser Blick sie faszinierte. Es war, als würde er durch seine marineblauen Augen tief in ihre Seele sehen. Plötzlich trat er noch näher, als wollte er sie hypnotisieren. Anna wich zurück, doch er bat sie mit einer Geste, ihn weiter anzusehen.

„Ja, sogar sehr interessant“, murmelte er.

„Was?“, fragte Anna ihn leise.

„Hör ihm einfach zu!“, bat Ruby.

War das der Typ, der uns die Weine vorführen wollte? Oder gar einer der zehn versprochenen Traummänner? Annas Gedanken überschlugen sich.

„Es ist da. Ja, ich sehe es, ich kann es deutlich spüren“, sagte er und entließ Anna schließlich. Ruby kannte seltsame Typen, das war keine Neuigkeit, aber der hier war mehr als seltsam, wenngleich auch verdammt anziehend.

„Das habe ich doch gesagt. Zeig es ihr“, erwiderte Ruby.

Anna riss sich aus ihrer kleinen Trance, in die sie gefallen war. „Moment. Was zeigen?“

„Er sieht dich, wie du wirklich bist. Christian ist ein Meister darin. Er kehrt die innere Schönheit nach außen. Er kann dir zeigen, was du aus dir machen könntest, wenn du nur wieder den Mut dazu finden würdest“, erklärte Ruby, die ihm eindeutige Blicke zuwarf. Anna war sicher, dass ihre Freundin sich in den Maler verguckt hatte.

Das, was Ruby über seine Arbeit sagte, klang durchaus interessant und wiederum verrückt. Dennoch wollte Anna nicht sein neues Projekt werden. Sie warf einen Blick auf ihre Armbanduhr. Noch fünf Stunden, bis sie unter die Decke schlüpfen und mithilfe zweier Schlaftabletten dieser Welt für eine Weile entfliehen konnte. Der Unterricht würde für den Rest der Woche zum Glück erst um neun beginnen.

„Denk nicht einmal dran, jetzt zu gehen“, sagte Ruby, nahm sie an der Hand und führte sie in eines ihrer Arbeitszimmer. In einer Ecke war ein Tisch mit Gläsern und verschiedenen Rotweinflaschen gedeckt. Mitten im von Kerzenschein erfüllten Raum stand eine grüne Couch, über deren Lehne ein weißes Seidentuch hing. Anna schwante nichts Gutes.

„Bist du bereit?“, fragte Christian und stellte sich dicht neben sie. Sie roch sein Parfum. Es duftete würzig, herb und dennoch süßlich nach Erdbeeren und Schokolade.

„Er malt dich, wie Gott dich geschaffen hat“, erklärte Ruby und zwinkerte Anna zu. Dieses Zwinkern gefiel ihr ganz und gar nicht.

„Du meinst … nackt?“

Christian zog von dannen, wahrscheinlich, um seine Malutensilien zu holen.

„Das geht nicht. Bist du verrückt, Ruby?“

Schon zog Ruby sie Richtung Couch. „Es wird dir gefallen. Außerdem wird Robert es sehen und glaube mir, er wird blass werden vor Staunen.“

„Robert? Wie meinst du das, er wird es sehen?“

„Ich habe morgen eine Ausstellung und ihm eine Einladung geschickt. Der Champagner ist umsonst, die Häppchen auch. Du weißt doch, dass er bei so etwas nie widerstehen kann.“

„Vor allem konnte er deinen Kolleginnen nie widerstehen. Wenn ich da an diese Sue denke. Die hat er doch buchstäblich ausgezogen mit seinen Blicken. Ich wollte es nur nicht sehen … wie so vieles nicht.“

„Du bohrst schon wieder in der falschen Vergangenheit und drohst, in einer Endlosschleife stecken zu bleiben, die dich wieder nach unten ziehen wird. Erinnere dich lieber an die Zeit vor Robert, hol einen Teil davon ins Jetzt und kreiere damit eine neue Zukunft, eine neue Anna. Na komm schon. Hab Mut!“

Ruby zerrte sie geradezu in eine Umkleidekabine, die sich in einem angrenzenden Raum befand. Dann warf sie ihr ein Badetuch und ein weißes Spitzennachthemd zu, in das, wie Anna fand, wohl nicht einmal Barbie gepasst hätte, und zog den Vorhang zu.

„Vergiss es! Außerdem passe ich da nicht hinein. Es wird aus allen Nähten platzen.“

„Dann halt die Luft an, bis du auf der Couch liegst.“

Kaum hatte sie das gesagt, kam Christian zurück. Anna hörte, wie er seine Sachen auspackte, bereit zum Angriff.

„Wo ist die Leinwand, Ruby?“, fragte er.

„Momentchen noch.“

Ruby schob den roten Vorhang der Umkleide zur Seite, in der sich sonst ihre Aktmodelle um- beziehungsweise auszogen, und reichte Anna eine geöffnete Flasche Wein sowie ein Glas. Anna dachte noch einmal nach. Nun gut, vielleicht würde das Bild wirklich gut werden, so gut, dass Robert doch aufwachen und sehen würde, dass sie keine Nullachtfünfzehn-Frau war – oder gar weniger. Vielleicht konnte Christian wirklich Wunder vollbringen. Sie stellte das Glas zur Seite und trank aus der Flasche. Beim Überziehen des Kleides knackste es verdächtig an ein paar Stellen.

„Bist du so weit?“, fragte Ruby.

Der Alkohol benebelte bereits Annas Kopf, in ihr stieg eine wohlige Wärme auf. Mit jedem weiteren Schluck sank zudem ihre Hemmschwelle, über die sie schließlich trat, direkt auf die Couch zu. Als sie sich drauf niederließ, riss eine Seitennaht des Kleides. Den Rotwein hielt sie fest mit den Händen umklammert.

„Ups“, sagte sie und musste sogar lachen.

Ruby lächelte zufrieden und Christian zückte eine seiner schwarzen Kreiden.

„Du liegst zu unbequem. Lass dich fallen“, sagte er.

Bedeutete das, dass sie selbst angetrunken noch zu steif wirkte? Ruby half ihr und massierte ihre Schultern, was gut tat. Anna sank tiefer in die Couch und konzentrierte sich auf Rubys Worte.

„Gleichmäßig atmen, Anna. Ein und aus … ein und aus … ein und aus … denk an etwas Schönes.“

Anna brauchte noch einen Schluck und merkte kaum, wie Ruby ihr die Brille von der Nase zog. Die Umgebung begann langsam immer mehr vor ihren Augen zu verschwimmen und die Zeit schien stehen zu bleiben. Sie spürte die Enge des Kleides nicht mehr, genauso wenig wie ihre Scham. Von Minute zu Minute fühlte sie sich freier.

„Genau so, genau so“, hörte sie Christians Stimme wie von weit her.

Er streichelte ihren Körper und zugleich auch ihre Seele mit seinen Worten.

„Deine Augen leuchten wie mystische Nordlichter über einem glitzernden Wintersee, der langsam auftaut. Wow. Du bist schön, Anna Nash. Ich sehe dein Leuchten. Deine Haut ist so weich und frisch wie das Gras einer Sommerwiese und deine Grübchen, wenn du lachst, wirken betörend. Ja, ich sehe jede Kleinigkeit, auch die unter der Oberfläche. Ich tauche in dich ein, immer tiefer, ich habe dich gefunden, da bist du, nur du, ungeschminkt …“

Anna hatte keine Ahnung, wie lange sie so dalag und sich fühlte, als befände sie sich an einem wunderschönen Strand unter Palmen, völlig frei von sich selbst und allem, was ihre alte Welt ausmachte. Irgendwann nickte sie sogar ein und träumte davon, wie sie mit den zehn Traummännern im Meer schwamm. Allesamt trugen sie sie auf Händen, lachten mit ihr und nicht über sie, während sie sich von den Wellen tragen ließen. Doch plötzlich wurde der Traum zum Albtraum, als Anna erkannte, dass jeder von ihnen Roberts Gesicht besaß. Schreiend schreckte sie auf. Ruby und Christian befanden sich in der Nähe. Annas Schläfen pochten. Robert war noch zu sehr in ihrem Leben verankert, er hielt sie weiterhin in Besitz. Wie sie es hasste. Fakt war – der schöne Trip war vorbei.

Christian kam auf sie zu, beugte sich über sie, streckte ihr verwirrt dreinblickend eine Hand entgegen und zog sie hoch.

„Alles in Ordnung?“

„Ich bin eingenickt und habe geträumt. Sorry!“

„Ach, für was denn? Komm, ich zeige dir dein Bild. Dein wahres Spiegelbild.“

Seine Augen glänzten voller Erwartung. Ruby schob die Leinwand näher. Anna hielt die Luft an. Die Frau darauf war tatsächlich sie – aber doch so anders. Ihre Züge wirkten weicher, sie trug ein Funkeln in den Augen, hatte die Lippen sinnlich geöffnet, der Körper sah anziehend weich aus und lag in perfekter Position. In Anna begann es zu kribbeln. Langsam stand sie auf und ging auf die Leinwand zu. Ihre Schritte waren ein wenig unsicher, es kam ihr vor, als würde sie auf Wolken gehen.

„Sie ist wunderschön“, flüsterte Ruby.

Anna staunte. „Das soll wirklich ich sein?“

Christian nickte. Die Ernsthaftigkeit in seinem Blick verriet ihr, dass er es wirklich so meinte, wirklich so sah. Ihr stiegen Tränen in die Augen. „Danke!“

„Gern geschehen – sehr gern“, erwiderte Christian, sichtlich gerührt. Während Anna das Bild betrachtete, fühlte sie sich ein Stück weit wie früher – schön, begehrenswert, frei.

Ein Erbe zum Verlieben

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