Читать книгу Das Geheimnis der Madame Yin - Nathan Winters - Страница 6
ОглавлениеSie hatte geträumt, von einer Blumenwiese aus roten Rosen und weißen Margeriten. Alles war hell, das Sonnenlicht brach durch die Wipfel der Bäume und ließ die Blüten in allen Farben erstrahlen.
Aber dann wachte sie auf und alles um sie herum war tiefschwarz. Angeekelt verzog sie das Gesicht. Der Geschmack nach Alkohol lag ihr auf der Zunge. Kloakengestank drang ihr in die Nase. Stöhnend versuchte sie sich aufzurichten, doch es gelang ihr nicht. Man hatte sie an Händen und Füßen gefesselt und an den Boden gekettet. Sie konnte lediglich vornübergebeugt knien und gerade noch den Kopf heben. Sie erinnerte sich an das Café am Victoria Embankment. Es war Abend gewesen und sie wollte gerade eine Droschke rufen, als dieser Mann mit den Blumen kam. Er hatte ihr sofort einen feuchten Stofffetzen auf Mund und Nase gepresst und sie war ohnmächtig geworden.
Er hat mich entführt. Oh Gott. Bitte … bitte mach, dass das nicht wahr ist. Ihr Herz begann, wie verrückt zu schlagen. Ich muss hier raus.
Panisch zerrte sie an ihren Ketten. Das Metall scheuerte ihr die Haut blutig. Sie schrie und weinte, doch damit änderte sich nichts an ihrer Situation. Minuten vergingen, vielleicht waren es auch Stunden. Sie wusste es nicht. Ein furchtbarer Gedanke fraß sich in ihr fest: Sie würde sich nicht befreien können. Alles, was sie tun konnte, war zu schreien. Vielleicht würde sie jemand hören und retten. Sie begann, laut um Hilfe zu rufen, bis sich nach einer Weile links von ihr eine Tür öffnete. Sie verstummte augenblicklich und ihr Kopf ruckte herum. Ein Mann stieg die Treppenstufen hinab.
Er hielt eine Petroleumlampe in der Hand, deren Docht tief herunter gedreht war. So warf sie nur ein schwaches Licht in ihr Gefängnis aus gemauertem Stein. Der Mann bewegte sich langsam, ließ sich für jede Stufe Zeit. Das Klacken seiner Sohlen war das einzige Geräusch, das sie hörte.
Sein Gesicht verbarg er hinter einer Maske. Sie war feuerrot mit verzerrten Zügen, einer schmalen, spitzen Nase und Teufelshörnern auf der Stirn. Ein Umhang mit einer Kapuze lag über seinen Schultern. „Dich kann hier niemand hören“, sagte er und seine Stimme klang dumpf und bedrohlich.
Erneut rannen Tränen über ihr Gesicht. „Warum haben Sie mich hergebracht? Wer sind Sie?“
Er antwortete nicht. Als er das Ende der Treppe erreicht hatte, blieb er einen Moment lang stehen, ehe er langsam auf sie zukam.
„Gehen Sie weg. Kommen Sie nicht näher!“ Ihr Protest war schwach und nutzlos.
Er trat neben sie, sodass sie nur noch seine Schuhe sehen konnte, die schwarz glänzten.
„Bitte lassen Sie mich gehen. Was wollen Sie denn vor mir? Lassen Sie mich doch bitte gehen!“
Er schwieg.
„Warum tun Sie das?“
„Weil es nötig ist.“
Sie zuckte zusammen.
Ihr Peiniger hatte sich neben sie gekniet, sein Mund war nun ganz dicht an ihrem Ohr. Sie konnte seinen Atem riechen. Nun drehte er den Docht der Lampe hoch und ihre Augen waren für einen kurzen Augenblick von der plötzlichen Helligkeit geblendet. „Sieh dorthin“, sagte er nach einer kurzen Weile, streckte den Finger aus und zeigte an ihr vorbei auf die Wand gegenüber.
Sie drehte den Kopf zur Seite. Panisch biss sie sich auf die Lippen. Sie wollte nicht hinsehen, egal was dort war, aber er packte sie grob bei den Haaren und zwang sie dazu.
Ihre Augen weiteten sich. „Oh Gott, nein. Bitte. Bitte.“ Sie wollte schreien, ihre Panik, das Grauen, alles herausschreien. Doch sie krächzte nur, während ihre Augen das Entsetzliche nicht wahrhaben wollten. Aber sie konnte den Blick nicht abwenden. Ihr Magen rebellierte, verdrehte sich und ein galliger Geschmack schoss in ihren Mund. Sie würgte die letzte Mahlzeit hoch. Tomatensuppe und Apfelkuchen. Es sah aus, als würde sie klumpiges Blut spucken.
Ihren Peiniger kümmerte es nicht. Ungerührt sah er ihr zu und wischte ihr mit dem Finger über den Mund, während sein Atem über ihre nassgeweinten Wangen streichelte. „Weißt du jetzt, warum du sterben musst?“
„Bitte … tun Sie es nicht. Bitte.“
Er zögerte. Sah sie Mitleid in seinen Augen?