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Die Pathologie der Verliebtheit: manisch, süchtig, übergriffig

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Diese unendliche Energie, die uns durchflutet. Der Schlaf, den der Körper plötzlich nicht mehr braucht. Dieses hohe Aufmerksamkeits- level. Dieses Verhalten kennen wir nicht nur von Menschen, die verliebt sind, sondern aus der Psychiatrie. Schaut man in den Bereich der affektiven Störungen, also den Bereich, wo die Gefühlswelt, das Gefühlserleben und die Gefühlsäußerung der Betroffenen gestört sind, dann finden wir bei der Manie genau die Symptome, die auch Vera befallen haben: gehobene Stimmung, sorglose Heiterkeit, Rededrang, das verminderte Schlafbedürfnis, Hyperaktivität, gesteigerte sexuelle Libido und übertriebenen Optimismus.

Wenn wir verliebt sind, sind wir nicht nur manisch. Wir erfüllen meist auch noch zahlreiche Kriterien einer akuten Suchterkrankung. Immerhin haben wir fast schon ein zwanghaftes Bedürfnis, uns mit dem Objekt der Begierde zu beschäftigen. Wir möchten ständig bei ihm sein, in den anderen hineinkriechen, alles von ihm wissen – und leiden unter Entzugserscheinungen, wenn wir uns eine gewisse Zeit nicht mehr gesehen haben. Wir vernachlässigen andere Interessen und unsere Freunde. Und wir beschäftigen uns auch ohne den direkten Kontakt über Tagträume und Plaudereien mit dem Wir und haben selten etwas dagegen, die Dosis zu erhöhen. Der andere ist allgegenwärtig, in unserem Fühlen, in unseren Erzählungen und in unseren Träumen. Hunderte Kilometer mit dem Auto zu fahren für eine kurze Umarmung? Kein Problem! Den anderen morgens um vier Uhr zum Flughafen zu bringen? Gerne!

Meistens müssen wir noch nicht mal danach gefragt werden, wir kommen sogar selbst auf solche Ideen. Und tatsächlich: Das Gehirn eines verliebten Menschen, dem man ein Bild eines geliebten Menschen zeigt, feuert ähnlich wie ein Drogensüchtiger, dem man ein Bild seines Rauschmittels vorsetzt. Solche bildgebenden Verfahren haben uns gezeigt: Liebe ist wie eine Sucht und unterscheidet sich nicht wirklich wesentlich von süchtigem Verhalten. Und so könnte man sagen, dass Verliebtheit der einzige gesellschaftlich akzeptierte Suchtzustand ist. Mehr noch: Verliebtheit ist der einzige gesellschaftlich akzeptierte Suchtzustand, bei dem andere Menschen sich sogar mit dem Süchtigen freuen und ihn ohne jeden Zweifel bestätigen.

Aber nicht nur das: Wir sind auch übergriffig. Wir entwenden, erbetteln, erschleichen uns ein T-Shirt, um daran zu riechen oder darin einzuschlafen. Wir lassen unseren Slip in der fremden Wohnung lie- gen mit dem Gedanken, dem anderen damit einen kleinen glückseligen Flashback zu verschaffen. Oder um, unromantisch ausgedrückt, unser Revier zu markieren. Vielleicht überraschen wir unser Liebesobjekt auch bei der Arbeit in der Mittagspause – was meist auf Wohlwollen stößt, sofern sich das Liebesobjekt in einem ähnlich wahnhaften Zustand befindet.

Denn wenn dies nicht der Fall ist, kann ein solches Verhalten sehr schnell beängstigend wirken. Nach einigen Jahren Beziehung würde man das spontane Auftauchen bei der Arbeit höchstwahrscheinlich als kontrollierend und einengend empfinden – und generell als recht unan-genehm. Aber in der Anfangsphase einer Beziehung ist das anders.

Überhaupt haben wir in dieser ersten Phase recht viele Anzeichen eines Stalkers. Wir sammeln beispielsweise Erinnerungen wie das erste Kinoticket oder die Eintrittskarte vom ersten Stand-up-Comedy-Besuch. Oder wir heben die erste geschriebene Nachricht auf, auf der steht, wie schön die Nacht war und wie sehr man sich schon auf den Abend freut. Doch dieses Aufheben von Erinnerungsstücken, um dieses Erlebnis ein wenig länger festhalten zu können, kennen wir nicht nur aus der Liebe.

Wir kennen dieses Verhalten auch aus der Forensik. Sexual- und Gewaltstraftäter neigen ebenfalls dazu, etwas vom Opfer oder vom Ort des Geschehens mitzunehmen. Und auch wenn man sich damit nicht vergleichen möchte, weil das in einem ganz anderen und massiv übergriffigeren und schmerzlichen Rahmen passiert, so merkt man doch, dass unser aller Verhalten auf einem gemeinsamen Nenner beruht. Der Wunsch nach Bindung und Intimität – auch wenn es noch so absonderlich ausgeprägt ist – lebt in uns allen.

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