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4. September 1877 London Kurz nach Mitternacht

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Die Straßen in Lambeth lagen still und verlassen da. Der Regen, der seit den Abendstunden über London niederging, hatte die Menschen in die Häuser getrieben. Nur die armen Teufel, die sich keine Unterkunft leisten konnten, kauerten unter tropfenden Vordächern oder in abbruchreifen Ruinen, die weder Türen noch Fenster besaßen. Die Dunkelheit hatte schon vor Stunden einen trüben Tag abgelöst.

In einer schmalen Gasse, in der sich Abfall stapelte, balgten sich ein paar Ratten um die Kadaver zweier Katzen, denen irgendjemand das Fell abgezogen hatte.

Im verwahrlosten Hinterhof eines Gerbers bellte ein Hund.

All das kümmerte Madame Yin nicht, die, wie jeden Tag, den gleichen Weg ging.

Obwohl sie schon seit über zwanzig Jahren in London lebte, kannte niemand ihren richtigen Namen, und ebenso rätselhaft wie ihr Name war auch ihre Herkunft. Ihre mandelförmigen Augen ließen keinen Zweifel daran, dass sie aus Asien stammte, doch sie sprach ein so gutes Englisch, dass viele vermuteten, sie lebte schon immer hier. Die Jahre auf der Straße, die langen Nächte und vielen Liebhaber hatten Spuren auf ihrem einst zarten Gesicht hinterlassen. Ihre Lippen waren schmal, aber auffallend rot geschminkt. Tiefe Falten zeichneten ihr Gesicht von der Nase bis hinunter zu den Mundwinkeln. Ihre Haut wirkte blass, im Licht der matten Gaslaternen sogar kränklich gelb. Sie humpelte – ein Überbleibsel aus der Zeit, als sie noch als einfache Straßenhure ihren Lebensunterhalt verdienen musste und ein Freier sie fast totgeprügelt hatte.

Die Straße war ihr Lehrmeister gewesen. Erwarte nichts und erhoffe nichts, niemand wird dir etwas schenken. Du musst es dir selbst nehmen. Nach diesem Credo lebte sie, und nach diesem Credo handelte sie. Und nun gehörten ihr drei Opiumhöhlen und zwei Bordelle, was ihr ein beträchtliches Einkommen einbrachte, sowie den Respekt der Männer und Frauen, die ihr Geld ebenfalls im Schatten verdienten.

Ihre Häuser liefen so gut, dass sie sich die edelsten Kleider hätte leisten können, aber darauf verzichtete sie ebenso wie auf einen Leibwächter oder auf eine Kutsche, die sie trocken durch den Regen gebracht hätte. Um ihre Etablissements zu besuchen und nach dem Rechten zu sehen, ging sie, wie früher, zu Fuß. Nur einen Schirm gegen den Regen und einen Stock als Gehhilfe gestattete sie sich als Luxus, denn neben ihrem lahmen Bein bereitete ihr bei nassem Wetter auch ihr Rücken Kummer. Sie bog gerade in die Newcomen Street ein, als der Regen nachließ. Die Luft roch frisch und klar, der Regen hatte seinen Dienst getan und den fauligen Gestank nach Armut und Hoffnungslosigkeit fortgewaschen. Madame Yin blieb einen Moment lang stehen und nahm einen tiefen Atemzug. Sie konnte ihr Zuhause schon am Ende der Straße sehen. Die obere Etage lag im Dunkeln, dort wohnte sie. Aus der unteren Etage, über deren Eingang ein roter Holzdrache hing und wo tiefrote Lichter in den Fenstern brannten, konnte sie leises Flötenspiel und Lachen hören.

Sie hatte also noch Gäste, wie sie ihre opiumsüchtige Kundschaft gerne nannte. Dabei machte sie keinen Unterschied, ob jemand von hohem Stand war oder tagsüber in den Werften schuftete. Ob Mann, ob Frau, alt oder jung – Hauptsache, sie konnten die drei Schillinge aufbringen, die sie für die Jagd nach dem Drachen bezahlen mussten.

Aus dem Schatten trat eine Gestalt an sie heran, die einen Strauß Blumen in der Hand hielt. Es war ein Mann mit Mantel und Zylinder.

„Verzeihen Sie. Madame Yin?“, fragte er mit sanfter Stimme.

Sie nickte höflich. „Kann ich etwas für Sie tun, mein Freund?“

Er sagte nichts, sondern reichte ihr lediglich mit gesenktem Kopf die Blumen. Es waren rote Rosen. Madame Yin nahm sie und roch daran. „Das ist aber reizend von Ihnen“, sagte sie und schenkte ihm ein seltenes Lächeln. „Haben Sie vielen Dank. Möchten Sie mich ein Stück begleiten?“

Er hob den Kopf. Seine Augen funkelten. „Nein, Madame. Das möchte ich nicht.“ Unvermittelt stürzte sich der Mann auf sie.

Der Blumenstrauß fiel zu Boden. Er zertrat ihn.

Rosenblätter rissen ab und schwammen den Rinnstein entlang, tanzten und drehten sich auf dem Wasser. Ein Reigen, den auch Madame Yin tanzte. Sie wand sich, kämpfte, wollte fliehen, um Hilfe schreien, aber er hielt sie am Hals gepackt, drückte zu und presste ihr ein Tuch auf Mund und Nase. Sie roch und schmeckte Alkohol. Ihr wurde schwindelig. Ihre Gegenwehr erlahmte. Dann wurde es dunkel.


Das Geheimnis der Madame Yin

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