Читать книгу Multiple Sklerose? Keine Angst! - Nele Handwerker - Страница 11
ОглавлениеDie ersten Anzeichen
Das Hoch Michaela bescherte uns 2003 einen Jahrhundertsommer. Schätzungen zufolge starben 70.000 Menschen in Europa an den direkten und indirekten Folgen der Hitze. Der volkswirtschaftliche Schaden wurde auf 13 Milliarden US-Dollar geschätzt.
Am 15. August wollte ich mit meinem Kumpel Karl in seinem Auto mit nach Düsseldorf fahren. Er musste vor Ort für seine Diplomarbeit recherchieren und ich wollte meinen Kumpel Nino besuchen. Außerdem plante ich, noch allein weiter zu meiner Schwester nach Münster zu fahren. Kurz bevor wir starteten, fiel mir auf, dass ich schlecht sah. Die Nachbarin meiner Eltern war Augenärztin und beruhigte mich mit den Worten: »Wenn es nicht weh tut, ist es nichts Ernstes.« Na dann, ab auf die Autobahn.
Kurz vor Düsseldorf konnte ich die Nummernschilder der Autos vor uns kaum noch erkennen. Ich machte mir Sorgen und wir fuhren auf den nächsten Rastplatz. Als ich mir je ein Auge zuhielt, stellte ich fest, dass ich mit dem rechten Auge Farben deutlich blasser sah. Meine Sorge verstärkte sich. Als ich Karl davon erzählte, bot er mir an, in Düsseldorf ein Krankenhaus anzusteuern.
Wir fuhren zum Universitätsklinikum. Vom Dresdner Universitätsklinikum wusste ich, dass die Ärzte viel forschten und Studien durchführten und sich daher mit einem sehr breiten Spektrum an Krankheitsbildern auskannten. Ich hoffte, dass das in Düsseldorf auch der Fall war. Zumindest schickte man uns in der Notaufnahme direkt zur Augenklinik.
Im Wartezimmer hingen Bilder von alten Frauen mit furchteinflößenden Wucherungen am Auge. Karl versuchte, die Stimmung aufzulockern und machte Witze, dass es bei mir zum Glück nicht so etwas war. Ich lachte und entspannte mich tatsächlich ein bisschen. Doch die Sorge blieb.
Wir warteten mindestens zwei Stunden. Irgendwann wurde ich aufgerufen. Im Behandlungszimmer begrüßte mich eine junge Ärztin. Sie schaute zuerst in meine Augen und nahm dann einen Sehtest vor. Die ziemlich großen Buchstaben in der zweiten Reihe verschwammen zu einem grauen Linienwirrwarr. Die Ärztin probierte verschiedene Brillenstärken aus, doch mein Sichtfeld blieb unscharf.
Beim nächsten Test prüfte sie mein Gesichtsfeld. Ich saß vor einem Perimeter - der Hälfte einer Hohlkugel. Mein Kopf ruhte in einer Halterung, die Bewegungen unterband. Der Test wurde für jedes Auge einzeln durchgeführt. Ich fixierte den Mittelpunkt der Hohlkugel, während das Gerät unterschiedlich starke Lichtreize zu verschiedenen Stellen aussendete. Jedes Mal, wenn ich einen neuen Lichtpunkt sah, musste ich einen Knopf drücken.
Schon beim linken Auge hatte ich das Gefühl, öfter einen Lichtpunkt zu verpassen. Mein rechtes Auge nahm über lange Zeiträume keinen einzigen Lichtpunkt wahr. Nur selten sah ich einige Punkte.
Als ich vom Bildschirm wegrückte, weinte ich, weil mir klar wurde, dass ich komplette Ausfälle im Gesichtsfeld hatte.
Es folgten weitere Tests, unter anderem ein VEP (Visuell evozierte Potentiale). Dabei schaute ich auf einen Bildschirm, der ein sich ständig änderndes Schachbrettmuster zeigte. Währenddessen maßen Elektroden an meinem Hinterkopf die Reizweitergabe. Das Ergebnis war eindeutig. Ich hatte eine demyelinisierende* Schädigung der rechten Sehbahn. Die Myelinschicht*, die eigentlich die Nervenbahnen isolierte, in diesem Fall den Sehnerv, war stark angegriffen. Dadurch wurden Reize nur noch verzögert weitergegeben oder gingen auf dem Weg in mein Gehirn sogar gänzlich verloren.
Anschließend wandte sich die Ärztin mit den gesammelten Befunden an den Oberarzt, um das weitere Vorgehen zu besprechen. Bei ihrer Rückkehr empfahl sie mir, im Krankenhaus zu bleiben und noch am selben Tag mit einer Stoßtherapie* zu beginnen. Mir sollte intravenös* Cortison* verabreicht und am nächsten Tag eine MRT*-Untersuchung durchgeführt werden.
Ich fühlte mich überfordert, allein und brauchte Rat. Also rief ich meine Tante in Dresden an, die Ärztin war, wenn auch auf einem anderen Fachgebiet. Ich erzählte ihr, dass ich mich am liebsten in den Zug setzen und zurückfahren wollte, um wenigstens im Krankenhaus meiner Heimatstadt zu liegen.
Meine Tante riet mir vehement von der Bahnfahrt ab. Ich sollte unbedingt im Krankenhaus bleiben, denn bei solchen Befunden stand auch die Option eines Gehirntumors im Raum. Nach dem Satz war es aus und meine Selbstbeherrschung versagte. Ich antwortete »okay« und legte auf.
Zum Glück war Karl da und redete mir gut zu. Er wartete, bis ich mich etwas gefangen hatte, holte meine Sachen aus dem Auto und brachte sie mir aufs Krankenzimmer. Dann verabschiedete er sich und versprach, mich am nächsten Tag, nach seinen Recherchen in der Bibliothek, zu besuchen.
Später versuchte ich, meinen Freund zu erreichen. Ohne Erfolg. Meine SMS beantwortete er einige Stunden später: »Wird schon nicht so schlimm sein. Ich denke an Dich.« Er rief nicht zurück.
Ich teilte mir das Zimmer mit zwei älteren Damen, die eine war am Grünen Star erkrankt, die andere litt am Grauen Star. Obwohl beide sehr nett waren, kam ich mir völlig deplatziert vor. Ich war doch jung und gesund. Was sollte ich in diesem Krankenhaus?
Abends legte mir die Krankenschwester einen Zugang in die Armbeuge und ich erhielt meine erste Cortisoninfusion.
Zum Abendbrot servierte man uns zwei Scheiben Graubrot, einen kleinen Plastiknapf mit Butter und zwei labberige Käsescheiben. Passend zu meiner Stimmung.
Ich war erschöpft von der langen Fahrt und schlief bald ein. Doch nachts wachte ich mehrfach auf, fragte mich, was der nächste Tag bringen und was sie beim MRT finden würden. Ich schrieb meinem Freund von meinen Sorgen, erhielt aber keine Antwort.