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1. Kapitel - Anreise

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Während der Fahrt nach Portugal, Emeline und Tymon fuhren gegen zwei Uhr in der Frühe los, erinnerte sie sich an ihre Jugendzeit. Wie sie bis nach Marseille weggereist war, mit ihren Ersparnissen. Sie war einfach fortgelaufen. Ihre Mutter fand das im nach hinein nicht falsch, aber die jugendliche Emeline zählte gerade erst fünfzehn Jahre. Arianne, so wie ihre französische Maman hieß, wusste was es bedeutete in der Pubertät steckenzubleiben und nicht weiterzukommen, mit dem wer man sich nur war.

Nach Lyon, dem Heimatort ihrer Mutter, wollte Emeline nun nicht reisen; das junge Mädchen hatte nicht gerade vor ihren Grandpere Pacome zu besuchen. Dafür hatte Arianne im späteren ein hohes Verständnis. Amüsiert war Emelines Mutter geradezu, dass ihre Tochter in Marseille landete, und eine ganze Woche nichts passierte. Eigentlich hatte das junge Mädchen vor, ihre Brieffreundin Florence, eine blonde,langbeinige Schönheit, aufzusuchen. Die Halbfranzösin musste aber durch die Consierce erfahren, dass ihre französische Brieffreundin vor einem Monat unbekannt verzogen war. Nun hatte die junge Emeline schon noch ein wenig Angst. Hatte sie doch durch ihre Freundin bereits durch Briefverkehr vorher gewusst, dass die Altstadt „Le Panier“, die auf den Namen einer Herberge namens „Le Logis du Panier“ zurückging, viele Gefahren bergen sollte. Arianne erzählte ihr mal mit gehobenem Zeigefinger, dass die Altstadt der historische Zufluchtsort von Seeleuten gewesen wäre und viele Ebenen dieser Art noch heute in dieser Gegend anzutreffen wären. Außerdem hätten sich dort Generationen von fernen Menschen eingefunden, und, dass ausländische Männer in hellblonden, langbeinigen Schönheiten wie Florence und in Mädchen wie Emeline als enfant terrible, das gefundene Fressen sehen würden. Die flüchtende Tochter erzählte nach der „Reise“, dass sie sich aufgrund dieser Weisung, sehr beschützt hätte. Arianne war der Meinung, dass ihre Erziehung bis dahin griff. Empört war ihre Mutter dann doch, aufgrund der Tatsache, dass Emeline ein Perlmuttarmband stahl und aufgrund dessen von der Polizei aufgegriffen wurde. Was sie eher bedrückend und unfreiwillig komisch zugleich fand, wurde ihre Tochter doch deswegen ohne schwere Erlebnisse erfahren zu haben nach Hause gebracht.

Der Grandpere aus Lyon war der Auffassung, dass Emeline Glück im Unglück gehabt hatte und jemand die Erziehung seiner Tochter so ergänzt hatte, dass ihr nichts nennenswertes nachkam. Man fand später heraus, dass es Emeline Großmutter väterlicherseits war, die stets wollte, dass man so frech sein durfte, wie es vielleicht eine Situation zwei bis drei Vorherbestimmungen weiter erforderte.

Als die Enkeltochter von Josepha chattete sich Emeline damals weg, dass ihr dieses Anerziehen vielleicht das Leben gerettet hatte. Denn durch das Schaufenster sah Emeline zwei finstere Gestalten, die ihr durch das Glas zugrinsten. Man konnte ja nicht wissen, ob nicht gerade die Gewaltverbrecher sein sollten. Aber sie wurde ja mit ihrem darauf erfolgtem Diebstahl vorgefunden und nach Hause gefahren.

Emelines Vater David hielt seiner Tochter eine schwere Standpauke. Arianne versuchte ihren Mann an seine Jugendsünden zu erinnern. Er gab dennoch die drakonische Strafe, alleine durch die Schule durchkommen zu müssen und nie mehr nach Marseille reisen zu dürfen. Vielleicht war es eine strikte und abergläubige Weise das vorzuerziehen, so dachte es Emeline noch heute oftmals. Wenn sie es sich so recht überlegte, war es schon noch eine harte Packung, wie sie sich damals verhalten hatte. Der Streit war ja eskaliert, da sie sich von Ellenbogenhaarlänge auf Punkermode selbst geschnitten und rosa getönt hatte. Der typische Pubertäts-Streit endete also, wie beschrieben, mit Flucht. Und der aufoktroyierte Hausarrest war mit der auslösende Faktor, dass Emeline wegrannte, denn was sie damals hasste, war, eingesperrt zu sein in die Ungerechtigkeit des Lebens. Nach diesem Eklat lernte Tymon sie auf einem Schulfest kennen und lieben. Er hatte sie auf ihre „Revolutionsfrisur“ angesprochen. Ihr Vater David war unerwarteterweise begeistert von ihrem „Freund“. Er schien der junge Mann zu sein, der ihr wohl lebenslänglich zur Seite stehen könnte, ohne ihr nur einen Deut helfen zu wollen. Da sie alleine durchkommen musste und Emeline mit so was eher vom gläubigen, denn vom abergläubigen Charakter war, hatte sie Tymon ein Leben lang vor. Keiner durfte wissen – sowieso.

Nun, wo sie verbot in dieser Stadt haltzumachen, eingedenk ihrer Lebensstrafe, wollte er erst nicht einlenken. Zwar kannte er die Story dazu, erklärte aber, als Emeline fragte, was mehr dort drin wäre als nur eine gemütliche Übernachtung, was er dort alles noch zu sehen wünschte. So sagte er, dass man dort schöne Sehenswürdigkeiten besichtigen könnte. Und er eigentlich vorgehabt hatte z.B. die Notre Dame de la Garde zu besichtigen, denn die Basilika wäre ein bekannter Kirchenbau, der sinnigerweise die Stadt und die Einwohner beschützen würde. Emeline wusste ja von Tymons tiefem Glauben, erzählte ihm aber, dass er nichts von ihrem Gottvertrauen wüsste. Und dass sie schon noch auf die Weisung ihres Vaters hören wollte, der ein hohes zweites Gesicht hatte. Als erfahrener Psychotherapeut dachte sich Tymon seinen Teil. Er erzählte, er hätte aber auch gerne den Palais du Pharo kennen lernen wollen, den er in einem Reisebuch ausfindig gemacht hatte. Napoleon der Dritte hätte diesen Palast direkt am Wasser erbauen wollen. Außerdem hätte er einen großartigen Garten angelegt, in dem man hätte einher wandeln können. Emeline überlegte und meinte, „da kannst du vielleicht mal einen Kurzreise mit deinen Arbeitskollegen hin machen.“ Tymon sinnierte und sagte: „Keine schlechte Idee.“ So fuhr er weiter und wollte halt machen in St. Marie de la Mer.

Doch Emeline wehrte auch diesen Stopp ab, weil sie einfach ungute Erinnerungen an diesen Ort hatte.

Auch wenn beide vorher abgemacht hatten, dass die Reise nach Porto, wo sie Jola, ihre zweite Tochter und ihren Ehemann Thibaut treffen wollten, keine Tortur sein sollte. Das Ehepaar beabsichtigte dennoch mit den beiden eine spannende Reise die Küste entlang zu machen. Emeline fühlte, dass ihre Tochter in der Zwischenzeit gut aufgehoben sein würde bei ihrem Mann, der Maschinenbauingenieur war. Somit war er eher vom Intellekt her geprägt und würde mit seiner ruhigen, bestimmenden Art, eventuell gefährliche Situationen im Griff haben. Jola, ein Gefühlsgestirn, war wie Emeline Hebamme vom Beruf und brauchte eigene Impulse, um auch mal freies Spiel zu haben. Geburtshelferin, das war ein Beruf, den Emeline gerne ausgeübt und nach dem „Zur-Welt-Kommen“ der eigenen Kinder an den Nagel gehängt hatte.

Nun sollte sich Tymon mit seinem Wunsch in St. Marie zwei Tage zu verbringen eh nicht mehr durchsetzen, denn in dieser Region regnete es Hunde und Katzen. Er meinte dann selbst, dass diese Stadt in der Camargue, die ja auch ein alter Wallfahrtsort war, wohl in „Regen untergehen würde“.

So könnte er aber auch seine Frau Emeline nicht in eine „Rückführung“ zwingen. In dieser Stadt hatte er einmal versucht sie so zu lieben, wie es nur ging. Aber sie war dagegen, denn da war sie bereits schwanger mit ihrer ersten Tochter, Jolanta, wusste sie als Schwangere doch, dass seine Neigung um sie haltlos zu werben ihr gemeinsamer Tod gewesen wäre. Ihre Älteste, die ein bekannter Schauspielstar geworden war, drehte momentan in Hollywood einen Film über die Beziehung zweier Menschen in der Fremde. Ein Thema, das gerade ganz gut zu den Erinnerungen von Emeline passte. Damals in St.Marie de la Mer war in einem Zelt ihre Romanze noch nicht zu Ende. Nie vergessen würde sie den süßlichen Geruch der Reisfelder und den Rausch so blutjung zu sein. Wie wenige junge Mütter fand sie sich dennoch gesegnet mit einem Kind. Auch wenn sie zwei Tage später am Strand nicht mehr zu sehen war. Sie hatte des Morgens ein baguette gekauft, fiel in Ohnmacht, und wurde dann im Krankenwagen nach Hause transportiert. Tymon dachte heute noch, dass Emelines Humor siegte, war sie doch der Auffassung, dass es vielleicht ein allergischer Schub gewesen wäre. Ihr Statement, dass es wohl auch ihre Schuld gewesen sein müsste, einfach so zu kollabieren, denn sie sah ihre Allergie gegen Weißmehl zumeist nicht ein, amüsierte ihn. Ihr Mann fand das heute noch unfreiwillig humorvoll. Nachdem sie sich dies in einem Gespräch gegenseitig erklärten, hing Emeline noch ihren Gedanken nach, wie das damals alles weiterging. Sie sagte in sich den schönen Flamingos adieu und sah beinah als letztes, bevor sie einschlief, weiße Camargue-Pferde in ihrem Areal stehen.


Sie genoss aber die Reise nach Hause. Man konnte mit ärztlichen Maßnahmen eine Fehlgeburt verhindern, denn die Schwangere regte sich furchtbar darüber auf, dass ihre Frauenärztin Gott und die Welt für alles verantwortlich machen wollte. Ihre Patientin blieb aber lange Zeit nur bei sich. Emeline dachte nachher, sie hätte bei allen Verwicklungen nur ihren Kopf oben behalten können. Und das hatte ihr nur einer beibringen können, von ihrem Rechnen her kam sie nur noch auf Gott. Also sollte sie mit allem durchkommen, ihr Kind zur Welt bringen und wohl glücklich sein. So brachte Emeline ihr Kind fast ganz allein auf die Welt, mit wenig Hilfe von anderen. Die werdende Mutter war ganz entspannt im Hier und Jetzt, sie rechnete, sie würde ihren Instinkt beibehalten müssen. Schließlich war sie von Beruf Hebamme und die anderen konnten auch nicht alles wissen. So bestand Emeline auf eine Untersuchung, die viel zu spät erfolgt wäre und auf eine Zulassung, in den Kreißsaal hineingeführt zu werden.

Sie lag lange Zeit vorher ziemlich im Halbschlaf auf einem Einbettzimmer, wurde immer wieder wach, erschrak, rief wie gesagt im Kreißsaal an, nicht zu spät kam ihre Tochter zur Welt, sowieso? Nun ja Emeline kannte ihren Gott, er gab bei, wenn sie sich durchsetzte als Liebe, zumeist durch ihren Glauben an das Gute. War man sich ihrer aber sicher? Ach, manchmal wusste man da oben wohl, dass sie sich ihre Reste zusammen kratzen musste. Das war nicht nur ihr eigener Wissensschatz, auch ihre Freunde dachten das nicht anders. Sie fühlten aber oft für ihre Freundin, dass es Menschen gab, die sie durchließen.

Doch es gab vor dem Einlass ins Gebärzimmer noch zwei Anrufe, die sie irreführten, man riet gelassen zu bleiben und noch Schlaf, Ruhe und wenig Aufregung zu nehmen. Und Tymon ging noch mit ihrer besten Freundin Kaffee trinken, weil die Ärzte nach dem Blasensprung noch zwölf Stunden vor prophezeiten.

Emeline amüsierte das, war sie doch durch das Verhalten ihres Mannes ganz auf sich gestellt. Und keiner wusste genau, dass sie das sogar mochte. Denn es war ihr Wunsch im Alleingang durchzukommen. Die Gebärende wusste, dass sie beweisen würde, eine gute Mutter zu sein, indem sie ihre eigene Kindheit beweisen sollte. Sie fühlte instinktiv, dass sie eine Tochter zur Welt bringen würde, die ihrer Mutter glich. Sie war in ihrem Bauch so still und leise. Falls dies nun der Fall sein sollte, würde das Baby ein Kind sein, das wünschte die ganze Welt zu verbessern. Noch heute fühlte sie oft Ariannes Missionars-Eifer für eine gerechtere Welt. Aber ihre Kleine müsste sich da erstmal hin kämpfen, dachte Emeline bei sich.

Nach der Geburt konnte man gerade noch verhindern, dass ihre Jolanta auf den Boden glitt. Es war so ein heißer, schwüler Tag, und doch konnte sie in Konzentration sagen: „Passt auf, dass sie euch nicht entwischt.“

So konnte sie bereits von der ersten Sekunde an erfüllen, was sie am Haus, am tiefen, grünen See versprochen hatte. Ihrer Tochter Jolanta stets im Leben zu helfen.

Nachdem Emeline im Aufwachraum ihre Tochter genauer betrachtete, dachte sie sie könnte Arianne wirklich ähnlich sein. Dass sie ein Mädchen sein könnte, dass zu viel geben würde, ohne etwas zurück zu bekommen. So ließ sie Jolanta die Vormilch trinken, ordnete dann aber noch direkt mit dem Beigeben der Ärzte einen Tee nach dem anderen an. Man war damit zufrieden, kannte man doch Emeline als umsichtige und einfühlsame Geburtshelferin, auch in der Nachsorge.

Als sie so müde und erschöpft wieder auf ihrem Zimmer lag, Tymon war leider noch nicht aufzufinden, dachte sie, dass es gut gewesen war, ihrer Tochter zu versprechen sie niemals alleine in ihr Leben gehen zu lassen, ohne das genauer zu kontrollieren. So sinnierte sie im nach hinein, wie die Geburt wohl ohne ihr Eingreifen verlaufen wäre.

Tymon war übrigens ausgesprochen andächtig über das neues Menschenkind und entschuldigte sich noch, denn er hätte eher auf ihre Einschätzung, denn auf die der Ärzte bezogen auf den Zeitraum bis zur Geburt gehört. Emeline war das hinterher ziemlich egal, weil sie dachte, dass ja alles nochmal gut gegangen war.

Müde fuhr ihr Mann eine lange Strecke weiter, mehrere Kilometer, als ihm lieb war. Tymon dachte, er war nicht mehr so jung wie damals, als er seiner Emeline schon das Fahren abnahm. Sie hatte im Ausland einfach zu viel Furcht mit dem Auto zu reisen. Irgendwann setzte Tymon dann doch einen Stopp durch, fuhr von der Straße und schließlich suchten sie sich ein Restaurant, wo sie fürstlich speisten. Den Essenskorb hatten sie schon, während der Autofahrt, und auf den Raststätten bei längeren Pausen leer gegessen und auch die Getränke waren nahezu alle aufgebraucht.

Emeline musste über die teure Restauration im Nirgendwo lächeln, da Tymon ansonsten sehr darauf bedacht war, das Geld beieinander zu halten. Als sie dies thematisierte, meinte er nur, „manchmal muss man auch mal über die Strenge schlagen.“

Erfrischt machten sich die Eheleute wieder auf den Weg. Die Nachtlichter erhellten die Straße.

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