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8. September 1877 Früh am Morgen

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In der Nacht hatte es geregnet. Nun rannen die letzten Tropfen an den Fensterscheiben herab oder tropften in gleichmäßigem Rhythmus von den Vordächern. Die tiefhängenden Wolken hatten sich aufgelöst. Die Sonne brach durch. Von den Straßen stieg Dampf auf, über der Themse schwebten Nebelbänke.

So gut hatte Celeste schon lange nicht mehr geschlafen. Die Arme von sich gestreckt öffnete sie die Augen und blinzelte.

Sie fühlte sich kräftig und ausgeruht. Voller Tatendrang schwang sie die Beine aus dem Bett und zog an der Klingelschnur, die neben dem Sekretär hing.

Ein anderes Dienstmädchen, nicht Francine, kam und begann sie zurechtzumachen. Celestes Haar war von der Reise arg in Mitleidenschaft gezogen worden und das Mädchen hatte ihre liebe Mühe, ihr nicht jedes einzelne Haar vom Kopf zu reißen. Zu gerne hätte sich Celeste von den Schmerzen abgelenkt, der ihr die Tränen in die Augen trieb, und die Zeit genutzt, um mehr über das Haus Ellingsford und seine Bewohner zu erfahren. Doch mehr als ein „Ja, Madam“, oder ein „Nein, Madam“, oder „Wie Sie wünschen“, kam dem jungen Ding nicht über die Lippen.

Immerhin: Ihr Name war Harriet, so viel gab sie dann doch von sich preis.

Nach einer Stunde war Celeste fertig frisiert, geschminkt und angekleidet. Das Mädchen hatte sich mit dem Hinweis verabschiedet, dass das Frühstück bereit stehe. Nun stand Celeste alleine vor dem großen Spiegel in ihrem Zimmer, klippte die bernsteinfarbenen Ohrringe an ihre Ohrläppchen und überprüfte ein letztes Mal den Sitz ihres Kleides.

Zufrieden mit dem Resultat verließ sie ihr Zimmer.

Auf dem Weg zur Treppe hörte sie Dorotheas aufgeregte Stimme aus einem der anderen Zimmer. Celeste zögerte nicht lange und schlich sich an die Tür heran, aus der die Stimmen drangen. Ein letzter wachsamer Blick den Flur entlang – niemand war zu sehen.

„Wie konntest du nur zu so etwas deine Einwilligung geben, Mutter?“

Die Antwort war zu leise, um sie zu verstehen.

„Das ist ein Albtraum! Warum hasst er mich so?“

Wieder folgte eine leise Antwort.

„Ach nein?!“ Dorotheas Stimme überschlug sich. Celeste hatte sie während ihrer ganzen Bekanntschaft noch nicht so aufgeregt erlebt. „Er gibt mich weg wie irgendein unfähiges Dienstmädchen. Ich kenne diesen Mann nicht einmal! Vater zerstört mein Leben, aber das ist ihm völlig egal.“

„So beruhige dich doch …“ Mehr verstand Celeste nicht, auch wenn sie ihr Ohr nun flach gegen die Tür presste.

„Er hat mich nur zurückgeholt, weil ich nützlich bin. Ein gutes Geschäft!“

Schritte näherten sich der Tür und Celeste stolperte zurück, doch sie kam nicht schnell genug weg. Dorothea stürzte ihr entgegen und prallte gegen sie.

Ohne Celeste eines Blickes zu würdigen, drängte sie sich vorbei und rannte schluchzend in ihr Zimmer.

Celeste blieb überrascht stehen, bis sie das helle Quietschen von Metall dazu brachte, in das Zimmer zu sehen.

Lady Ellingsford war in ihrem Rollstuhl näher gerollt. In ihrem Blick lag eine Mischung aus Interesse und Skepsis.

„Ich … ich“, begann Celeste mühsam. „Ich hatte noch gar keine Gelegenheit, mich bei Ihnen für Ihre Gastfreundschaft zu bedanken. Sie … Sie haben ein wunderbares Haus.“

Lady Ellingsford nahm das Kompliment schweigend hin. „Sie wollten zu mir?“

„Ja … ich meine, nein. Ich hatte Dorotheas Stimme gehört. Ich wollte sie … bitten, mir London zu zeigen. Aber wie mir scheint … kam ich unge …“

„Wie gut kennen Sie meine Tochter?“, unterbrach sie Lady Ellingsford.

„Ich habe sie bei Mrs. Roover getroffen. Vor etwa einem halben Jahr. Wir hatten uns unterhalten und eine Partie Krocket im Park gespielt. Ich hatte gar keine Chance.“ Celeste lachte verlegen.

Lady Ellingsford sah sie einen Moment lang nachdenklich an, dann lächelte sie matt. Celeste wusste es nicht zu deuten, bis ihre Ladyschaft sagte: „Ich denke, es ist gut für sie, dass Sie da sind.“

„Ich fürchte nur, Ihr Mann ist da anderer Meinung.“

„Das überrascht mich nicht. Aber er sorgt sich um mich. Wegen meiner Krankheit … und er möchte es vermeiden, mich allzu sehr aufzuregen. Er gibt meinen Wünschen meist nach. Deswegen durften Sie bleiben.“

„Sie haben dafür gesorgt?“

„Ich und meine Tochter. Sagen Sie, wann sind Sie geboren?“

Celeste verwirrte die Frage und sie musste tatsächlich einen Moment lang nachdenken.

„Ich wurde am 30. August 1848 geboren.“

„Also sind Sie Jungfrau. Das habe ich mir gedacht“, sagte Lady Ellingsford. „Sie besitzen ein gutes Herz. Meine Tochter kann sich keine bessere Freundin wünschen.“

„Es freut mich sehr, dass Sie das so sehen, aber hat Dorothea denn keine anderen Freundinnen hier in London?“

Lady Ellingsfords Gesicht verdüsterte sich. „Oh doch. Aber ich teile die Meinung meines Mannes. Sie sind ein schlechter Umgang für unsere Tochter.“

„Sprechen Sie von Estelle?“

„Und von Margareth. Ein gelangweiltes kleines Luder, das nur Unsinn im Kopf hat. Ich weiß nicht, wer von den beiden unsere Tochter zu diesem schrecklichen Gift verführt hat, aber ich bin mir sicher, eine von den beiden war es.“

„Und was ist mit Estelle? Sie wurde schließlich ermordet?“

„Das ist wahr und es tut mir sehr leid für das arme Mädchen … und ihre Familie. Aber … nichtsdestotrotz bin ich froh, dass sie unserer Tochter keinen Schaden mehr zufügen kann.“

Celeste erstarrte; sie hätte in dieser zerbrechlichen Frau nie eine solche Gefühlskälte erwartet.

„Wenn Sie das so sehen“, erwiderte sie ebenso kalt. „Haben Sie Ihrer Tochter von Estelles Tod erzählt?“

Lady Ellingsford senkte den Blick und starrte auf ihre Hände. „Nein. Ich … brachte es nicht übers Herz. Ich bin so froh, sie wieder bei mir zu haben. Da wollte ich nicht …“

„Es wird sich nicht ewig verbergen lassen, das wissen Sie.“

„Wer weiß, wie sie reagiert, wenn ich es ihr sage.“

Ein hoffnungsvolles Lächeln stahl sich auf Lady Ellingsfords Lippen. Ihr war offenbar ein Gedanke gekommen, der ihr gefiel. „Vielleicht könnten Sie bei passender Gelegenheit mit ihr reden.“

Celeste schnappte nach Luft. „Also … ich … ich weiß nicht, ob das eine so gute Idee ist, Eure Ladyschaft.“

Aber Lady Ellingsford schien ihre Entscheidung bereits getroffen zu haben. „Doch, doch, so machen wir es. Sie überbringen meiner Tochter die traurige Nachricht. Aber bitte taktvoll.“

Celeste war nicht bereit dazu und wollte protestieren, doch sie wurde von einem Butler unterbrochen, der hinzutrat und gekünstelt hustete.

Ihm folgte ein breitschultriger Mann, dessen Anzug eindeutig zu klein war. Sein Gesicht war kantig, die Augenlider waren schlaff. Sein Ausdruck war irgendwie – Celeste konnte sich des Eindrucks nicht erwehren – dümmlich.

Lady Ellingsford schlug die Decke beiseite, die um ihre Beine lag.

„Ich wollte nicht stören, Eure Ladyschaft, aber es ist neun Uhr. Wünschen Sie zu frühstücken?“, fragte der Butler.

„Ja, ich bitte darum.“

„Rupert!“

Der Große trat vor und nahm die gebrechliche Dame behutsam auf die Arme und trug sie an den Treppenabsatz. Dort wies Lady Ellingsford ihn an noch einmal stehenzubleiben.

„Sie erledigen das, Miss Summersteen, nicht wahr?!“ In Celestes Ohren klang es nicht nach einer Bitte, vielmehr nach einem höflich formulierten Befehl.

Obwohl sie lieber den Kopf geschüttelt hätte, nickte sie.

„Und Sie müssen noch etwas für mich tun.“

Celeste seufzte innerlich, wartete aber geduldig ab.

„Halten Sie Dorothea von Margareth fern. Ich möchte nicht, dass sie sich wieder treffen.“

„Wie Sie wünschen.“

Dann brachte der Diener Lady Ellingsford nach unten und trug sie ins Speisezimmer. Der erste Butler folgte mit dem Rollstuhl. Celeste wartete, bis alle verschwunden waren, bevor sie zu Dorotheas Zimmer ging.

Sie klopfte. Als sie keine Antwort erhielt, öffnete sie vorsichtig.

Dorothea lag ausgestreckt auf dem Bett, den Kopf zwischen den Armen verborgen, einen kleinen braunen Stoffbären in der Hand. Sein Fell war struppig und ihm fehlte ein Auge.

Celeste setzte sich zu dem Mädchen auf das Bett. „Wer ist denn dein kleiner Beschützer?“, fragte sie leise.

Dorothea sah auf und streichelte dem Bären über den Kopf. „Mr. Peaby.“

„Was für ein seltsamer Name.“

Dorothea wischte sich lächelnd eine Träne von der Wange. „Eigentlich heißt er ja auch Mr. Peabody. Aber als Kind konnte ich seinen Namen nie richtig aussprechen.“ Sie nahm den Bären in die Arme und setzte sich auf. „Er hört mir immer zu.“

„Was ist denn los?“

„Vater …“ , schluchzte Dorothea plötzlich. „Vater will mich verheiraten.“

„Aber, aber … das ist doch kein Grund zum Weinen. Wie heißt der Auswählte denn?“

„Lucius. Lucius T. Horn. Er ist ein eingebildeter Schnösel, der sich für den Mittelpunkt der Welt hält.“

„Tun das nicht alle Männer?“, erwiderte Celeste mit einem feinen Lächeln.

„Vater will ihn einladen. Zum Dinner. Damit wir uns … kennenlernen können.“

„Du bist ihm zuvor noch nie begegnet?“

„Doch … einmal. Er ist ein alter Mann, schon bald dreißig. Das einzige, woran ich mich erinnern kann, ist, wie steif er geredet hat. Außerdem riecht er nach staubigen Büchern.“

Celeste schürzte die Lippen. „Was macht er denn beruflich?“

„Er ist Bankier, glaube ich. Ach, ich habe ihm gar nicht richtig zugehört. Er hat mich unsäglich gelangweilt.“ Sie begann von neuem zu schluchzen und drückte Mr. Peaby an ihre Brust. „Wäre ich nur nie auf dieses Schiff gestiegen, um hierher zurückzukommen. Ich hasse ihn.“

„Sag so etwas nicht. Dein Vater will bestimmt nicht, dass du traurig bist.“

Dorothea warf den Bären an die gegenüberliegende Wand, was ihr sofort leidtat. Sie sprang auf, hob ihn auf, streichelte sein Fell und nahm ihn wieder mit zurück ins Bett. „Was kümmert es Vater, ob ich fröhlich oder traurig bin. Für ihn ist nur wichtig, dass ich tue, was er verlangt.“ Flehend sah sie Celeste an. „Bitte, bringen Sie mich zurück nach Chicago.“

„Das kann ich nicht.“

„Sie haben auch nur Angst vor ihm.“

„Nein, das ist es nicht“, widersprach Celeste entschieden, „aber hier ist dein Zuhause.“

„Und ich dachte, Sie wären meine Freundin.“

„Das bin ich auch. Aber man kann nicht vor allem davonlaufen, was einem nicht passt.“

„Meine Tante würde sich freuen, mich wiederzusehen.“

„Deine Tante würde mir zustimmen. Du solltest auch an deine Mutter denken. Sie freut sich so sehr, dass du wieder da bist. Willst du sie gleich wieder verlassen?“

Dorothea ließ den Kopf sinken. „Nein“, sagte sie kleinlaut.

Eigentlich konnte Celeste sie verstehen. Sie hatte auch nicht gewollt, dass ihre Eltern über ihre Zukunft entschieden. Sie hatte sich mit aller Kraft dagegen gewehrt und hatte gewonnen, aber es war ein hoher Preis, den sie dafür hatte zahlen müssen.

„Wenn ich nur mit Vater reden könnte“, hörte sie Dorothea sagen.

„Hast du es denn versucht?“

Das Mädchen schüttelte den Kopf. „Er würde trotzdem tun, was er für richtig hält. Ich wollte auch nicht zu Tante Anette und er hat es trotzdem durchgesetzt.“

„Und dann hat es dir gefallen. Und zwar so gut, dass du jetzt wieder dorthin zurückwillst.“

Das war ein Argument, dem Dorothea nichts entgegensetzen konnte.

„Vielleicht ist es jetzt auch nicht anders. Du solltest diesem Lucius eine Chance geben, findest du nicht? Du bist charmant, hübsch und klug. Du wirst ihn dir schon zurechtbiegen. Die Männer glauben zwar, sie würden über uns stehen, aber wir wissen es besser. Glaub mir. In spätestens einem Jahr frisst er dir aus der Hand. Du musst es nur geschickt und subtil anstellen.“

„Meinen Sie?“

„Natürlich. Ich kenne die Männer, schließlich bin ich ja auch schon eine alte Frau“, bemerkte sie augenzwinkernd.

Zum zweiten Mal, seit Celeste das Zimmer betreten hatte, sah sie Dorothea lächeln. Damit stand sie auf und streckte dem Mädchen die Hände entgegen. „Aber jetzt komm. Es gibt Frühstück und ich sterbe vor Hunger. Und danach musst du mir unbedingt London zeigen.“


Das Geheimnis der Madame Yin

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