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Unbekannte Wege

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Die Sonne stand schon tief am Himmel, als Alexander die Stadt erreichte.

»In diesem Viertel bin ich noch nie gewesen«, stellte er verblüfft fest. Die Häuser hier waren viel einfacher gebaut, als er es kannte. Sie waren kleiner und etwas windschief. Dennoch wirkten sie einladend und gemütlich.

Alexander kam an einem Garten vorbei, in dem eine Frau unter einem Apfelbaum stand. Sie hatte lange, glatte Haare, die ihr bis zu den Waden hinunterreichten. Als sie Alexander erblickte, grüßte sie ihn freundlich. Dann wandte sie sich wieder dem Baum zu und murmelte leise etwas vor sich hin. Wenige Augenblicke später fiel ein Apfel herab, der direkt in ihren Händen landete. Zärtlich strich sie darüber und verschwand zufrieden in ihrem Haus.

»Wie verrückt ist denn das? So etwas würde ich auch gern können«, stellte Alexander verdutzt fest und schwankte dabei zwischen Belustigung und Bewunderung. »Einen Apfel durch bloßes Zureden zum Fallen zu bringen - das ist schon etwas ganz Besonderes!«

Gedankenversunken setzte Alexander seinen Weg fort. Kurze Zeit später fiel sein Blick auf ein Haus, das an eine Wiese grenzte, deren saftiges Grün durch unzählige Maulwurfshügel fast verschwunden war.

Ein Surren ertönte, das Alexander augenblicklich aufhorchen ließ. Suchend blickte er umher. Auf dem Dachfirst eines kleinen Nebengebäudes entdeckte er zwei ältere Herren, die dort recht munter mit Angelruten in ihren Händen saßen.

Ein freudiges »Hopplahopp!« rief der eine lauthals und warf seine Angel aus. »Zum donnernden Wurzelgnom, dieser Volltreffer geht an mich!«, lachte er, als sein Wurf direkt einen Maulwurfshügel traf.

Amüsiert beobachtete Alexander die beiden Herren bei ihrem seltsamen Wettbewerb. Nach einer Weile aber zog es ihn weiter. Der Weg wand sich und führte zu einem Abzweig. Die Häuser waren nun enger beieinander gebaut. Angelehnt an einer Hauswand stand ein junger Mann, der auf einem Stöckchen kaute. Er grüßte Alexander freundlich.

Über der Eingangstür neben ihm hing ein Schild mit der Aufschrift: Traumsucher. Alexander überlegte kurz, welchen Weg er einschlagen sollte.

»He, Junge, pass doch auf! Geh zur Seite, mach Platz für die Windfänger und Fahnenträger!«

Überrascht sprang Alexander zur Seite und sah eine Gruppe von Männern vorüberziehen, die mit Stangen und Tüchern aller Art bepackt waren. Einige von ihnen hatten lange, geflochtene Bärte, und alle trugen sie die gleichen Gewänder aus dünnen, flatternden Stoffen, die bis auf den Boden reichten. Er folgte den Männern durch einige Gassen hindurch, bis er zu einem großen Platz kam. Dort herrschte geschäftiges Treiben.

Frauen und Männer liefen eilig umher. Einige von ihnen bauten lange Reihen von Bänken und Tischen auf, während andere damit beschäftigt waren, diese mit Blumen und Stoffen zu schmücken. Es schien eine Art Fest vorbereitet zu werden, vielleicht zu einem mittelalterlichen Thema. Das würde jedenfalls so einiges erklären, fand Alexander und schaute sich neugierig um. Weiter hinten auf dem Platz entdeckte er einen Mann, der damit beschäftigt war, kleine Steinchen auf dem Boden aneinanderzureihen. Alexander ging zu ihm.

»Was soll denn das werden?«, fragte er ihn interessiert. Der Mann verließ augenblicklich seine gebückte Haltung und richtete sich auf.

»Das wird ein Steinbild«, antwortete er lächelnd. Er merkte, wie sehr sich Alexander anstrengte, um in dem Muster auf dem Boden etwas erkennen zu können.

»Klettere auf die Holztrabenale, dort drüben. Von dort aus hast du einen guten Blick. Komm schon, versuch es einmal!«, forderte der Mann ihn auf.

Alexander war schon sehr gespannt und folgte seinem Ratschlag. Über eine hölzerne Treppe gelangte er auf eine Art Tribüne, von der aus er einen guten Blick über den Marktplatz hatte. Er schaute zu der Stelle am Boden, an der die Steine ausgelegt waren. Alexander staunte, denn was er nun erkennen konnte, war das Bild eines jungen Mädchens, kaum älter als er selbst. Die vielen bunten Steinchen, aus denen es bestand, funkelten im warmen Gelb der untergehenden Sonne. Noch nie zuvor hatte Alexander etwas so Schönes gesehen.

»Wer ist sie?«, rief Alexander zu dessen Schöpfer hinab. Dieser war unten an die Treppe getreten und wischte sich den Schweiß von der Stirn.

»Du meinst, du erkennst sie nicht?«, rief er ein wenig verärgert und stapfte sogleich zu Alexander hinauf. »Hm, nun gut, ich gebe dir recht, die Haare sind noch nicht lang genug«, murmelte er und kletterte behände die Stufen wieder hinab, um seinem Werk den nötigen Feinschliff zu verpassen. Alexander folgte ihm.

Die Menschenmenge auf dem Marktplatz hatte sich erheblich vergrößert. Ein Durchkommen wurde immer schwerer. Alexander war klar, dass er sich sputen musste, um noch vor Einbruch der Dunkelheit nach Hause zu kommen. Unvermittelt wich er einer Frau aus, die einen schweren Blumenkübel trug. Sie musterte ihn kurz, nickte ihm freundlich zu und zog an ihm vorbei. Alexander bog in eine Seitengasse ab. Hier herrschte bedeutend weniger Trubel.

Die Gasse schien jedoch aus der Stadt hinauszuführen, denn in der Ferne ließ sich schon wieder der Wald erkennen.

»Hier bin ich auf gar keinen Fall richtig!«, dachte Alexander und kehrte um. Er durchlief noch weitere Straßenzüge in der Hoffnung, den richtigen Weg zu finden, doch es war wie verhext. Sämtliche Gassen, die vom Marktplatz wegführten, führten auch dorthin wieder zurück. Andere wiederum verliefen hinaus aus der Stadt, direkt auf Wald- und Wiesenpfade.

Immer, wenn er jemanden ansprach, um nach dem Weg zu fragen, zuckte dieser entweder ratlos mit den Schultern oder wies ihm den falschen Weg. Alexander begann zu verzweifeln und blieb stehen.

Da spürte er plötzlich eine Hand auf seiner Schulter. Er erschrak und wollte sich umdrehen, doch in dem Augenblick packte die Hand fester zu und eine Stimme zischte: »Dreh dich nicht um, Junge. Hör mir einfach nur zu. Du bist fremd hier, nicht wahr? Keine Angst, ich verrate es niemandem. Doch ich gebe dir einen guten Rat: Verschwinde von hier so schnell du kannst! Gehe dorthin zurück, wo du hergekommen bist, sonst wird es böse enden!«

Als die Hand wieder von ihm wich, wagte er es nicht, sich zu bewegen. Seine Knie zitterten wie Espenlaub. Eine Menge Leute waren um ihn herum. Misstrauisch musterte Alexander sie.

Da entdeckte er nur für einen kurzen Augenblick ein vertrautes Gesicht. Es war Mattis.

Alexander konnte sein Glück kaum fassen und versuchte, wild winkend Mattis auf sich aufmerksam zu machen. Als das nichts nützte, schob er sich energisch durch das Gedränge.

Endlich bemerkte Mattis ihn. Als sie schließlich einander erreicht hatten, waren beide erleichtert.

»Bin ich froh, dass du da bist, Mattis!«, sprach Alexander und fuhr hastig fort: »Da war jemand! Gerade eben erst, und er hat mir gedroht! Er sagte, er wüsste, dass ich nicht von hier sei, und ich soll schnell von hier verschwinden, sonst würde etwas Schlimmes geschehen!«

Mattis wurde blass. »Konntest du erkennen, wer es war?«

»Nein«, antwortete Alexander.

»Das ist nicht gut, gar nicht gut«, murmelte Mattis nachdenklich und begann, nervös an seinen Fingerkuppen zu kauen.

»Ich hatte schon die Befürchtung, dass dir etwas geschehen könnte, als ich sah, dass du in Richtung der Stadt fortgingst.«

»Durch den Wald wollte ich nicht zurück«, entgegnete ihm Alexander, »und nun bin ich hier. Aber hier ist wirklich gar nichts normal, das sage ich dir! Schau dich doch nur mal um!«

»Komm, ich muss dir etwas zeigen!«, sprach Mattis. Energisch packte er Alexander am Arm und zog ihn mit sich.

Über Kopfsteinpflaster ging es vorbei an Häuserreihen, raus aus dem Getümmel der Stadt.

An einer mächtigen Steinmauer blieben sie schließlich stehen. Alexander hob seinen Blick und erkannte, dass es sich um die Außenmauer eines hohen Turmes handelte.

»Hier müssen wir rauf«, erklärte Mattis und öffnete eine massive hölzerne Tür. »Warum?«, wollte Alexander wissen. »Weil du es verstehen sollst«, erwiderte Mattis, »also komm jetzt!«

Keuchend stiegen die beiden die steile Turmtreppe empor. Oben angelangt, öffnete Mattis eine weitere Tür. Die Jungen traten hindurch und fanden sich draußen in luftiger Höhe wieder.

Ein warmer Wind wehte zart, und der Himmel war in ein tiefes Abendrot getaucht. Die Wiesen und Felder, auf die sie blickten, erschienen rotglühend. Überwältigt von der Aussicht vergaß Alexander für einen Augenblick all seine Zweifel und Sorgen.

Mattis trat an die Brüstung der Turmmauer und winkte ihn zu sich. Sie schauten hinab auf die Stadt mit all den niedlichen Häuschen, die dichtgedrängt den Marktplatz umsäumten. Auch in der Ferne waren noch vereinzelt Häuschen zu erkennen. Ein Fluss schlängelte sich durch die Landschaft und verlor sich schließlich darin. Den Horizont begrenzten Bergketten, die majestätisch und dunkel emporragten.

Alexander wechselte auf die andere Seite des Turmplateaus. Auch hier zogen sich Bergketten am Horizont entlang. Alles war von ihnen umgeben.

Doch wie war das möglich? Die Landschaft, auf die er blickte, hatte nichts mit dem Ort gemein, der sein Zuhause war. Alles wirkte völlig fremd.

»Wo um alles in der Welt sind wir, Mattis?«, fragte Alexander irritiert.

»Du bist in Lusakata!«, platzte es aus Mattis heraus.

»Und das war, mit Verlaub gesagt, nur meinem unglaublichen Können zu verdanken!« Stolz schlug sich Mattis auf die Schulter.

»Was ist Lusakata? Bin ich etwa tot?«

Alexander erinnerte sich an die letzten Momente im Wald, wie er in dem Erdloch gesteckt und schließlich das Bewusstsein verloren hatte.

»Hier, spürst du das?« »Aua!«, rief Alexander, als Mattis ihm mit voller Wucht auf den Fuß trat.

»Siehst du, du bist so lebendig, wie man lebendig nur sein kann!«, erklärte Mattis ihm fröhlich.

»Schon gut, du Schlaumeier, das hat wirklich wehgetan! Vielleicht kannst du mir ja endlich mal erklären, was hier eigentlich los ist.«

»Eins nach dem anderen, Alexander, eins nach dem anderen! Erst will ich dir etwas zeigen. Schau mal, dort unten, siehst du den Fluss?« Alexander neigte sich vor und betrachtete das Gewässer, das in der Dämmerung förmlich zu leuchten schien.

Tausend tanzende Lichter spiegelten sich in ihm. Darüber waren die Umrisse eines Gebäudes zu erkennen, dessen Mauersteine magisch schimmerten. Es war einfach in seiner Bauweise und wirkte, als würde es über dem Fluss schweben.

»Es sind die Nachtsteine, die den Palast zum Leuchten bringen. Ist er nicht wunderschön?«

Alexander nickte schweigend.

»Dort wohnt Raja, die Prinzessin«, fuhr Mattis fort.

»Bald feiern wir ein Fest ihr zu Ehren. Doch seit einiger Zeit passieren furchtbare Dinge hier. Ich musste dringend etwas unternehmen, damit das ein Ende hat, weißt du.«

»Stopp mal, das geht mir jetzt aber ein bisschen zu schnell! Raja, Prinzessin? Was soll ein Ende haben? Und was um Himmels willen habe ich damit zu tun?«, fragte Alexander verwirrt.

»Ich habe dich nach Lusakata geholt, weil hier irgendetwas vor sich geht - etwas ganz Furchtbares, und es muss schnellstens aufhören! Ich werde dir alles ganz genau erzählen, Alexander, das verspreche ich dir! Aber nun müssen wir schleunigst zurück! Es ist Zeit, Onkel Jogasch wartet bereits auf uns!«

Er drehte sich um und eilte mit großen Schritten die Turmtreppe hinunter. Alexander folgte ihm. Unten angekommen, redete Mattis hektisch weiter: »Weißt du, Alexander, ich kann sehr gut verstehen, dass du nach Hause möchtest! Aber es ist…, wie soll ich sagen - schwierig - nein…, doch eher unmöglich! Und glaube mir, die einbrechende Dunkelheit ist dabei sicherlich das geringste Problem!«

Alexander packte Mattis bei der Schulter: »Was soll das heißen? Was meinst du mit unmöglich? Sag mir sofort, wie ich zurückkomme!« Doch Mattis blieb ihm die Antwort schuldig. In diesem Moment hörten sie ein leises Schluchzen.

»Da weint doch jemand, oder?«, stellte Mattis verwundert fest. Alexander horchte auf und nickte. Vorsichtig ging Mattis in die Richtung, aus der das Weinen zu kommen schien. Doch plötzlich verstummte es.

»Ist da jemand?«, flüsterte Mattis leise.

»Ich bin hier«, antwortete eine zaghafte Stimme. Im faden Licht der einsetzenden Dunkelheit zeichneten sich die Umrisse eines kleinen Kindes ab.

»Wer bist du?«, wollte Mattis wissen.

»Ich bin Jaspin«, antwortete der Junge schüchtern.

Mattis hockte sich neben ihn und streichelte seinen Kopf. »Ich bin Mattis, und das ist Alexander.«

»Was macht dich denn nur so traurig, Jaspin?«, erkundigte sich Alexander besorgt.

Mit stockender Stimme begann der Junge zu erzählen: »Wir waren Blumen pflücken, am Waldrand, meine Schwester Jesehma und ich. Da hörten wir einen fürchterlichen Schrei, der aus dem Wald kam. Jesehma wollte nach dem Rechten sehen, aber sie kam nicht wieder.«

Hastig wischte sich Jaspin ein paar Tränen aus dem Gesicht. Dann fuhr er schluchzend fort: »Plötzlich hörte ich noch einen Schrei. In den Bäumen begann es zu rauschen. Es wurde immer lauter! Mit einem Mal war da ein kräftiger Wind, und es schrie überall um mich herum! Dann sah ich wie etwas Riesiges, Schwarzes den Himmel verdunkelte und immer näher kam. Ich schloss die Augen und hielt mir fest die Ohren zu! Kurz darauf war alles wieder still und der Himmel hell. Seitdem warte ich auf Jesehma.«

»Siehst du, Alexander, das ist es, was ich meine! Das muss doch endlich aufhören!«, brach es vorwurfsvoll aus Mattis heraus. Mitfühlend schaute Alexander zu Jaspin. »Wohnst du hier in der Nähe?«, erkundigte er sich bei dem Kleinen.

»Ich weiß, wo er wohnt!«, warf Mattis ein. »Es ist alles gut, Jaspin. Alexander und ich werden dich nach Hause bringen. Komm!«, sprach er dem Jungen ermutigend zu und reichte ihm seine Hand.

Alexander war nachdenklich geworden. Was in aller Welt geschah hier nur? Bei dem Gedanken an Jesehmas Verschwinden schauderte es ihn. Wie schlimm mussten die vergangenen Stunden für Jaspin wohl gewesen sein?

Alexander und Mattis nahmen den Kleinen in ihre Mitte. Es war an der Zeit, ihn seiner Mutter zurückzubringen.

Lusakata

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