Читать книгу Das Geheimnis der Madame Yin - Nathan Winters - Страница 14

London Paddington Station Acht Uhr abends

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Celeste glaubte, nur kurz die Augen geschlossen zu haben, als sie jemand an der Schulter berührte und sanft weckte. Sie blinzelte verschlafen und konnte spüren, wie der Zug seine Fahrt verlangsamte. Bremsen quietschten, begleitet vom Pfeifen der Lokomotive. Schwarzer Kohlenrauch wirbelte am Fenster vorbei und Dampf umwallte die Wartenden am Bahnsteig.

Auf den Bahnsteigen brannten Laternen. Die Uhr über einem der Wartesäle schlug acht Mal zur Abendstunde.

„Habe … habe ich lange geschlafen?“, fragte Celeste verwirrt.

„Ja, die gesamte Fahrt über.“ Dorothea beugte sich vor.

„Sechs Stunden? Es kommt mir wie sechs Minuten vor.“

Dorothea versuchte zu lächeln. „In nicht einmal einer halben Stunde bin ich zu Hause.“

Kurz darauf verließ sie in einer Kutsche Paddington Station. Sie fuhren am Hyde Park entlang in Richtung Park Lane.

Die Luft war mild und roch auch ein wenig fruchtig dank der Obsthändler, die mit ihren Karren und Bauchläden voller Äpfel und Birnen durch die Straßen zogen. Elegante Stadthäuser mit säulengeschmückten Fassaden und hohen Fenstern reihten sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite dicht an dicht aneinander. In den Vorgärten wuchsen sorgsam gestutzte Hecken und Büsche, der Rasen war so grün und gepflegt, dass es darin für Unkraut keinen Platz geben konnte. Celeste erschien das alles so sauber und geordnet, dass sie sich des Eindrucks nicht erwehren konnte, auf eine übergroße Theaterbühne zu schauen.

Sie bogen in die Park Lane ein. Dorothea holte tief Luft und Celeste nahm ihre Hand. Sie war eiskalt. „Es gibt keinen Grund aufgeregt zu sein. Du wirst schon sehen.“

Dorothea nickte, auch wenn sie vielleicht lieber den Kopf geschüttelt hätte.

„Ich habe Angst“, flüsterte das Mädchen mit gesenktem Blick.

„Vor deinen Eltern?“

„Nein, nicht vor ihnen.“

Celeste wollte fragen: Vor wem dann, aber dazu kam sie nicht, denn die Kutsche hielt vor einem dreistöckigen Haus mit weißer Fassade. Zwei Statuen mit finsteren Gesichtern trugen einen halbrunden Balkon auf ihren Schultern. Die Haustür öffnete sich. Zwei Hausdiener mit Laternen traten ins Freie und beleuchteten die Treppe hinauf zum Eingang.

Ihnen folgte ein Mann im schwarzen Anzug. Wie die bedrohliche Gestalt aus einer Gruselgeschichte tauchte er aus dem Dunkel des Hauses auf und trat ins Licht der Laternen.

Seine Hände hielt er hinter dem Rücken verschränkt. In seinem Mienenspiel war es unmöglich, ein Gefühl der Freude oder überhaupt eine Regung zu erkennen. Celeste brauchte keine Hellseherin zu sein, um zu wissen, dass sie Lord Ellingsford vor sich hatte.

Sein unterkühltes Verhalten war ganz anders als das der Frau, die in einem Rollstuhl sitzend neben ihn geschoben wurde. Ihr Gesicht wirkte verhärmt und ausgezehrt. Die Augen lagen tief in den Höhlen, doch trotz ihrer offensichtlich schlechten körperlichen Verfassung, lachte sie vor Freude und weinte vor Rührung. „Dorothea!“, rief sie herzlich und streckte ihr die Arme entgegen. Dorothea lief die Treppe hinauf, auch sie weinte und lachte. Vor ihrem Vater, Lord Ellingsford, hielt sie kurz inne und knickste vor ihm. „Willkommen zu Hause, mein Kind“, sagte er und tätschelte ihr den Kopf, als würde er einen Hund loben.

Dann umarmten sich Mutter und Tochter. Lord Ellingsford wandte sich derweil Celeste zu und warf ihr einen Blick zu, der ihr deutlich machte, dass sie hier nicht willkommen war. Celeste konnte seine Ablehnung fast körperlich spüren.

„Miss Summersteen, nehme ich an?“

„Ja, die bin ich“, sagte sie höflich.

„Sie sind Amerikanerin?“

„Ja, aus New York.“

„Nun denn.“ Ellingsford vermied es, ein abfälliges Wort über ihre Herkunft zu verlieren, doch die Abneigung, die er gegen die Bewohner der ehemals englischen Kolonie hegte, war ihm deutlich anzusehen. Er blickte Frau und Tochter nach, die in einem der Salons verschwanden. „Sie werden sich einiges zu erzählen haben. Ich denke, das gibt uns Gelegenheit uns zu unterhalten. Wenn Sie mir folgen wollen.“

Ellingsford ging voran und geleitete Celeste durch die große Eingangshalle in ein Zimmer, das in einen Wintergarten überging. Allerlei tropische Pflanzen wuchsen dort. Zwei Petroleumlampen, die von goldenen Nixen gehalten wurden, spendeten ein wenig Licht. In einer Ecke plätscherte leise ein kleiner Brunnen.

Mit einer Handbewegung deutete Ellingsford auf einen der Korbstühle, die um einen Marmortisch herum gruppiert waren. „Bitte. Nehmen Sie Platz.“ Er selber setzte sich ihr mit übereinandergeschlagenen Beinen und verschränkten Armen gegenüber.

Celeste öffnete ihre Handtasche und nahm die zwei Briefe heraus, die sie von Mrs. Roover erhalten hatte. „Ihre Schwester bat mich, Ihnen die hier zu geben.“

Er nahm sie mit starrer Miene entgegen, warf einen kurzen Blick darauf und steckte sie dann ein. „Ich werde sie später lesen“, sagte er und presste einen Schwall Luft durch die Lippen. „Wie kann sich meine Schwester anmaßen, eine Detektei einzuschalten, ohne mich vorher um Erlaubnis zu bitten?“

Celeste überhörte den angriffslustigen Ton und blieb freundlich. „Ihre Schwester ist nur um Dorotheas Wohl besorgt. Sie war der Meinung, eine Freundin würde ihr die Heimreise erleichtern.“

„Meine Tochter ist erwachsen. Sie braucht kein Kindermädchen mehr.“

„Vielleicht doch. Ich weiß, weswegen sie in Chicago war.“

Ellingsford erbleichte, dann zuckte ein Muskel an seinem Kiefer. „Das ist ungeheuerlich. Meine Schwester ist eine Klatschbase. Ich hatte ihr ausdrücklich verboten über dieses … dieses heikle Thema zu sprechen.“

„Sie müssen sich keine Sorgen machen. Niemand wird etwas davon erfahren.“

Ellingsford schien nicht überzeugt. Er stand auf, trat an die großen Fenster und sah in den abendlichen Garten hinaus. Das tat er eine schweigsame Weile, bis er fragte: „Was sollen Sie hier eigentlich tun?“

„Das wird Ihnen der Brief erklären, den Ihre Schwester Ihnen geschrieben hat.“

„Ich will es aber von Ihnen hören.“

Celeste dachte einen Moment lang nach. Sie erinnerte sich an das, was Mrs. Roover über ihren Bruder gesagt hatte. Diplomatie war gefragt. „Dorothea weiß nichts vom Tod ihrer Freundin. Ihre Schwester hat es ihr nicht erzählt und nun fürchtet sie, Dorothea könnte einen Rückfall erleiden, sollte sie es doch erfahren.“

Ellingsford blieb regungslos. „Glauben Sie wirklich, ich lasse meine Tochter noch einmal unbeaufsichtigt aus dem Haus? Es wird Zeit, dass diese Flausen ein Ende haben. Dorothea muss sich endlich wie eine Dame benehmen und lernen, was eine gute Ehefrau zu tun hat. Ich habe ihr viel zu lange, zu viele Freiheiten gelassen.“

Celeste machte große Augen. „Dorothea sollte nach London zurückkehren, um zu heiraten?“

Der Hausherr drehte sich vom Fenster weg und starrte sie an. „Das geht Sie nichts an.“

Sie presste die Lippen aufeinander und schluckte den aufkommenden Ärger hinunter.

„Sie sind nicht verheiratet, Miss Summersteen.“ Es war eine Feststellung, keine Frage.

Der plötzliche Themenwechsel irritierte sie. „Nein, bin ich nicht“, stotterte sie verwirrt.

„Ich würde Ihnen raten sich einen Mann zu suchen, ehe es zu spät für Sie ist. Dann hätten Sie es nicht nötig, sich für Geld anheuern zu lassen. Was ist das überhaupt für ein Beruf, Detektivin?“

Celeste konnte spüren, wie ihre Ohren heiß und ihre Augen zu schmalen Schlitzen wurden. „Dafür, dass Sie vorgeben ein Gentleman zu sein, sind Sie äußerst taktlos, Lord Ellingsford. Also nehme ich meine amerikanische Herkunft als Entschuldigung und sage Ihnen, dass Sie das verdammt nochmal nichts angeht.“

Er lächelte gönnerhaft. „Ihr Amerikaner.“ Er sprach das Wort „Amerikaner“ aus, als wäre es eine ansteckende Krankheit. Dann trat er vor und sah auf sie hinab. Sie stand auf und begegnete seinem Blick fast schon mit trotziger Sturheit. Celeste wusste, was er sagen würde, und sie sollte recht behalten.

„Ich danke Ihnen, dass Sie meine Tochter sicher hergebracht haben, aber ich denke, Ihre Dienste werden nicht weiter benötigt. Selbstverständlich komme ich für die Kosten auf, die Ihr Aufenthalt in London und Ihre Rückfahrt mit sich bringen.“

So leicht gab sich Celeste nicht geschlagen. „Lord Ellingsford, gestatten Sie mir eine Frage?“

„Wenn es unbedingt sein muss.“ Mit einem Seitenblick schielte er auf seine Taschenuhr.

„Der Mord an Estelle Wiggins. Wurde der inzwischen aufgeklärt?“

„Ich habe diese unglückselige Geschichte nicht verfolgt, aber nein … ich glaube nicht.“

„Wenn das so ist: Halten Sie es dann für klug, Dorothea ausgerechnet jetzt zurückzuholen?“

„Ich verstehe nicht, was Sie mir damit sagen wollen.“ Ellingsford tippte seine Fingerspitzen gegeneinander. „Sie sollten wissen, dass in dieser Stadt ständig Menschen zu Tode kommen. Das ist zu meinem Leidwesen nichts Ungewöhnliches. Und natürlich ist der Tod der jungen Miss Wiggins tragisch, wirklich, doch ich habe es kommen sehen.“

Celeste spürte, wie sich ihr ganzer Körper verkrampfte und ihre Fingerspitzen zu kribbeln begannen. Ellingsfords gleichgültige Art machte sie wütend. „Wieso haben Sie es kommen sehen?“

„Nun, sie hatte zahlreiche Liebschaften mit recht zweifelhaften Gentlemen. Aus diesem Grund hatte ich Dorothea auch verboten, weiter Kontakt zu dieser Person zu halten.“

„Was für Gentlemen? Was für Liebschaften? Woher wissen Sie das alles eigentlich so genau?“

„Man hört so einiges.“

„Ach, also beziehen sich Ihre Aussagen lediglich auf Gerüchte? Sie glauben tatsächlich das, was andere Ihnen vorplappern?“

Ellingsford sagte nichts, durchbohrte sie aber mit seinen Blicken.

Die Luft zwischen ihnen summte förmlich, bis Celeste das stumme Kräftemessen beendete und sagte: „Ihre Schwester macht sich wirklich Sorgen.“

„Meine Schwester hat sich schon immer um Dinge gekümmert, die sie nichts angehen. Offenbar eine Schwäche, die Sie mit ihr teilen.“

Celeste verbiss sich einen bitteren Kommentar und zwang sich zu einem Lächeln. „Uns interessiert eben, was sich hinter dem Vorhang verbirgt, Lord Ellingsford. Dürfte ich Ihnen einen Vorschlag machen?“

Er sah sie skeptisch an, nickte dann aber zögerlich.

„Dorothea wird Angst haben und traurig sein, wenn sie von Estelles Tod erfahren sollte, und das wird sich wohl kaum vermeiden lassen. Sie kennt mich und ich glaube, sie vertraut mir. Ich würde auf sie aufpassen und dafür sorgen, dass sie nicht wieder in die Nähe irgendwelcher Opiumhöhlen kommt. Es wird sicherlich eine schwere Zeit für sie.“

Ellingsford nahm sich Zeit für seine Antwort. Langsam ging er im Wintergarten auf und ab, tippte sich mit den Fingerspitzen an die Lippen und betastete gedankenverloren die rot gesprenkelten Blüten einer Orchidee. Schließlich sagte er: „Auch wenn ich Ihre unverschämte Art nicht gutheißen kann, möchte ich mir trotzdem nicht nachsagen lassen, dass ich nicht das Beste für meine Tochter will. Ich werde mit ihr sprechen und wenn sie Ihre Gesellschaft wünscht, gestatte ich Ihnen zu bleiben.“

„Ich bin einverstanden.“ Als ob sie eine Wahl gehabt hätte.

Sie wollten den Wintergarten gerade verlassen, als sich Schritte näherten und eines der Hausmädchen zwischen den geöffneten Türflügeln erschien. „Verzeihen Sie die Störung, Eure Lordschaft“, sagte das Mädchen und knickste.

„Ja, was gibt es denn, Francine?“

„Mr. Bradshaw ist hier. Er sagt, er bringt die Gemälde.“

Ellingsford sah auf seine Uhr. „Um diese Zeit noch?“ Er klappte den Deckel zu, schob die Uhr wieder in die Westentasche. „Na schön. Bitten Sie ihn herein.“

In der Halle trafen sie auf Ellingsfords Besucher, einen älteren Mann mit dunklem Bart und schütterem Haar. Er trug einen bereits sichtlich in die Jahre gekommenen Anzug, dessen Revers und Ärmel ein paar schlecht entfernte Farbflecke aufwiesen.

„Mr. Bradshaw. Was für eine Überraschung, zu so später Stunde.“

„Ich hoffe, mein Besuch kommt nicht ungelegen? Nur … ich war gerade in der Gegend und …“

„Nein, nein, seien Sie unbesorgt.“ Ellingsford lenkte die Aufmerksamkeit auf Celeste. „Das ist Miss Summersteen, aus Amerika. Mr. Bradshaw, ein Freund des Hauses.“

„Amerika? Was für ein faszinierendes Land. Diese unendliche Weite, die sich im Himmel zu verlieren scheint.“ Bradshaw nahm ihre Hand und deutete einen Kuss an.

„Sie waren schon einmal da?“

„Nein. Aber ich habe Gemälde bewundern dürfen, die versuchten die Schönheit des Landes wiederzugeben. Ist es wahr, dass dort Menschen mit roter Haut leben? Sie sollen sich in Lederhäute kleiden und in spitzen Häusern leben, die sie innerhalb kürzester Zeit abbauen können.“

„Ja, das stimmt. Man nennt sie Tipis.“

„Faszinierend. Was für ein wunderbar göttliches Geschöpf der Mensch in seiner Vielfältigkeit doch ist.“

„Es sind Heiden, die unseren Gott nicht kennen“, tat Ellingsford seine Meinung kund und schlug die Tücher beiseite, die die Gemälde verhüllten.

Das eine zeigte eine Seenlandschaft, mit einer Burgruine auf einem Hügel, umgeben von Strauchwerk und Tannen. Ein paar Jäger zu Pferd, die von einem Rudel Hunde begleitet wurden, brachen aus dem Tannengrün heraus.

Das andere Bild war ein Portrait von Dorothea, in einem wundervollen roten Kleid mit weißen Blumenstickereien. Sie trug das Haar kunstvoll geflochten und mit einer silbernen Spange hochgesteckt. In der Hand hielt sie eine Leine. Ein Irish Setter saß zu ihren Füßen. „Was für wunderbare Gemälde“, sagte Celeste, die zwar nicht viel von Kunst verstand, aber recht genau wusste, was ihr gefiel.

„Ich werde das Kompliment gerne weiterreichen. Albert ist äußerst begabt. Ich könnte mir keinen besseren Assistenten wünschen.“ Während Bradshaw das sagte, zeigten sich Sorgenfalten auf seiner Stirn, die Celeste nicht verborgen blieben.

„Bedrückt Sie etwas?“

„Miss Summersteen, bitte. Mr. Bradshaw ist sicher nicht hergekommen, um von Ihnen verhört zu werden.“

Bradshaw winkte ab. „Nein, nein, es ist schon gut, Eure Lordschaft. Es stört mich nicht. Sie hat ja recht. Ich bin in Sorge. Albert ist seit ein paar Tagen verschwunden und es ist nicht seine Art, einfach ohne ein Wort der Erklärung fortzubleiben.“

„Glauben Sie, ihm ist etwas zugestoßen?“

„Ich kann es wirklich nicht sagen.“

„Haben Sie denn mit der Polizei gesprochen?“

„Ja, bereits heute Morgen. Sie werden die Augen offen halten.“

„Dann ist die Sache ja geregelt“, mischte sich Ellingsford ein. „Ich danke Ihnen, mein lieber Freund. Einen besseren Zeitpunkt hätten Sie nicht wählen können. Dorothea wird das Bild sicher sehr gefallen. Ich werde meine Bank anweisen …“

Bradshaw fiel ihm ins Wort. „Miss Dorothea ist zurück von ihrer Reise?“

„Ja, seit etwa einer Stunde.“

„Wenn Sie gestatten, würde ich ihr gerne meine Aufwartung machen.“

„Ein anderes Mal, alter Freund. Sie ist erschöpft. Die lange Reise. Ich hoffe, Sie verstehen das?“

„Aber natürlich. Ein anderes Mal.“ Bradshaw schien enttäuscht. Er nahm Celestes Hand und deutete einen Handkuss an. „Es war mir eine Freude, Sie kennenzulernen. Wenn Sie mich einmal in meinem Geschäft aufsuchen möchten, wäre ich hoch erfreut, Ihnen zu Diensten sein zu können. Hier, meine Visitenkarte.“

Dann schüttelte er Ellingsford die Hand und verließ das Haus.

„Francine“, sagte Ellingsford. „Sind die Ladyschaft und meine Tochter noch im Salon?“

Sie knickste. „Nein, Sir. Sie haben sich nach oben zurückgezogen. Ihre Ladyschaft war erschöpft.“

„Hmm. Das überrascht mich nicht. Sie war so aufgeregt, dass sie ihre Ruhepausen nicht eingehalten hat.“

Celeste folgte Ellingsford hinauf in die erste Etage. Sie sprachen kein weiteres Wort mehr und so hatte Celeste Gelegenheit, die zahlreichen Porträts an den Wänden zu betrachten, die ausschließlich Männer zeigten. Unter ihnen befanden sich Sirs und Lords, Generäle, Mitglieder des Unterhauses. Jeder von ihnen sah streng, beinahe schon missbilligend auf die Besucherin herab. Alle gehörten zum Geschlecht der Ellingsfords, wie die Namen auf den goldenen Plaketten verrieten. Lord Ellingsford war ohne Zweifel einer von ihnen. Er besaß das gleiche aristokratische Gesicht, den gleichen harten Zug um Mund und Kinn und den gleichen stechenden Blick, der jedem Hexenjäger in Amerika Ehre gemacht hätte.

Sie erreichten eine Tür, die links und rechts von zwei farbenfrohen Blumengebinden geschmückt war. Ellingsford klopfte, wartete das leise „Ja, bitte“ ab und öffnete.

Das Zimmer wurde von Gaslampen erleuchtet, die ihren Widerschein auf einem Schminkspiegel fanden, der vor den Fenstern stand.

Dorothea saß neben ihrer Mutter auf dem Bett. Sie unterbrachen ihr Gespräch, als Ellingsford eintrat.

„Warten Sie hier, Miss Summersteen“, befahl er, bevor er ihr die Tür vor der Nase zuschlug.

Jetzt hing alles von Dorotheas Entscheidung ab. Sie würde nicht wollen, dass sie ging. Oder doch? Was dann? Zurück nach Chicago und sich Pinkertons Spott aussetzen? Niemals, diesen Triumph würde sie ihm nicht gönnen. Zudem würde sie mit Sicherheit Mrs. Roovers Unterstützung verlieren.

Eine so einflussreiche Frau verärgerte und enttäuschte man besser nicht.

Celeste ertappte sich dabei, wie sie nervös an ihrer Unterlippe knabberte. Eine Unsitte, die sie schon als Kind gehabt hatte.

Da öffnete sich die Tür und Ellingsford trat auf den Gang hinaus.

„Was hat Dorothea gesagt?“, fragte sie hastig.

Ellingsford kniff die Mundwinkel zusammen. „Sie wünscht, dass Sie bleiben.“ Nach diesen knappen Worten zog er an einer Kordel, die hinter einem Vorhang aus grünem Brokat versteckt war. Irgendwo im Haus ertönte ein kleines Glöckchen.

„Ich danke Ihnen.“

Er überhörte ihren Dank und sagte: „Ich habe eine Bedingung, die ich an Ihr Bleiben knüpfen muss. Gleich wohin meine Tochter geht, gleich was sie tut – Sie werden mir darüber Bericht erstatten.“

Celeste nickte.

„Sollten Sie sich meinen Wünschen widersetzen, bedenken Sie, dass Sie nur Gast in meinem Haus sind.“

Celeste nickte, weil er es so wollte. Niemals würde sie Dorothea belügen oder ausspionieren.

Das Mädchen vertraute ihr.

Auf der Treppe waren eilige Schritte zu hören. Es war Francine, die sich die Schürze glatt strich, das Häubchen richtete und die letzten Schritte langsamer zurücklegte. „Eure Lordschaft haben geläutet?“

„Miss Summersteen wird unser Gast sein. Bereiten Sie eines unserer Gästezimmer für sie vor.“ Dann wandte er sich wieder an Celeste. „Wenn Sie mich jetzt entschuldigen würden.“

Das Dienstmädchen führte Celeste in die dritte Etage hinauf. „Das Zimmer wird Ihnen bestimmt gefallen. Sie haben einen wundervollen Blick auf den Garten. Um diese Jahreszeit tollen immer die Drosseln und Eichhörnchen durch die Wipfel. Und wenn Sie …“ Das Dienstmädchen plapperte wie ein Wasserfall. Celeste blickte freundlich, hörte aber nicht zu. Sie hatte es geschafft und nun war sie müde. Sie konnte es kaum erwarten, endlich ihre Schuhe von den Füßen zu streifen. Ihre Knöchel schmerzten. Ihr Kleid war wie ein Panzer aus Stoff, der ihr das Atmen schwermachte. Sie sehnte sich danach, alles von sich zu werfen und durchatmen zu können.

Ihr Zimmer war geräumig und hoch. Ein geschwungener Kerzenleuchter hing in der Mitte. Es roch nach Möbelpolitur und altem Holz. Der Boden knarrte, als sie eintrat.

„Warten sie, Madam. Ich mache Licht.“ Schon entzündete das Mädchen eine Petroleumlampe.

Celeste öffnete eines der Fenster. Nachtluft umfing sie und blähte die roséfarbenen Vorhänge. Flirrende Wassertröpfchen kühlten ihr Gesicht. „Es ist so wunderbar ruhig hier.“ Tatsächlich schien London in einen tiefen Schlaf gefallen zu sein. Kein Klappern, Rufen, Schreien oder Stampfen. Kein Klirren von Gläsern, kein Instrument, das zum Tanz auffordert. Seit New York hatte sie keine Minute solcher Ruhe mehr erlebt.

Celeste sah dem Dienstmädchen zu, wie es das geräumige Bett in neue Laken deckte. „Es ist schön, dass Miss Dorothea wieder daheim ist. Finden Sie nicht?“

Francine lächelte herzlich. „Oh ja, Madam. Sie hat uns allen hier sehr gefehlt.“

„Kannten Sie ihre Freundin? Estelle?“

Francine hielt inne und drehte sich um. „Miss Wiggins, aber ja. Ich kannte sie gut. Sie und die junge Ladyschaft waren sehr gut miteinander befreundet. Ist es nicht schrecklich, was passiert ist?“

Celeste spielte die Unwissende. „Was ist denn passiert?“

„Jemand hat sie erwürgt.“ Sie schüttelte den Kopf. „Können Sie sich das vorstellen?“

„Ich glaube, niemand kann das. Wie schrecklich.“

„Sie war eine so lebenslustige junge Frau. Sie konnte so wunderbar tanzen. Ich habe ihr ein paar Mal zusehen dürfen.“ Verträumt presste sie den Kopfkissenbezug an ihre Brust.

„Dann gab es doch auch sicher einen Galan, der ihr den Hof gemacht hat?“

„Oh, Miss Estelle hatte viele Verehrer.“ Francine erschrak über ihre eigenen Worte. „Oh, ich dumme Pute. Ich wollte gewiss nicht schlecht über Miss Estelle reden.“

„Natürlich nicht.“ Celeste wartete einen Moment und fragte dann nach: „Und? Gab es jemanden?“

Francine wurde rot. „Nein, nein. Es gab niemanden. Ich muss jetzt weitermachen. Ich darf nicht trödeln.“

Ohne ein weiteres Wort zu verlieren kümmerte sich Francine um ihre Arbeit. Dabei presste sie die Lippen so fest aufeinander, dass keine Briefmarke mehr dazwischen gepasst hätte.

Celeste beschloss, es gut sein zu lassen. Sie wollte nicht gleich als zu neugierig erscheinen.

Das Dienstmädchen beendete zügig ihre Arbeit und verließ das Zimmer mit einem Knicks.

Endlich alleine, öffnete Celeste ihre Schuhe und strampelte sie von den Füßen. Sie seufzte erleichtert. Was für eine Wohltat. Wenn nur endlich ihr Gepäck eintreffen würde. Celeste sehnte sich danach, sich endlich frisch machen zu können. Ihrem Kleid haftete der ölige Rauch von Southhampton, der Gestank der dortigen Fischerei und der Ruß einer langen Zugfahrt an.

Sie öffnete die Knöpfe ihres Überwurfs und ließ ihn neben dem Bett auf den Boden fallen. Dann streifte sie ihre Handschuhe ab, öffnete das eng sitzende Oberteil ihres Kleides und tat zum ersten Mal seit einer gefühlten Ewigkeit einen befreiten und tiefen Atemzug. Dann ließ sie sich neben ihrer Reisetasche aufs Bett fallen und sah sich in ihrem Zimmer um. „Das ist also England“, flüsterte sie, irgendwie amüsiert und dann doch wieder ernst.

Sie öffnete ihre Tasche und sortierte den Inhalt neben sich auf dem Bett. Ein Kavallerie-Revolver und mehrere Päckchen Munition. Ein Notizbuch und die Mappe, die sie von Mrs. Roovers erhalten hatte. Ein hölzernes Kästchen, das ihre Schreibutensilien enthielt, eine kleine Tasche aus Segeltuch mit ihren Dietrichen und anderen Werkzeugen. Ihr Lieblingsbuch, die Reiseberichte von Lewis und Clarke, und ein paar Fotografien von Zuhause. Eine zeigte ihren Bruder und sie selbst. Sie standen stocksteif vor einer Leinwand in einem New Yorker Atelier. Sie erinnerte sich noch gut an diesen Tag. Sie waren so ausgelassen und fröhlich gewesen, dass erst der dritte Versuch, das Foto zu machen, geklappt hatte. Vorher hatten sie sich vor Lachen gekrümmt und den Fotografen damit in den Wahnsinn getrieben. Sie war elf gewesen und Thomas siebzehn oder achtzehn. Sie wusste es nicht mehr genau. Da hatten sie vom Krieg noch nichts geahnt.

Sie nahm den Revolver und wog ihn in der Hand. Er war schwer und groß, ein alter Armeerevolver, mit dem Wappen des neunten Kavallerieregiments im Griff. Das war alles, was ihr von ihrem Bruder noch geblieben war. Ein paar Fotografien und eine unhandliche Waffe.

Er war der Einzige gewesen, der sie je verstanden hatte.

Celeste ließ sich aufs Bett fallen, die Arme weit von sich gestreckt. Obwohl sie im Zug gut geschlafen hatte, fielen ihr die Augen erneut zu. Ihre Versuche, wach zu bleiben oder sich wieder aufzurichten, scheiterten, und schon bald war sie in einen unruhigen Schlaf gefallen.

Sie träumte von New York, ihren Eltern, ihrem Bruder, ihrem Zuhause. Eine Erinnerung, die langsam verblasste und nur in Träumen mit Macht wiederkehrte.

Sie sah sich in ihrem Zimmer stehen, die Birken vor ihren Fenstern wiegten sich im Wind und die Zeisige bauten ihre Nester in den Astgabeln. Die Tür öffnete sich und ihr Bruder trat ein. Er sah wunderbar aus in seiner blauen Uniform mit den weißen Handschuhen.

Die jungen Damen der hohen Gesellschaft waren ganz vernarrt in sein spitzbübisches Lächeln, den Schalk in seinen Augen und die tiefe Stimme, mit der er ihnen schöne Worte zuflüsterte.

Er kam, um sich zu verabschieden. In ihrem Traum versuchte sich Celeste zu erinnern, was sie zueinander gesagt hatten, aber es gelang ihr nicht. Sie strich ihm über die Uniformjacke. Er lachte und kniff sie in die Wange. Die Wehmut dieses Augenblicks traf sie selbst im Schlaf und sie wurde unruhig. Ihr großer Bruder war immer für sie da gewesen, und nun ging er fort, um in einem Krieg Bruder gegen Bruder, Freund gegen Freund zu kämpfen. Die Sklaverei hatte Amerika entzweigerissen und Thomas hielt es für seine Pflicht, dem Ruf zu folgen. Das Wort Freiheit war in aller Munde.

In ihrem Traum hielt sie ihn fest, klammerte sich an ihn. Ein dumpfes Klopfen lenkte sie ab und brachte das Konstrukt ihres Traums ins Wanken. Dann klopfte es wieder und wieder und ihr erwachender Verstand begriff, dass jemand an ihrer Zimmertür war. Sie richtete sich auf, schlug die Decke über ihre Habseligkeiten und stand auf. Ein Blick auf die kleine Uhr, die sie an einer Kette um den Hals trug, verriet ihr, dass es bald Mitternacht war.

„Ja, bitte?“, rief sie schläfrig.

„Ich bitte um Verzeihung, Madam. Ich bin es, Francine. Ihr Gepäck ist eingetroffen.“

Er waren vier kräftige Personen nötig, um Celestes gesamtes Gepäck zu tragen, das aus zwei Schrankkoffern, einer großen Überseetruhe und diversen Hutschachteln bestand. Francine war die Glückliche, die nur zwei Reisetaschen und ein Kulturköfferchen zu tragen hatte.

„Bitte stellen Sie es dort ab.“ Celeste zeigte auf den freien Platz vor dem Kleiderschrank. „Haben Sie vielen Dank.“

Nachdem sich auch Francine ihrer Last entledigt hatte, fragte sie: „Haben Sie noch einen Wunsch, Madam?“

„Ich muss eingeschlafen sein. Könnte ich noch etwas zu essen bekommen und vielleicht ein Glas Milch? Ich sterbe vor Hunger.“

Francine seufzte müde und lächelte dann. „Ich bringe Ihnen ein paar Sandwiches … und ein Glas Milch.“

Das Dienstmädchen machte einen Knicks und ging. Celeste wandte sich verwundert dem Berg von Koffern zu. Sie konnte sich gar nicht daran erinnern, so viel eingepackt zu haben.


Das Geheimnis der Madame Yin

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