Читать книгу Multiple Sklerose? Keine Angst! - Nele Handwerker - Страница 16
ОглавлениеDie Diagnose
Ein Jahr war seit der Entzündung meines Sehnervs vergangen. Das Vergleichs-MRT stand an, wie damals nach Abschluss aller Untersuchungen an der Uniklinik Dresden vereinbart. Ich fühlte mich gut und machte mir keinerlei Sorgen wegen der Untersuchung. Stattdessen überlegte ich, wie ich an eine Wohnung käme, wenn ich die Zusage für das Pflichtpraktikum in München erhielt.
Gut gelaunt hüpfte ich auf die Liege. Anders als beim ersten Mal bekam ich Kopfhörer aufgesetzt. So lauschte ich entspannt klassischer Musik, während das MRT um mich herum hämmerte, piepte und ratterte. Nach circa 20 Minuten fuhr die Liege wieder aus der Röhre. Ich zog mich an und ging nochmal beim Radiologen vorbei, der ein guter Freund der Familie war.
Doch statt einer fröhlichen Begrüßung stand er mir gegenüber, schaute mich ernst an und sagte: »Nele, ich habe mir die Bilder gleich angesehen und leider keine guten Nachrichten für dich. Es sind neue Läsionen* sichtbar. Damit ist die Diagnose Multiple Sklerose sicher. Bei dieser Aktivität empfehle ich dir dringend, eine Basistherapie zu beginnen.«
Was? Wie? Das konnte nicht sein. Die Krankheit wurde letztes Jahr ausgeschlossen. Da musste ein Irrtum vorliegen. Meine Augen brannten. Kalter Schweiß brach aus und ich spürte, wie ich Panikflecken am Hals bekam.
Er betrachtete mich besorgt und fragte, ob es mir gut ginge.
»Nele, es tut mir leid. Aber ich wollte, dass du es lieber von jemand Vertrautem erfährst. Dein Neurologe wird es sicherlich nochmals genauer mit dir besprechen.«
Er sprach mir kurz Mut zu, bevor er die Bilder des nächsten Patienten auswerten musste.
Mir schossen alle möglichen Gedanken durch den Kopf: Konnte ich mein Studium beenden? Lohnte sich das überhaupt noch? Wie lange könnte ich noch Sport treiben? Was für eine Therapie musste ich jetzt machen? Meinte er Cortison? Davon hatte ich doch bereits nach sieben Tagen ein Vollmondgesicht bekommen. Sähe ich irgendwann so aus, wie die Patienten im Wartezimmer meiner Neurologin? Musste ich jetzt öfter zu ihr gehen? Wie lange konnte ich noch selbstbestimmt leben? Was für einen Job könnte ich mit der Krankheit noch ausüben? Wie konnte ich Multiple Sklerose haben, wenn ich mich gut fühlte und richtig sah? Das verstand ich nicht.
Ich blieb noch eine Weile in der Praxis, bis ich wieder in der Lage war Auto zu fahren. Schließlich dauerte die Fahrt zurück zum Haus meiner Eltern rund 40 Minuten.
Irgendwie kam ich zuhause an, auch wenn meine Wahrnehmung gedämpft war und ich mich immer wieder zusammenreißen musste, um auf den Verkehr zu achten.
Drei Tage später stand die offizielle Auswertung auf der neurologischen Station der Uniklinik an. Die Oberärztin sprach von McDonald-Kriterien, die nun erfüllt seien, und bestätigte die Diagnose. Die neuen Entzündungsherde im MRT ließen keine Zweifel zu. Ich hatte Multiple Sklerose.
Sie wies mich auf eine Studie hin, an der ich teilnehmen konnte, wenn ich wollte. Darin wurde ein neues Medikament zur Behandlung der Multiplen Sklerose getestet. Dafür müsste ich mich jeden Tag spritzen. Zwei von drei Gruppen erhielten ein Medikament in jeweils verschieden hoher Dosierung, die dritte nur ein Placebo-Präparat. Die Wahrscheinlichkeit lag also bei 1:3, dass ich mich völlig umsonst spritzen würde. Und ich hasste Spritzen. Außerdem würde ich regelmäßige Termine im Krankenhaus wahrnehmen müssen, um meinen Gesundheitsstand zu dokumentieren. Ich würde mich jeden Tag mit dem Gedanken beschäftigen müssen, MS zu haben.
Ich stellte keine Fragen während des Gesprächs. Es war in dem Moment einfach alles zu viel für mich. Da ich mich vor einem Jahr nicht ausführlich informiert hatte, spukten Vermutungen in meinem Kopf herum. Ich wollte nicht im Rollstuhl sitzen. Ich wollte Squash spielen, Schwimmen, Radfahren und Snowboarden. Ich wollte unabhängig sein und ohne Einschränkungen egal welcher Art leben.
Wieder zuhause kamen die Fragen: Warum ich? Was hatte ich falsch gemacht? Was nützte es mir, mich gesund zu ernähren, wenn es doch nichts half? Nicht zu rauchen, keine Drogen zu nehmen und wenig Alkohol zu trinken?
Ich suchte im Internet nach Beiträgen zum Thema Multiple Sklerose. Alles, was ich fand, machte mir Angst. Außerdem konnte ich die Beiträge oft nicht einordnen. Und so befragte ich lieber die Ärzte in meiner Familie.
Mein Onkel riet mir von der Studienteilnahme ab. Er meinte, ich sollte mich nicht als Versuchskaninchen hergeben und dem Psychostress aussetzen, den so ein tägliches Spritzen bedeutete. Außerdem würde die Ungewissheit mich nur zusätzlich belasten, vielleicht gar nicht das echte Medikament zu bekommen.
Meine Tante erzählte mir von mehreren Freunden und Bekannten, die die Diagnose vor vielen Jahren oder sogar Jahrzehnten erhalten hatten. In sehr großen, mehrjährigen Abständen hatten sie einen Schub und wurden dann mit Cortison behandelt, aber sonst beeinflusste die MS kaum deren Leben. Und sie waren nicht in ihren Bewegungen beeinträchtigt oder anderweitig eingeschränkt. Das beruhigte mich und ich konnte wieder klarer denken.
Die Studienteilnahme lehnte ich ab. Über Therapiemöglichkeiten informierte ich mich nicht weiter. Ich wollte das Thema am liebsten weit von mir schieben. Keine Bücher. Keine Recherche im Internet. Keine Selbsthilfegruppe.