Читать книгу Das Geheimnis der Madame Yin - Nathan Winters - Страница 12

Southampton Am Nachmittag

Оглавление

Die M. S. Cumberland hatte vor einer Stunde im Hafen von Southampton angelegt. Tiefgraue Wolken zogen über sie in Richtung Küste hinweg. Ein kühler Wind ließ den Union Jack flattern, der an einem Fahnenmast über der Hafenanlage hing. Die Luft roch nass und salzig nach den Wellen, die gluckernd in den Hafen rollten. Eine Dame im Pelzmantel befand näselnd, dass es für die Jahreszeit zu kühl und zu nass war. Neben ihr hatten sich nur wenige Passagiere an Deck eingefunden, um den Wartenden am Pier zuzuwinken.

Celeste und Dorothea gehörten zu diesen wenigen. Sie standen nebeneinander an der Reling und sahen zu, wie die Hafenarbeiter johlend und fluchend die Aufgänge an der Cumberland befestigten.

„Werden uns deine Eltern abholen kommen?“, fragte Celeste.

„Vater wird sicher keine Zeit haben und Mutter ist zu krank. Er wird einen Diener schicken, wie üblich.“

„Bist du denn gar nicht froh, nach Hause zu kommen? Du warst die ganze Überfahrt so still.“

Dorothea schüttelte den Kopf, sodass ihr die blonden Locken ins Gesicht fielen. „Ich wäre lieber bei Tante Anette geblieben. Bei ihr habe ich mich wohlgefühlt.“ Sie sah hilfesuchend zu Celeste, die sich des Gefühls nicht erwehren konnte, dass das Mädchen etwas sagen wollte, es aber nicht herausbrachte.

Plötzlich nahm Dorothea ihre Hand und drückte sie. „Ich bin Ihnen sehr dankbar, dass Sie bei mir sind.“

Celeste antwortete nicht, stattdessen legte sie ihre andere Hand über die des Mädchens.

Das Nebelhorn der Cumberland erschallte und mit einem Mal schien es, als hätten die Kabinen, Salons, Restaurants, Cafés und Aufenthaltsräume ihre Besucher auf einen Schlag freigegeben. Die Luft vibrierte vom Klappern unzähliger Schuhe auf den polierten Decks, vom Lärm hunderter Stimmen, die mal laut, mal leise durcheinander plapperten. Das gestochene Oxford-Englisch mischte sich mit dem geschwungenen Akzent aus Cornwall und dem gerollten „R“ eines Schotten aus Glasgow. Dazwischen hörte man Fetzen von Italienisch und Französisch. Ein Paar sprach sogar Deutsch.

Noch war etwas Zeit und Celeste nutzte den Augenblick, um Dorotheas Gesicht zu studieren. Ihre Haut war blass und wirkte kränklich. Die dunklen Ringe unter ihren Augen verrieten den Mangel an Schlaf. Seit sie New York verlassen hatten, litt Dorothea unter Albträumen. Nacht für Nacht war Celeste zu ihr geschlichen, hatte ihr über das Haar gestrichen und ihre Hand gehalten, bis die Dämonen der Nacht wieder ins Dunkel zurückgekrochen waren.

„Ich will nicht zurück nach London. Ich hasse diese Stadt. Warum kann Vater mich nicht in Frieden lassen?“

Celeste verstärkte den Druck auf Dorotheas Hand. „Ich nehme an, deine Eltern haben Sehnsucht nach dir.“

„Sie kennen Vater nicht. Er ist kein Mensch, der Sehnsucht nach etwas … oder jemandem hat. Wenn er etwas tut, gibt es dafür immer einen guten Grund.“

„Und was ist mit deiner Mutter?“

Bei der Erwähnung ihrer Mutter schwand die Härte aus Dorotheas Augen. „Oh doch. Sie freut sich ganz bestimmt. Und … ich mich auch auf sie. Aber es geht ihr nicht gut. Sie leidet sehr und es tut mir weh, sie so zu sehen.“

Celeste wollte nicht fragen, was ihr fehlte. Sie fand, das ging sie nichts an, aber Dorothea erzählte es von sich aus. „Sie leidet seit Jahren an einer Schwäche der Muskeln, die von Jahr zu Jahr schlimmer wird. Früher konnte sie noch ohne Hilfe gehen. Aber zuletzt ging es nicht mal mehr ohne einen Stock.“

„Gibt es denn keine Aussicht auf Heilung?“

„Nein, bis jetzt nicht. Vater hat schon jeden Spezialisten aus England und sogar aus Frankreich konsultiert. Keiner konnte etwas für sie tun.“ Sie schwiegen beide.

Celeste bemerkte, wie sehr es dem Mädchen zusetzte, über die Mutter zu reden, und sie befand, dass es an der Zeit war, das Schiff zu verlassen. „Komm, Dorothea“, sagte sie mit einer Fröhlichkeit, die nur ein Stück weit gespielt war. „Gehen wir von Bord. Ich kann es kaum erwarten, endlich wieder festen Boden unter den Füßen zu spüren.“ Lachend zog sie Dorothea hinter sich her, die sich von ihrer fröhlichen Unbekümmertheit anstecken ließ. Sie liefen die Gänge entlang, hielten ihre Hüte fest, an denen der Wind zerrte, jauchzten und kicherten und ernteten dafür strafende Blicke von älteren Paaren, die ihr Verhalten mit einem „Unerhört!“ oder „Was für ein Benehmen“, kommentierten.

Celeste und Dorothea liefen die Treppe hinunter, bemüht, nicht über ihre eigenen Röcke zu stolpern, die mit jedem Schritt von einer Seite zur anderen schwangen.

So erreichten sie die Laufgänge, die inzwischen festgebunden waren. Es gab derer sechs. Zwei waren für die dritte, zwei für die zweite und zwei für die erste Klasse reserviert.

„Bitte … bitte … anhalten. Ich … kann … kaum noch atmen“, keuchte Dorothea lachend und mit vor Freude geröteten Wangen.

Celeste hielt Dorothea bei den Händen, strahlte mit ihr um die Wette und ignorierte dabei die Blicke der Schiffsoffiziere, die wie Zinnsoldaten dastanden und die Passagiere mit eingemeißeltem Lächeln verabschiedeten.

An Land wurden die beiden Frauen bereits von zwei Bediensteten erwartet.

„Miss Dorothea“, sagte der ältere der beiden, der so aussah, als würde er schon seit Ewigkeiten als Butler im Dienste der Familie Ellingsford stehen. „Seine Lordschaft wird entzückt sein, Sie wieder im Kreis der Familie begrüßen zu dürfen. Ich hoffe, Sie hatten eine angenehme Heimreise?“

„Haben Sie vielen Dank, Mr. Peacock. Ich … mein Vater hatte wohl keine Zeit, mich persönlich zu begrüßen?“

Der Butler legte die faltigen Hände ineinander. „Seine Lordschaft bedauert es zutiefst, sich entschuldigen zu müssen, aber dringende Termine haben sein Kommen unmöglich gemacht.“

Dorothea nickte schwach und Celeste gewann den Eindruck, dass das Mädchen nicht einmal enttäuscht war.

Dann wandte der Butler seine Aufmerksamkeit ihr zu. „Sie müssen Miss Summersteen sein.“

Sie nickte und er deutete eine Verbeugung an. „Willkommen in England. Ich war so frei und habe die Karten für die Weiterfahrt bereits besorgt. Der Zug geht in einer Stunde. Gestatten Sie mir vorzuschlagen, dass wir aufbrechen? Andrew wird mit dem Gepäck nachfolgen.“ Der zweite Diener nickte und trottete in Richtung Schiff.

Mr. Peacock zeigte auf die wartende Kutsche. „Ich kann mir vorstellen, dass die Damen von der Reise erschöpft sind. Ich habe mir erlaubt, eine kleine Erfrischung zuzubereiten, die in Ihrem Abteil auf Sie wartet.“ Während er sprach, hatte er ihnen die Tür geöffnet und half ihnen beim Einsteigen.

„Sie sind wirklich eine gute Seele, mein lieber Peacock“, sagte Dorothea höflich. „Wie geht es meiner Mutter?“

„Ausgezeichnet, Miss Dorothea. Mit der Gewissheit, Sie wiederzusehen, ging es ihr von Tag zu Tag besser.“

Kurz darauf setzte sich die Kutsche mit einem Ruck in Bewegung und sie folgten der Hauptstraße, die sie aus dem Hafengebiet von Southampton zur Central Station bringen würde. Von dort aus ging ihr Zug nach London.

Neugierig blickte Celeste nach draußen. Das dreckige Grau der Hafengebäude, wo Ziegel nur noch wackelig im Mauerwerk steckten und Grasbüschel aus den Regenrinnen wucherten, verschmolz mit dem Wolkeneinerlei über der Stadt zu einem wenig einladenden Bild.

Die Schornsteine der nahen Fischereibetriebe stießen öligen Ruß in den Himmel. Der Geruch legte sich auf die Lunge und mischte sich mit dem Gestank fauliger Fischabfälle, die sich vor den Fabriken auftürmten. Für die kreischenden Möwen, die sich um die besten Stücke balgten, war es ein reich gedeckter Tisch. Angewidert zog Celeste die Nase kraus. Ihr erster Eindruck von England war nicht der Beste.

„In London riecht es auch nicht besser.“ Dorotheas Stimme schreckte sie auf.

„Wirklich? Das kann ich kaum glauben.“

„Wenn der Wind ungünstig steht, riecht man die Schlachtereien, in Surrey, wenn sie ihre Abfälle verbrennen, oder die Themse verpestet die Luft. Das Wasser ist so schmutzig. Wenn man es trinkt, wird man krank. Im Winter ist es in London besonders schlimm, dann zieht der Rauch aus den Schornsteinen nicht ab und sammelt sich in den Straßen. Der Nebel ist dann so dicht, dass Sie kaum die Hand vor Augen sehen können.“ Celeste machte ein ungläubiges Gesicht und Dorothea lächelte milde. „Warten Sie es nur ab. Sie werden es ja bald selbst erleben.“


Das Geheimnis der Madame Yin

Подняться наверх